Vorgeblättert

Elif Shafak: Die Heilige des nahenden Irrsinns. Teil 2

24.03.2005.
In Momenten wie diesen war es außerordentlich schwierig, Abeds Alter zu schätzen. Er war eigentlich ein junger Mann, jung genug, um bei Fragebogen die Rubrik "20 bis 30" anzukreuzen, doch in den Augen derer, die seinen wirren Monologen länger als eine halbe Stunde zuhörten, verschwamm diese Kategorie, schwankte von "40 bis 45" oder "60 und darüber" bis "noch nicht volljährig". Manchmal klang er wie ein störrischer alter Mann mit einem so dicken Fell, daß kein wie auch immer gearteter Provokationssturm ihn irritieren konnte, dann wieder glich er einem dünnhäutigen Teenager, der schon beim leisesten Hauch von Mißachtung außer sich war. Und doch wirkte er bei den seltenen Gelegenheiten, wo es ihm gelang, den Mund zu halten, viel jünger als wenn er redete. Fing er erst mal an zu protestieren, steuerte sein Verstand direkt auf den Kern der Sache zu, so wie er sie sah, ließ alle Alternativrouten und Nebenstraßen auf dem Weg dorthin außer Acht. Eine derartige Direktheit hat vielleicht eine doppelte Wirkung und umfaßt großzügig beide Bedeutungen des Wortes. Anders als andere war Abed stets aufrichtig; er hatte keine Unzufriedenheitskisten im Keller seiner Seele, in denen er lieber-nicht-geäußerte-Bemerkungen verwahrte, bis sie zu verrotten und zu stinken anfingen. Und er war auch im zweiten Sinne des Wortes direkt, da er allzu präzise oder phallogozentrisch war, wie Gail ihm hin und wieder gerne vorhielt.

Bei dem Gedanken an Gail wurde Ömers Blick trübe, und er geriet ins Stolpern. Er fragte sich, was sie in diesem Augenblick machte, allein zu Hause mit den Katzen. Er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn sie sähe, daß er wieder angefangen hatte zu trinken. Hatte sie ihn vermißt, und wenn ja, würde sie es ihm sagen, und wenn sie nichts sagte, würde das heißen, daß sie ihn nicht vermißt hatte ? Ömer hätte gerne laut darüber nachgedacht und das vermutlich auch getan, wenn Abed sich hätte unterbrechen lassen.

"Dann, ta-ta-ta-ta ? der Tag der Eröffnung ist da. Wie sagt man auf Englisch, wenn eine neue Bar oder ein neues Geschäft zum ersten Mal geöffnet wird?"

"Weiß ich nicht", sagte Ömer finster.

Das war wirklich das Beste daran, wenn ein Ausländer sich mit einem anderen Ausländer in einer Sprache unter­ hielt, die beiden fremd war. Wenn der eine ein bestimmtes Wort nicht finden konnte, ging es dem anderen genauso.

"Okay, aber du verstehst", fuhr Abed zuversichtlich fort.

Das war das Zweitbeste daran, wenn ein Ausländer sich mit einem anderen Ausländer in einer Sprache unter­ hielt, die beiden fremd war. Wenn der eine ein bestimmtes Wort nicht wußte und der andere auch nicht, waren sie trotzdem imstande, sich wunderbar zu verständigen.

Wie ein Geist, der in irdische Angelegenheiten eingreift, ohne tatsächlich in Fleisch und Blut vorhanden zu sein, findet das nicht gefundene Wort einen Weg, seine Bedeutung mitzuteilen, ohne selbst auf der Bühne zu erscheinen. Unter Menschen, die sich in einer gemeinsamen Fremdsprache verständigen, entwickeln Wörter eine abstruse Fähigkeit, durch Schweigen zu sprechen, durch ihre Abwesenheit zu existieren. Eine Art sprachlicher Phantomgliedmaßeneffekt. So, wie Patienten noch lange nach der Operation ihre amputierten Gliedmaßen fühlen, spüren Menschen, die, vollständig und brüsk von ihrer Muttersprache abgeschnitten, gelernt haben, in einer Fremdsprache zu überleben, nach wie vor die abgetrennten Wörter ihrer fernen Vergangenheit und versuchen Sätze zu bilden mit Wörtern, die sie nicht mehr besitzen.

"Weil es die Eröffnung ist, sind die ersten Getränke frei. Kein Wunder, daß die ganze Nachbarschaft da ist. Der Boß ist sehr glücklich, sehr beschäftigt und wahrscheinlich sehr betrunken. Dann sagt sich der einzige nüchterne Mensch in Sichtweite: 'Sir, verzeihen Sie, aber warum haben Sie Ihre Bar Zur lachenden Elster genannt?' Der Boß ist verdutzt. Er merkt, daß er keine Antwort weiß! Dann erinnert er sich an die Worte seiner Frau: 'Weil es dem Lokal eine fröhliche Note gibt.' Die Angestellten hören seine Erklärung und plappern sie augenblicklich nach, denn auch sie hatten versucht, das Geheimnis des albernen Namens zu lüften. Und so geht es weiter wie eine ansteckende Krankheit. Jahre später schleppst du mich in dieses Loch, ich stelle dieselbe Frage, und rate mal, was der Barkeeper antwortet: 'Weil es dem Lokal eine fröhliche Note gibt.' Ouaghauogh!"

Dies mag zwar keine exakte Wiedergabe des Lautes sein, den Abed ausgestoßen hat, aber es kommt diesem so nahe wie möglich. Ouaghauogh war eine Gesamtlautmalerei für diverse Dinge, die Abed partout nicht gefielen. Es war ein Schirmausdruck, unter dem sich alle möglichen persönlichen Habseligkeiten wirksam stapeln ließen, einschließlich zahlreicher Verstimmungen und einem Gemisch von Tönen (schallendes Gelächter, Gebrüll, Schnauben und Stöhnen in unterschiedlicher Lautstärke). Egal welches Gefühl es gerade bezeichnen sollte, ouaghauogh war in der Praxis weniger ein abschließender Ruf als eine Startpistole. Sowie Abed sich den Laut ausspucken hörte, startete er eine neue Attacke in seinem rastlosen Redemarathon.

"Was jammerst du die ganze Zeit?" krächzte Ömer. "Was kümmert es dich überhaupt? Du trinkst doch nie! Verdammt­ nochmal, Abed! Du hast nichts getrunken an dem Tag, als du erfuhrst, daß deine Freundin noch in Marokko auf dich wartete. Du hast nichts getrunken, als ich Gail vor deinen Augen einen Antrag gemacht habe. Wenn Freude kein Anlaß ist, was ist dann mit Kummer? Du hast nichts getrunken an dem Tag, als du erfuhrst, daß deine Freundin deinen Vetter heiraten wird! Wenn du in diesem Alter nicht trinkst, wirst du in Alkohol schwimmen, wenn du alt bist."

"Das also hast du heute abend gemacht? In eine bessere Zukunft investiert!" knurrte Abed mit vor Verachtung blitzenden Augen. Doch das Stirnrunzeln, das die Verachtung begleitete, verkehrte sich sogleich in Milde. "Omar, mein Freund, warum hast du wieder angefangen zu trinken? Voriges Jahr um diese Zeit lagst du im Krankenhaus im Koma, nachdem du dir den Magen ausgekotzt hattest. Du hast versprochen, nie wieder zu trinken. Und sieh dich jetzt an!"

"Elf Monate, sechzehn Tage." Ömer nickte und kicherte, als hätte er sich gerade selbst einen Witz erzählt. "Weißt du, was mir klargeworden ist? Wenn ich vor elf Monaten einfach meine Kopfhörer aufgesetzt und ständig diesen Song von Nick Cave gespielt hätte ?" Er hielt inne und suchte auf der Serviette nach der Information, "? dann hätte ich nach 17.545.846 Runden einfach die Kopfhörer abnehmen können, und elf Monate wären um gewesen. Für mich wäre es bloß ein einziger Song."

Abed kniff die Augen zusammen und starrte ihn einigermaßen verblüfft an. "Omar, das ist das Vernünftigste, was heute abend aus deinem Mund gekommen ist. Warum machen wir nicht anderthalb Jahre draus? Mal sehen ? in den vergangenen anderthalb Jahren bist du von Istanbul in die USA gekommen, um deinen Doktor zu machen; das mit dem Doktor hast du vergessen und dich statt dessen auf Freundinnen spezialisiert, das hat aber alles nicht geklappt; du hast deinen Magen umgebracht, und dann hätte dein Magen beinahe dich umgebracht ? und dann warst du entweder krank oder hast dich verliebt, keiner konnte das mehr unterscheiden; danach hast du geheiratet, und zwar ausgerechnet Gail und hast dein ganzes Leben ruiniert! Ja, es wäre bestimmt viel besser gewesen, wenn du, als du nach Amerika kamst, einfach die Kopfhörer aufgesetzt und dir den Song angehört hättest, den du soft ertragen konntest. Wenn du das getan hättest, hätten wir jetzt unsere Ruhe."

Abed verstummte, holte ein Taschentuch aus der Tasche, putzte sich die Triefnase und wischte weiter daran herum. Ömer wartete, wußte nur zu gut, wenn Abeds heuschnupfengeplagte Nase zu laufen anfing, dann blieb die Zeit stehen.

"Und was mein Nichttrinken betrifft", näselte Abed, als seine Nase ihn endlich weiterreden ließ. "Du kannst völlig offen und völlig aggressiv sein. Das macht Gail doch ständig mit uns, nicht? Wenn du also denkst, ich bin ein altmodisches, langweiliges Arschloch, das sich im Paradies eine hübsche kleine Weide sichern will, um zu dir runter zu winken, dann sag es einfach laut heraus. Laß deinem Widerwillen freien Lauf!"

Ungeduldig und mit mulmigem Gefühl starrten sie einander in die Augen. Abed war ungeduldig, wartete auf die einsetzende Flut von Kommentaren. Ömer war mulmig, preßte unbehaglich die Lippen in der plötzlichen Furcht zusammen, daß seinem Mund etwas viel Ekligeres entschlüpfen könnte. Es war das sich ständig wiederholende Schema. Immer, wenn er früher getrunken hatte, trank er zuviel, und immer, wenn er zuviel trank, endete die Nacht damit, daß er kotzte.

"Na schön, wenn du es unbedingt hören willst." Als Ömer klar wurde, daß Ungeduld über Unwohlsein siegen würde, wollte er ein paar Dinge loswerden. "Ich sag dir, wie spinnensinnig du bist!"

"Was was was?"

"Das ist der türkische Ausdruck für Leute wie dich. Wenn jemand hinter der Zeit herhinkt, konservativ ist, altmodisch, traditionalistisch ? den nennen wir spinnensinnig."

"Aber warum?"
"Warum? Da gibt?s kein Warum!"
"Warum?" war eine Ersatzfrage, eine veraltete Wäh­ rung, die nirgends und bei niemand in Gebrauch war, wenn man erst mal in die stillen Täler gelangte, die ordentlichen Sprengel des unendlich weiten und doch vertrauten Landes namens Muttersprache. Dort konnte man sein ganzes Leben verbringen und auf alle Arten von "warum?" eine Antwort haben - so lange, bis jemand ­ einen fragte.

"Ist das so was wie 'dein Gehirn ist so klein wie eine Spinne'? Oder geht es mehr um das Spinnennetz als um die Spinne selbst? Als würde man sagen, 'dein Gehirn ist so verstaubt, weil es eine Ewigkeit nicht benutzt wurde'. Aber sogar dann, sag ich dir, ergibt es keinen Sinn, außer man sagt spinnennetzsinnig statt spinnensinnig."

Ömer stieß einen Verzweiflungslaut aus, während er gegen eine weitere Welle von Übelkeit ankämpfte. Er wäre an die frische Luft gegangen, wenn er da nicht schon wäre.

"Immerhin", sagte Abed achselzuckend, "dein Stand­punkt hat was. Wenigstens hast du versucht, zum ersten ? tatsächlich zum zweiten Mal heute abend was Vernünftiges zu sagen. Ich bin tatsächlich spinnensinnig. Tarantel oder so was. Aber das kränkt mich nicht. Nein, kein bißchen, weil das in meiner Sprache 'fromm' bedeutet. Ich bin ein frommer Muslim, du dagegen bist ein ­verlorener."

"Ein verlorener Muslim ?", wiederholte Ömer höflich und schloß die Augen in einer Art Verzückung, als erwartete er, eine Animation "Verlorener Muslim" zu sehen, die ihm von den Tragödien der Sterblichen berichtete.

Als nichts geschah, mußte er die Augen wieder aufmachen und erleben, wie tiefes Elend die Leere füllte, die für das Erscheinen des Bildes reserviert war. Während das Elend wuchs, spürte er zuerst väterliches Erbarmen, dann kameradschaftliche Anteilnahme und schließlich wachsendes Mitleid mit seinem bescheidenen Dasein auf Erden. "Verloren" traf es genau, das war er mehr als alles andere die letzten fünf, zehn, fünfzehn Jahre seines Lebens gewesen ? ein Examensstudent der Politikwissenschaft, außerstande, sich in der Strömung der Politik oder auf der kleinen Insel der Wissenschaftler zurechtzufinden; ein unerfahrener Ehemann, dem das Atmen inmitten der Flora und Fauna des Ehestandes schwer fiel; ein im freiwilligen Exil Lebender, der das Gefühl nicht loswurde, hier nicht zu Hause zu sein, aber gleichzeitig nicht mehr wußte, wo dieses Zuhause war, obwohl er früher irgendwann eins gehabt hatte; ein geborener Muslim, der nichts mit dem Islam oder mit irgendeiner anderen Religion zu tun haben wollte; ein eiserner Agnostiker, weniger, weil er das Wissen von Gott bestritt, als vielmehr, weil er bestritt, daß Gott von ihm wußte ?

Teil 3

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