Vorgeblättert

Don und Petie Kladstrup: Wein und Krieg, Teil 2

Huets Laune steigerte sich mit jeder unserer falschen Antworten. Wir entschieden uns, noch einen Versuch zu wagen. "Wie wär's mit 1953?" Es sollte eher nach einem kennerischen Kommentar klingen als nach einer Frage, doch Huet ließ sich zu keiner Antwort bewegen. Sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter, während wir immer noch damit beschäftigt waren, was wir da wohl einen Moment zuvor gekostet hatten. 
"1947!", sagte er schließlich. "Das ist möglicherweise der beste Wein, den ich je gemacht habe." Das klang liebevoll und stolz zugleich, so wie jemand von seinem Lieblingsenkel spricht. 
Als wir den Wein im Glas schwenkten, entfaltete er ein himmlisches Aroma von Honig und Aprikosen. Wir fragten Huet, der damals schon über 80 Jahre alt war, ob er jemals etwas Besseres getrunken hätte. Obwohl unsere Frage eher rhetorisch gemeint war, machte der alte Winzer eine lange Pause und wurde dann ganz ernst. 
"Nur ein einziges Mal", meinte er nachdenklich. "Das war während meiner Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg in Deutschland." Und dann erzählte er uns eine der faszinierendsten Geschichten, die wir je gehört hatten - eine Geschichte über Mut, Einsamkeit, Verzweiflung und, zu guter Letzt, wie eine winzige Menge Wein Huet und seinen Mitgefangenen half, fünf Jahre Kriegsgefangenschaft zu überleben. "Ich kann mich noch nicht einmal genau daran erinnern, was das damals war", meinte Huet. "Es war nicht mehr als ein Fingerhut voll, doch es war mein einziger Wein in den ganzen fünf Jahren, und es war wie eine Offenbarung." 
Eine Offenbarung für ihn, ein Rätsel für uns. Wir hatten nie zuvor über einen Zusammenhang zwischen Krieg und Wein nachgedacht. Dann jedoch erfuhren wir, daß diese beiden Begriffe bereits eine lange Geschichte eint. Schon im sechsten Jahrhundert vor Christus befahl Kyros der Große, König von Persien, seinen Truppen Wein als Mittel gegen Infektionen und andere Krankheiten. Auch Julius Cäsar und Napoleon Bonaparte waren von den wohltätigen Wirkungen des Alkohols überzeugt. (4) 
Napoleon ließ sogar ganze Wagenladungen von Champagner bei seinen Feldzügen mitführen, zumindest bei den meisten. Manche meinten sogar, daß er die Schlacht von Waterloo deswegen verlor, weil er nicht genug Zeit gehabt habe, Champagner mitzunehmen, und deswegen auf das belgische Bier als Stärkungsmittel angewiesen war. 
Vielleicht auch eingedenk dieser historischen Erfahrung wurden den französischen Soldaten dann im Ersten Weltkrieg Champagnerkisten mitgegeben, um ihre Moral in den Schützengräben aufrechtzuerhalten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schickte die französische Regierung Vorrichtungen und Rezepte zur Zubereitung von Glühwein an die Front. Ein Regierungsverantwortlicher äußerte damals: "Eine Ration Glühwein ist nicht teuer, aber sehr hilfreich zur Vermeidung von Seuchen, und um das Leben der Soldaten etwas zu erleichtern." (5)
Seinen Höhepunkt als kriegsentscheidender Faktor erlebte der Wein vielleicht aber schon 300 Jahre früher, während des Dreißigjährigen Kriegs, wo durch ihn die Zerstörung von Rothenburg ob der Tauber abgewendet werden konnte. Nach Angaben des Weinexperten Herbert M. Baus "war Rothenburg den 30 000 Mann zählenden Truppen des kaiserlichen Feldherrn Tilly ausgeliefert, als dieser in einem Anflug von Großmut versprach, die Stadt zu verschonen, wenn einer ihrer Ratsherren einen Weinkrug von dreieinhalb Litern in einem Zug leeren konnte. Bürgermeister Nusch zeigte sich der Herausforderung gewachsen, und der Ort seiner Heldentat wird bis heute Freudengäßchen genannt."(6)
Für uns hat die Freude am Wein immer auch besonders darin bestanden, den Genuß mit Freunden teilen zu können. Einer der größten Weine, die wir je serviert bekamen, war ein Grand Vin de Chateau Latour von 1905. Er war hervorragend, einfach unbeschreiblich, doch der Genuß wurde noch dadurch gesteigert, daß wir ihn mit einem guten Freund teilen durften, der ebenfalls diesem großen Jahrgang angehörte. 
Und da war noch diese Flasche Rose, die - in aller Offenheit - wirklich nichts Besonderes war, doch daß wir sie zusammen mit guten Freunden an jenem warmen Sommertag tranken, ließ diesen Tag zu einem ganz besonderen werden und uns diesen Wein ebensowenig vergessen - wenn auch auf seine eigene Art - wie den Latour von 1905. 
Andre Simon, der bekannte französische Weinkenner, beschrieb Wein als "guten Ratgeber, einen wahren Freund, der uns niemals langweilt oder ärgert: Mit ihm schlafen wir weder ein noch bleiben wir allzu wach ? er ist immer bereit, uns aufzuheitern, zu helfen, ohne jedoch zuviel dafür von uns zu verlangen." (7) 
Und doch trieben uns die phantastischen Weine, die wir bisher kennengelernt haben, gelegentlich auch dazu, Fragen zu stellen. Die Geschichte von Gaston Huet hatte uns neugierig gemacht. Im Laufe der folgenden Jahre trafen wir uns mit weiteren Weinbauern und ließen uns deren Kriegserlebnisse erzählen; einige davon waren lustig, und andere rührten ans Herz. Und je mehr wir zuhörten, desto mehr wurde uns klar, daß wir diese Geschichten, wie so manche Flasche Wein, mit anderen teilen mochten. Wir fanden, daß diese Geschichten es wert waren, bewahrt und veröffentlicht zu werden - und zwar in diesem Buch. 
Das Sammeln der Geschichten war nicht immer einfach. Einige Zeitzeugen hatten Angst und weigerten sich, über eine Zeit zu berichten, die überschattet wurde durch diejenigen, die mit dem Feind kollaboriert und versucht hatten, aus dem Krieg Profit zu ziehen. "Das ist eine viel zu heikle Angelegenheit", sagte uns einer, der ein Interview ablehnte. "Es ist besser, die Toten ruhen und die Lebenden in Frieden leben zu lassen." 
Zahlreiche Dokumente im Zusammenhang mit der Kollaboration von Franzosen mit den deutschen Eroberern standen bis vor kurzem unter Verschluß. Andere waren noch gegen Ende des Krieges auf Befehl des deutschen Oberkommandos vernichtet worden.      
Dann hatten wir mit Gedächtnisschwierigkeiten unserer Interviewpartner zu kämpfen, und zahlreiche Zeitzeugen lebten natürlich inzwischen nicht mehr. Mehr als einmal erhielten wir unmittelbar vor einem vereinbarten Interviewtermin die Nachricht, unser Gesprächspartner sei leider vor kurzem verstorben. 
Obwohl unser Projekt also tatsächlich ein gewisser Wettlauf gegen die Zeit war, mußten wir gelegentlich ganz langsam und behutsam vorgehen. Die Menschen der Kriegsgeneration wollten nicht immer offen über ihre Erinnerungen sprechen. Ihre erste Reaktion war oft: "Oh, das ist doch schon so lange her. Ich weiß das alles nicht mehr so genau ?" Sie schwiegen, und es wurde still im Raum. Doch dann fiel ihnen gelegentlich doch noch etwas ein: "Aber wissen Sie, an eine Sache erinnere ich mich noch ?" - und oft bekamen wir dann noch eine wundervolle Geschichte zu hören. 
Aber auch jüngere Personen, die wir ansprachen, zögerten gelegentlich. 
"Entschuldigen Sie, aber ich war damals doch noch ein Kind", hörten wir nur allzu oft. "Ich kann mich an nichts mehr erinnern." Aber nicht selten gab es durchaus noch Erinnerungen, und gerade diese Geschichten halfen uns manchmal erst recht weiter und lieferten uns besonders erhellende Einsichten in diese verwickelte Zeit.

Teil 3