Vorgeblättert

Dieter Fischer-Dieskau: Musik im Gespräch, Teil 3

15.09.2003.
Heute macht die Deutsche Oper Berlin, an der Sie einst alle großen Mozart-Rollen verkörpert haben, für sich Reklame mit der Behauptung, "Classic" sei "cool" - und das schreibt sich dann beides natürlich neudeutsch amerikanisiert mit C. Ich fürchte, man läuft da besinnungslos einem Trend hinterher, nur weil man meint, dass der Zug der Zeit sonst ohne einen abfährt. In welche Richtung, ist wurscht. Ich glaube nicht, dass man auf diese verdruckst anbiedernde Weise neue Hörer für die Klassik gewinnt. 

Es kann auch nicht richtig sein, Klassik so zu verkaufen, als wäre sie leicht zugänglich. Was ich dem modischen "Crossover" vorwerfe, ist, dass er immer so tut, als verlange die Kunstmusik nichts vom Hörer, als könnte man vom Seriösen beliebig zum Unseriösen hinüberspringen, und beides wiege letzten Endes gleich. Die ernste Musik leidet darunter - übrigens auch die ernsten Musiker. Wer einmal gesehen und gehört hat, wie die Berliner Philharmoniker bei der EXPO in Hannover der Rockgruppe "The Scorpions" sekundierten, den musste der Jammer packen. Ein Orchester dieser Güte als Statisterie für eine Rockband und als klanglicher Weichzeichner! Also, ich hätte das, wäre ich einer der Musiker gewesen, als entwürdigend empfunden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass hin und wieder die einfachen Akkordfolgen für die Streicher in atemraubend aussehende Arpeggien aufgelöst wurden. Zum Glück haben die Philharmoniker keinen derartigen Auftritt mehr angenommen. 

Das ist keine Frage des künstlerischen Ethos, sondern eher eine des Geldes. Aber der Kommerz kann auch gute Seiten haben! Die Kommerzialisierung bringt nicht nur Philharmoniker und "Scorpions" für gutes Geld zusammen, sie hat auch zu einem reichen Überangebot an seriöser Musik geführt. Heute finden Sie im Plattenkatalog auch von entlegenen Werken, selbst von Beethovens Schottischen Liedern, mehrere und sogar Gesamtaufnahmen. Und wir haben heute alle nur denkbaren historischen Aufnahmen zur Verfügung, diese Fülle an Einspielungen mit Originalinstrumenten war vor zwanzig Jahren noch nicht denkbar. Welche Rolle spielt in diesem Kontext die historische Aufführungspraxis? 

Fragen Sie mich lieber nicht, ich bin da parteiisch. 

Genau deswegen frage ich Sie. 

Wie die Aufführungen zur Entstehungszeit des jeweiligen Werkes geklungen haben, ahnen wir nur. Wir werden es niemals wissen. Das ist vorauszuschicken. Sicherlich gibt es Versuche aller Art, das Klangbild in Richtung auf einen "authentischen" Charakter hin zu ändern. Nehmen wir zum Beispiel das vibratolose Musizieren. Auch wenn Sie gar keine Ahnung haben von den vielen tonbildnerischen Möglichkeiten der Stimme, wenn Sie einfach nur Töne von sich geben, so ergibt sich doch bei den meisten Stimmen ein ganz natürliches Vibrato, ob es Ihnen nun gefällt oder nicht. Dieses Vibrato künstlich zu verleugnen erscheint mir verkrampft, auch und gerade bei den Streichinstrumenten, die sich im Grunde immer darum bemüht haben, die menschliche Stimme nachzuahmen. Außerdem würde ich häufig die Wahl der Tempi, die rhythmische Seite der Aufführungen hinterfragen. Meist werden meines Erachtens völlig überzogene Tempi gewählt. Ob sie historisch so rasch ausfielen, wie sie heute genommen werden, kann niemand belegen. Auch die Neigung, alles metronomisch streng durchzumusizieren, halte ich für fragwürdig. Einem reinen Metronomstück fehlt fast immer das Leben. Aber es gibt keine Musik, die nicht ihre Lebensströme in sich birgt und einen eignen Atem hat - und der sollte zu spüren sein. 

Aber in der Kunst der Phrasierung hat die historische Aufführungspraxis einiges zum Guten hin geändert. 

Phrasierung ist eine andere Sache. Da ist zu allen Zeiten geforscht und gefunden worden, was von anderen anders gemacht worden ist. Aber gerade auch in der Phrasierung - und seien es auch nur zwei Töne, die miteinander verbunden oder nicht verbunden werden - äußert sich Musik. Ich meine: Musik fängt überhaupt erst an damit, dass - und wie - von einem Ton zum zweiten gegangen wird. 

Das ist eine sehr gute Definition! Kein nutzloses Kategorien-Klappern, sondern schlicht und einfach: "Klassische Musik" ist, wenn man qualifiziert von einem Ton zum anderen geht. 

Die einfachen Wahrheiten sind oft die besten. Hören Sie sich zum Beispiel die ersten sieben Noten des Tristan-Vorspiels von Richard Wagner an. Jeder, der das Stück kennt und sich eine Erinnerung daran bewahrt hat, denkt automatisch weiter, wie wohl die nächsten Töne klingen werden. Musik wird erneut nachempfunden, die sich im Unterbewusstsein bereits festgesetzt hat. Natürlich nur bei denen, die sich schon damit befasst und das Stück verinnerlicht haben. Was die Menschen erschüttert und noch immer, immer wieder mit fortreißt, ist das Enthüllen feinster, in schöpferische Tiefen des Unbewussten reichender Zusammenhänge. Über die besagten Anfangsakkorde, über ihre harmonische Vieldeutigkeit und ihre an die Grenzen des Verstehens führende Funktion, über diese drei Takte sind schon ganze Bücher geschrieben worden. Das hier von Wagner exponierte Grundmotiv erscheint abgewandelt so oft, dass es sich als Keimzelle der gesamten Partitur erweist, trotz aller ins Gigantische geweiteten Dimensionen, die zugleich Liebesleidenschaft und Verzweiflung Tristans umgreifen. Ein Schritt, ein gewaltiger, zur Erschöpfung des Tonmaterials, der dem Hörer heutiger Musik den Zugang mitunter hartnäckig versperrt. 

Was denken Sie: Hat Wagner, der so auf Breitenwirkung Bedachte, mit Hörern gerechnet, die das Stück zum ersten Mal hören, oder eher mit vorgebildeten Hörern, die wissen, wie es weitergehen könnte? 

"Alle Fremdheiten Leonardo da Vincis entzaubern sich beim ersten Tone des Tristan", hat Nietzsche einmal geschrieben. Aber er hat das natürlich nicht gleich nach dem ersten Hören notiert. Ich glaube, dass Wagner zunächst einmal die Menschen verschreckt hat. Die meisten Erst-Hörer empfanden Musik von Wagner als misstönend, auch in musikalischem Sinne. Aber siehe da: Auch bei Wagner gibt es Trivialstellen, die sich inzwischen als solche herausgestellt haben. Man empfindet sehr viele Motive oder Melodiefragmente als zu nahe liegend, zu einfach, sogar als kitschig. In der Zeit der Entstehung hörte sich das anders an. Erst durch den Bekanntheitsgrad der Musik ist dies offensichtlich geworden. Der revolutionäre Fremdcharakter, der einen überfällt mit seinen Missklängen und Reibungen oder rhythmischen Vertracktheiten und Instrumentationsverkleisterungen - all das, was Wagners Werk auch heute noch diskussionswürdig macht: Es ist vielfach in Selbstverständlichkeit übergegangen. 

Das rührt an die alte Frage des historischen Abstands: Was hören wir heute mehr, als es Wagner für die Hörer seiner Zeit gemeint hat? Der Musikwissenschaftler Rainer Cadenbach hat diese Frage einmal sehr schön zu einem Seufzer umformuliert, als er 1986 die Bonner Beethoven-Ausstellung kommentierte: "Die Chance, seine Symphonien noch einmal so zu hören, als ob es nie einen Beethoven-Mythos gegeben hätte, haben wir nicht." Wie schade! Diese Chance ist ein für alle Mal vertan, wir hören immer auch die fast zweihundert Jahre Musikgeschichte mit, die vergangen sind. Und wir wissen beim ersten Tristan-Ton leider, wie es weitergeht. 

Wissen wir das wirklich? Es nützt uns doch alles Wissen nichts. Um noch einmal auf die Frage nach der historischen Aufführungspraxis zurückzukommen: Wenn wir das Klangbild heute auf historisch trimmen, indem wir so genannte Originalinstrumente verwenden, gewinnen wir nicht viel, denn wir haben damit immer noch nicht das Bild, das sich den Zeitgenossen bot, die ja unter völlig anderen geschichtlichen Voraussetzungen lebten und Musik wahrnahmen. Die historische Aufführungspraxis entsprang einem neuen Hörbedürfnis; sie entstand aus dem Wunsch, den Werken eine frische, der gegenwärtigen Generation möglicherweise noch unbekannte Aussage abzugewinnen. Die viel beschworene Rückkehr zu den Ursprüngen aber halte ich für eine Illusion. Denn das ästhetische Bewusstsein wandert nicht mit zurück. Im Extremfall verwischt sich die Geschichte sogar, denn man holt dem Anspruch nach die Werke in der ursprünglichen Gestalt "direkt" zu uns und verliert dabei die Distanz zu der Epoche, in der sie entstanden sind. Damit geht auch eine wesentliche ästhetische Spannung verloren. Schließlich: Wenn wir die Werke kennen und sie vielleicht durchgearbeitet haben, wie Generationen vor uns sie durchgearbeitet und verinnerlicht hatten, so bedeutet das nicht zwangsläufig, dass wir sie endlich richtig verstehen. Es kann sogar sein, dass wir sie schlechter verstehen, weil es auch so etwas wie Verschleißerscheinungen des Hörens gibt. Was aber Ihre Frage betrifft, für wen ein Komponist komponiert, so bin ich davon überzeugt, dass er es zunächst einmal für sich selber tut. Erst in der Folge verlangt er einiges vom Hörer, verbietet ihm auch einiges. Vielleicht erinnert man sich daran, dass Beethoven es nicht ausstehen konnte, wenn jemand mit geschlossenen Augen Musik hörte. Bei der historischen Abnutzung gibt es übrigens große Unterschiede. Um bei Beethoven zu bleiben: Bestimmte Symphonien, nicht alle, aber, sagen wir, die fünfte oder die siebente, müssen dadurch, dass sie zehn Mal pro Konzertsaison gegeben werden, zwangsläufig Verschleißerscheinungen des Hörens hervorrufen. Die Leute denken sich: Das kennen wir schon! Und arbeiten beim Hören nicht mehr mit, sondern hängen ihren Gedanken nach, machen die Augen zu, schlafen womöglich ein. Dabei wird gerade die Siebente selten so gespielt, wie sie gemeint ist. Ich würde fast sagen: Nie. 

Das können Sie so pauschal natürlich von allen Beethoven-Symphonien sagen … 

… aber bei der siebenten fällt es mir besonders auf. Etwa der punktierte Rhythmus im ersten Satz wird selten wirklich durchgehalten. Ein altes Problem der Dirigenten. So popu1är die Siebente auch wurde, sie hat sich viele Deutungen gefallen lassen müssen. Richard Wagners Wort von der "Apotheose des Tanzes" trifft schließlich nur die rhythmische Brisanz der Ecksätze. Viel näher läge es, in dieser Symphonie einen Nachhall geschichtlicher Ereignisse zu sehen. Sie wurde 1813 uraufgeführt, zur Zeit des zunächst inneren, dann äußeren Sieges über den Tyrannen Napoleon. Hält sich der Hörer nun, alle nebelhaft ideellen Zutaten weglassend, nur an die Partitur, genügt es, die Dominanz des Rhythmus, die hier ausgeprägter ist als in jeder anderen Beethoven-Symphonie, als zentrale Werkidee zu betrachten. 

Rhythmus als Werkidee - das hört sich modern an. Das könnte gut auf Igor Strawinsky oder Edgard Varese passen. Also war Beethoven doch seiner Zeit weit voraus? 

Wir hören von unserer heutigen Kenntnis in die Geschichte hinein, in Gegenrichtung zu ihrem wirklichen Lauf. Das kann gar nicht anders sein. Dabei entdecken wir manches in Werken der ferneren Vergangenheit im Keim, noch im Stadium des Erfundenwerdens, das dann erst später zur tragenden Idee ausgearbeitet wurde. Ohne Kenntnis dessen, was danach kam, entginge es aber vielleicht unserer Aufmerksamkeit. Solche Zusammenhänge zu finden und mit ihnen ein Stück kultivierter Menschheitsgeschichte nachzuvollziehen, das macht gerade die Freude des kooperativen Hörens aus: Das ist der reiche Lohn des Mitarbeitens beim Hören ernster Musik. Dennoch haben Sie selbstverständlich recht: In einer Radikalität und Konsequenz wie Beethoven hat wohl niemand zuvor die Dimension des Rhythmischen ins Zentrum der musikalischen Komposition gerückt, selbst Bach nicht. Eine Entsprechung dazu findet sich erst gut fünfzig Jahre später mit vollkommen anderem Ausdrucksgehalt bei Richard Wagner: Im rhythmischen Puls, der die große Liebesszene im zweiten Akt von Tristan und Isolde (O sink hernieder, Nacht der Liebe) durchzieht und den Anton Bruckner - wiederum zwei Jahrzehnte später - in seiner achten Symphonie leicht verwandelt aufgegriffen hat: Er setzte dies als lenkende Instanz des langsamen Satzes ein, zumindest des Hauptteils darin. Es handelt sich hier zwar nur um einzelne Beispiele aus der Geschichte der Musik, man kann wohl nicht einmal von einer kontinuierlichen Linie des musikalischen Denkens und Gestaltens sprechen. Führt man dies jedoch in der Vorstellung weiter bis zur äußersten Konsequenz, dann könnte man den Rhythmus zum Zusammenhang stiftenden Element der musikalischen Struktur erheben. Er übernähme die ordnende Funktion der Tonalität, die den musikalischen Zusammenhang aus den Spannungsverhältnissen der Klänge, aus deren Bewegungen und ihrer Zentrierung auf eine Grundtonart stiftet. Von diesem Denk- und Darstellungssystem, das über Jahrhunderte galt und wirkte, würde sich die musikalische Komposition emanzipieren. Genau das hat die Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestrebt. Doch nur wenige Komponisten wollten sich auf die Explosivkraft des befreiten Rhythmus einlassen, Strawinsky vor allem, aber auch Bela Bartok und der junge Hindemith wagten es. Allein schon aus dem Gedankenspiel erkennen Sie, was aus einem kompositorischen Einfall geschichtlich entstehen kann (oder könnte). Beethoven war unser Pionier. Er setzte die Maßstäbe, denen spätere Generationen folgten.

Mit freundlicher Genehmigung des Propyläen-Verlages

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