Vorgeblättert

Dimitri Verhulst: Problemski Hotel. Teil 1

10.08.2004.
Hargeisa, 1984

"Tu einfach so, als wär ich gar nicht da", sagte ich zu dem verhungernden Kind, das ich fotografieren wollte. 

Ich war nervös und wünschte mir, ich könnte eine Pille gegen das Zittern meiner Hände schlucken. Irgendwo spürte ich, dass dies mein Bild werden würde. Das Bild. Das Foto, das meinen großen Durchbruch bringen, meinen Marktwert hochtreiben, es mir erlauben würde, den Oberboss von Reuters zu bitten, etwas später noch mal anzurufen, wenn es mir besser passte. Ein Fotograf spürt so etwas. Der weltberühmte Henri Cartier-Bresson spürte es, als er den Jungen mit den zwei Weinflaschen in der Pariser Rue Mouffetard im Bild festhielt, Elliot Erwitt spürte es, als der Schwarze vor dem Auge der Kamera die Zunge herausstreckte, Alfred Stieglitz spürte es, als das schöne Mädchen mit den noch schöneren Fingern genau im richtigen Moment ihren Mantel zuknöpfte, Edward Steichen hatte bereits hundert Bilder von Greta Garbo geschossen, als er schon beim Scharfstellen des Objektivs spürte: Dies wird das einzig wahre, schöne, ultimative Porträt der Göttin. Und ich spürte es, als ich das ausgehungerte Kind im Sucher hatte. Herrlich. 

An Abenden, die zu nichts anderem taugen als zum Schwafeln, wird gelegentlich behauptet, Fotografie habe viel, wenn nicht gar alles mit Glück zu tun. Und dann ist vom Urheber eines Bildes die Rede, das jeder kennt: das nackte Mädchen, verbrannt, mit ausgebreiteten Armen rennend, Christus mit Möse. Wäre der Fotograf nicht zufällig bei dem Napalmangriff dabei gewesen, so wird argumentiert, hätte er die Aufnahme nie machen können, also war Glück im Spiel. Tja. Sie werden doch jetzt nicht anfangen zu meckern und behaupten, ich hätte Glück gehabt, dass vor meinen Augen ein Kind krepierte? Das war kein Glück, das war Talent! Wie bei Robert Capa, der das Talent, den Riecher hatte, mit seiner Kamera genau dort zu sein, wo einem Soldaten das Gehirn aus dem Kopf geschossen wurde. Glück, sagen Bergsteiger, wenn eine mörderische Steinlawine drei Zentimeter vor ihrer Nase vorbeigedonnert ist, Glück sei langfristig eine Frage des Könnens. Und sie haben Recht, das weiß ich. 

Dieses sterbende Kind, das ich fotografieren wollte - ich muss da ehrlich sein: Es bedeutete einen dramatischen und künstlerischen Wendepunkt in meinem Leben. Es bekehrte mich zur Farbfotografie.
Meine Ausbildung stand ganz in der Tradition der Schwarzweißfotografie. Farbfilme wurden allenfalls für Urlaubsfotos und Hochzeitsreportagen verwendet, und der einen oder anderen Hochzeitsfeier wagte man mit einem leichten Braunstich einen künstlerischen Touch zu verleihen, meist mit eher erheiterndem Ergebnis. Ich habe noch nie ein Hochzeitsfoto gesehen, das seines Rahmens auch nach der Scheidung noch würdig gewesen wäre. Doch das nur nebenbei. Fakt ist, dass ich Farben immer banal gefunden hatte. Ich war ein Mann der Komposition, einer, der die Welt um sich herum unter kompositorischen Aspekten einfing, und kein Kolorist. LICHT, das war mir wichtig. "Und es ward Licht", steht in der Bibel, und nicht "Und es ward Farbe". Farbe lebt vom Licht und ist somit zweitrangig. Den Rest der Bibel, muss ich gestehen, habe ich nicht gelesen, aber ich glaube, das Interessanteste habe ich aus ihr herausgeholt. Doch wie dem auch sei: Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand aus meinem Jahrgang Farbfotos für seine Abschlussarbeit verwendet hätte. Dort aber, in diesem Loch, da wollte ich unbedingt einen Farbfilm in meine Canon einlegen.
Ich hatte so gut wie nie Farbfilme in meiner Kameratasche, aber an diesem Tag war einer darin. Ein einziger. Mit vierundzwanzig Bildern. Vierundzwanzig Chancen, dieses Gerippe von einem Kind weltberühmt zu machen. Vierundzwanzig Wege auf die Titelseite so ziemlich jeder Zeitung, die man im Flugzeug bekommt. Ich sah schon das Transparent an der Fassade aller großen Fotomuseen auf dieser fotogenen Welt vor mir: "Bipul Masli - Die Retrospektive". 

Das Kind saß vor einer großartigen Kulisse: Es war mit letzter Kraft auf eine Müllhalde gekrochen, wo es jedoch nichts Essbares mehr aufzupicken gab. So nuckelte es nur am Finger und schaute hilflos vor sich hin. Hätte ich seine Augen in diesem Moment mit einem Polfilter entspiegelt, man hätte tief in diesen Augen schon den Tod gesehen. Auf seinem Bauch (es war ein Junge) klebte Erbrochenes, das in der Hitze fürchterlich stank. Ich gab ihm noch drei Stunden, maximal vier. Das Licht wäre vom fotografischen Standpunkt aus besser gewesen, wenn das Kind noch fünf Stunden gelebt hätte, aber das Risiko wollte ich nicht eingehen. Ich wollte es sterbend porträtieren. Nicht gestorben, das kann schließlich jeder. 

Mit Tieren und Kindern ist die Zusammenarbeit am schwierigsten, da können Sie alle großen Hollywood-Regisseure fragen. "Tu einfach so, als wär ich gar nicht da", sagte ich also, "versuch vor allem, du selbst zu bleiben!" Um Missverständnissen vorzubeugen: Das sagte ich nicht meinetwegen. Der Junge hatte bereits einen imposanten Fotografenkordon um sich herum, er hatte in letzter Zeit mehr Kameraobjektive als Teller Reis gesehen und so oft nach dem Vögelchen geschaut, dass Marilyn Monroe sofort mit ihm getauscht hätte. Eine gewisse Kameragewöhnung war eingetreten, und wenn man nicht aufpasste, warf er sich womöglich noch in Pose oder lachte, wer weiß, der Mensch ist unberechenbar. Man kennt das auch von diesen aufgetakelten Schnepfen, die schon ein paar Mal im Fernsehen zu sehen waren; die haben einen Tick davon zurückbehalten und lachen sogar in die Überwachungskameras im Kaufhaus. Aber glauben Sie mir, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass das Kerlchen schon mindestens hundert Mal fotografiert worden war, meist von Freelancern, die gleich darauf ins Flugzeug sprangen, um sich zu Hause wieder an die gewohnte Arbeit zu machen: Hochzeitsreportagen, Jubiläumsfeiern, Verkehrsunfälle ? Die haben natürlich auch Hypotheken laufen und Kinder zu ernähren, das kann man sich ja denken. Im Übrigen könnte man den Äquator mit Fotografen pflastern, so groß ist die Konkurrenz. Aber meine Arbeitsweise war das nicht, ganz und gar nicht. Ich wollte mir Zeit für eine Porträtaufnahme lassen.
Das Kind muss froh gewesen sein, dass dies sein letztes Fotoshooting war.
Porträtaufnahmen hatte ich schon jede Menge gemacht, meist im Auftrag von Wochenzeitschriften, die mir zu Beginn meiner Laufbahn die Möglichkeit boten, meine Miete zu bezahlen. Ein Scheißjob, kann ich Ihnen sagen. Modeschöpfer, die besser wussten als der Fotograf, welche Pose sie einzunehmen hatten (missmutiger Blick, der mürrische Mund in einem alttestamentarischen Bart versteckt, der kahle Kopf auf den Händen ruhend, damit man die protzigen Ringe an jedem Finger sieht), Popstars, die man fortwährend anflehen musste, doch bitte ihre Kleider anzubehalten, und Schriftsteller. Schriftsteller sind die schlimmsten. Die hausen in dunklen Wohnungen, wo man erst mal das gesamte Mobiliar rausschleppen muss, um ein bisschen Licht und die richtige Kameraposition zu kriegen, und selbst dann schafft man es nicht ohne Blitzgerät. Im Studio begeben sie sich widerwillig vor die Leuchten, und dann sitzen sie steif und intellektuell da, wie das personifizierte Gehirn. Der Selbstauslöser muss speziell für Schriftsteller erfunden worden sein.
Erfahrung mit Porträtaufnahmen hatte ich, das auf jeden Fall, und ich war auch nicht deshalb nervös. Es war vielmehr das Bewusstsein, dass ich nur vierundzwanzig Chancen für das Foto hatte, wo ich doch sonst für eine blöde Visage im Profil fünfzehn Filme belichtete. Heute, mit der digitalen Fotografie, wäre das anders, aber damals, 1984, zu einer Zeit, an die man in der Dunkelkammer manchmal wehmütig zurückdenkt, standen wir viel stärker unter Stress.

Ich rauchte eine Zigarette, aber auch davon kehrte in meinem Körper nicht wieder Ruhe ein. Das Zittern blieb.
Dann eben mit Stativ.
Ich flehte den Jungen an, noch eine halbe Stunde am Leben zu bleiben. Please. Das konnte ich ihm natürlich nicht erklären, aber schließlich hatte er selbst auch etwas davon, wenn er mitmachte. Klar, retten konnte ich ihn nicht, das zu glauben wäre wohl etwas naiv gewesen. Aber vielleicht würde das Foto in den Kalender einer friedliebenden Hilfsorganisation im Westen aufgenommen werden. Das würde Geld bringen, und davon konnten möglicherweise andere gerettet werden. Das Bild des Jungen würde zur weltweiten Bewusstmachung der ganzen Problematik beitragen, bla, bla. Und sterben, na ja, sterben müssen wir schließlich alle. Wenn nicht Hungers, dann an den Salmonellen in einem Brathähnchen. Sein Gesicht würde wenigstens noch zur Ikone werden, und ich, Bipul Masli, ich wäre dann der Produzent des kollektiven Gedächtnisses. Vielleicht machte man noch eine Briefmarke aus ihm.

In meinem Sucher sah alles prächtig aus. Eine Horizontale, indirektes Vorderlicht, der gelbliche Sand, der die Schatten aufhellte ? Very, very nice ? Das Kind saß in sinnlicher S-Form da, man sah sehr schön die beiden langen Streichholzbeine, den riesigen Kopf, den nach außen gewölbten Nabel ? Es juckte mich in dem Finger, der auf dem Auslöser lag, aber auf dem Bild fehlte noch etwas. 

Fliegen! 

Es gibt weltweit an die zwölftausend verschiedene Fliegenarten (Muscidae), die ich hier aber nicht aufzählen werde; bestimmt die Hälfte von ihnen bestreitet ihren Lebensunterhalt mit Kamelmist oder afrikanischem Hungerkind. Doch nicht eine einzige Art war auf dem Kopf dieses ausgetrockneten Kindes vertreten. Komisch - in diesen Breiten war doch jeder ständig von Fliegen bedeckt, und auch ich hatte sie in meinem Hotelzimmer schon verflucht. Die Biester versammeln sich an einem Auge gemütlich zum Trinken wie Zebras an einem Wasserloch. Dieses Kind aber war wie gesagt fliegenfrei, und ich hatte das Gefühl, der Wirklichkeit Unrecht zu tun, wenn ich keine Fliege mit ins Bild brachte. Andererseits verstößt es gegen meine höchstpersönlichen Prinzipien, ein Foto zu manipulieren. Und Fotos werden manipuliert. Ich kenne Leute, die mit ihren gestellten Bildern in die berühmte World-Press-Galerie aufgenommen wurden und kräftig daran verdienten. Was tun? Im Hotel anrufen und fragen, ob man dort die Güte hätte, in aller Eile eine Fliege für mich zu fangen, die ich dem Kind auf den Kopf setzen konnte, um ein repräsentativeres Bild zu bekommen?
Zugegeben, ich dachte daran. Einen Moment lang dachte ich daran. Aber bis die Fliege in einem Marmeladenglas saß und hierher gebracht wurde, konnte mein Modell schon tot sein. 

Klick (x 24). 

Noch am selben Abend nahm ich in meiner improvisierten Dunkelkammer in Addis Abeba das Foto aus dem Fixierbad, und man sah es sofort: Es war ein fast perfektes Bild. Fast - perfekt wäre es mit Fliege gewesen.

Teil 2