Vorgeblättert

Götz Aly: Im Tunnel, Teil 1

20.04.2004.
Menschen fallen in ein Loch

Flucht in die Anonymität

Marion Samuels Eltern, Ernst und Cilly, verließen Arnswalde zusammen mit ihrer nunmehr vierjährigen Tochter im Jahre 1935, bald nachdem die Arnswalder Nazi-Sympathisanten die Schließung des Geschäftes "W.A. Samuel" und den Verkauf des Hauses erzwungen hatten. Die Familie zog nach Berlin, wo sich schon in den zwanziger Jahren Cillys älterer Bruder Martin mit seiner Familie niedergelassen hatte. Das Motiv für den Umzug lag auf der Hand: In der Anonymität der Großstadt fühlten sich die Verfolgten vor Übergriffen sicherer als in den kleinen, überschaubaren Provinzgemeinden, die keinerlei Möglichkeit des Ausweichens boten. (Bildete die Anonymität zunächst einen guten Schutz gegen die tägliche Diskriminierung, so wurde daraus zum Zeitpunkt der Deportation ein tödlicher Nachteil: Den neu Zugewanderten fehlten in aller Regel die Kontakte, die eine rechtzeitige Warnung und dann das Untertauchen ermöglicht hätten.)

Die anderen Familienmitglieder - Arthur, die Großeltern von Marion und vielleicht auch deren Nachzüglersohn Werner - zogen nach Königsberg, wo sich die älteste Tochter, Helene, bereits in den frühen 1920-er Jahren mit Familie niedergelassen hatte. In Berlin angekommen, gründete Ernst Samuel ein Zigarrengeschäft in der Rhinower Straße 11 im Bezirk Prenzlauer Berg. Das Geschäft findet sich 1936 mit der Rufnummer D4-5222 im Berliner Telefonbuch, doch 1937 wird es dort schon nicht mehr aufgeführt. Im Berliner Adressbuch kann man für 1935 und 1936 die Eintragung lesen "Ernst Samuel Zigarrenhandlung Rhinower Str. 11". In den Jahren 1937 und 1938 stand hinter dem Namen nur mehr der Zusatz "Kaufm. Angestellter"; demnach hatte Samuel seine Selbständigkeit eingebüßt. Da in den Jahren 1939, 1940, 1941 nur noch die Berufsbezeichnung "Kaufmann" im Adressbuch steht, hatte er dann wohl auch die Anstellung verloren. In den Jahren 1942 und 1943 wird die Familie Samuel im Adressbuch nicht mehr verzeichnet. Sie wohnte jedoch weiterhin, wie die Enteignungsakte des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg belegt, in der schmalen Ladenwohnung im Parterre des Vorderhauses. Es handelte sich um ein Zimmer mit separater Küche, die Miete betrug 35 Mark.

In dem heute frisch sanierten Haus lebten damals fast ausschließlich Arbeiter- und Handwerkerfamilien, zudem ein Gerichtsvollzieher, ein Steueroberinspektor, zwei Kutscher und zwei Postinspektoren. Das Haus gehörte dem Malermeister Kurt Waschinsky und dessen Frau Wally, die in der ersten Etage wohnten. Rechts neben dem Eingangstor lag der winzige, von der gleichfalls winzigen Wohnung nur abgeteilte Zigarrenladen. Zwar ist die Tür bis zum Fenstersims später aufgemauert worden, doch wurde der Putzsockel an dieser Stelle nicht ergänzt. Vor dem hofseitigen Fenster hängt noch heute ein schweres Eisengitter.

Marion Samuel wurde am 1. April 1937 in die benachbarte 117. Volksschule als Erstklässlerin aufgenommen. Das Gebäude stand in der Sonnenburger Straße 20. Marions Schulweg war kaum mehr als 300 Meter lang. Zu Beginn der zweiten Klasse - damals in Berlin als siebte bezeichnet - musste sie am 16. Mai 1938 in die III. Volksschule der Jüdischen Gemeinde in der Rykestraße 53 wechseln. Allerdings war die Schule schon völlig überfüllt, weswegen Marion offenbar sofort oder wenig später in die neu gegründete VI. Jüdische Grundschule in der Choriner Straße umgeschult wurde. (Während das feste Backsteingebäude des jüdischen Schulvereins in der Rykestraße heute noch steht, wurde das Gebäude in der Choriner Straße zerbombt.)

Für Marion Samuel muss das eine vergleichsweise glückliche Zeit gewesen sein. Die Schüler dort, deren Eltern vielfach assimilierte Deutsche hatten sein wollen, erlebten oft zum ersten Mal eine nicht von der christlichen Mehrheit geprägte Atmosphäre, feierten die jüdischen Feste gemeinsam mit ihren Schulkameraden, erfuhren von Palästina und von einem Leben jenseits der Rassendiskriminierung. Die Schule war modern, auch wenn die Schüler und Schülerinnen das nicht bewusst registrierten. Wie selbstverständlich wurden zum Beispiel in der ersten Klasse keine Noten erteilt, sondern verbale Beurteilungen gegeben. Auch sonst unterschieden sich die jüdischen Schulen, in denen es viel freier zuging, deutlich von den auf dem Straf- und Paukprinzip beruhenden staatlichen Schulen in Deutschland.

"Wer hier eingeschult wurde", so schreibt die Historikerin Birgit Kirchhöfer über die Schule in der Rykestraße, "dachte sich nichts dabei, dass Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet wurden, dass es keine Prügelstrafe gab und sie nicht kerzengerade mit gefalteten Händen den Worten des Lehrers folgen mussten. Die Kinder, die aus öffentlichen Volksschulen überwechselten, spürten den Unterschied in der Regel sofort und unterstreichen [in ihren Erinnerungen], wie leicht es ihnen gefallen ist, sich in die neue Klasse einzuleben. Endlich hatten sie nicht mehr dieses Außenseitergefühl, waren sie nur ein Jude unter vielen."

Im Jahr 1941 wurde das Schulgebäude für die deutsche Feldpost beschlagnahmt, und die Schüler mussten in verschiedenen Gebäuden, über die die Jüdische Gemeinde noch verfügen konnte, unterrichtet werden. Die 1929 geborene Schülerin Elisabeth Siegel, die wie Marion Samuel 1938 die öffentliche Schule verlassen musste, dann in die jüdische Schule ging und sich später mit ihrer Mutter verstecken konnte, berichtet über die letzten Monate des Schulunterrichts: "Die Schule wanderte von Ort zu Ort. Wir lernten im Auerbachschen Waisenhaus in der Schönhauser Allee, waren auch einige Zeit in der Choriner Straße und zuletzt in der Kaiserstraße. Die Lehrer versuchten, uns an Lehrmaterial zu geben, was nur möglich war. Wir lernten oft bis in die Dunkelheit. Denn man sagte uns: 'Alles kann man Euch nehmen, nur das, was Ihr im Kopf habt, ist euer Vermögen.'"

An weiteren Einzelheiten wird aus der Erzählung von Elisabeth Siegel greifbar, wie die Schule versuchte, sich gegen die immer bedrückenderen Lebensumstände zu behaupten: "Im Eingang der Schule Rykestraße war eine Schulspeisung, dort aßen die Kinder, deren Eltern beide arbeiteten. Im Winter war es sehr kalt, da man nicht mehr heizen konnte. Im Sommer 1941 wurde unsere Klasse mit den höheren Klassen eingeteilt, auf dem jüdischen Friedhof die Grabpflege zu übernehmen. Es wurde eine Art Ferienlager gemacht. Man traf sich frühmorgens, an der Friedhofsmauer wurde eine Küche für warmes Essen eingerichtet. Bis mittags arbeiteten wir mit Harken. Wir gossen die Blumen und harkten die Wege. (...) Als die ersten Briefe oder wohl mehr Postkarten mit Adressen aus Warschau und Litzmannstadt [Lodz] eintrafen, bat unser Rektor, Herr Sinasohn, um Adressen. Wir sammelten in Häusern von jüdischen Familien und unter uns Geld, Mehl, Zucker und Tee. Dieses wurde im Rektorenzimmer zu kleinen Päckchen gepackt und adressiert. Dann ging eine Gruppe von Schülern von Bezirk zu Bezirk und warf diese Päckchen mit dem Vermerk 'Päckchen ohne Wert' in die Briefkästen. Anfangs kamen auch noch Dankschreiben. Später erhielten wir hauptsächlich Briefe mit Geld mit dem Vermerk 'Adressat verstorben' oder 'Adresse unbekannt' zurück."

Schließlich wurde den jüdischen Kindern im Sommer 1942 das Recht zum Schulbesuch genommen. Die entsprechende Mitteilung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung lautete: "Im Hinblick auf die Entwicklung der Aussiedlung der Juden in der letzten Zeit hat der Reichsminister des Inneren (Reichssicherheitshauptamt) im Einvernehmen mit mir die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland angewiesen, sämtliche jüdischen Schulen bis zum 30. Juni 1942 zu schließen und ihren Mitgliedern bekannt zu geben, dass ab 1. Juli 1942 jegliche Beschulung jüdischer Kinder durch besoldete und unbesoldete Lehrkräfte untersagt ist."

Da ihre beiden Eltern Zwangsarbeit leisten mussten und ihre Tochter Marion nicht mehr in die Schule gehen durfte, war sie von nun an sehr oft sich selbst überlassen.


Zwangsarbeit als "Rüstungsjuden"

Marions Vater musste vom April 1941 an als Zwangsarbeiter bei Daimler-Benz in Berlin-Marienfelde arbeiten. Dort wurden Panzerwagen und schwere Zugmaschinen hergestellt. Fragt man heute im Konzernarchiv der DaimlerChrysler AG nach einem ehemaligen jüdischen Zwangsarbeiter, wird man so bevorzugt behandelt, als wolle man ein neues Auto kaufen. Binnen Sekunden wird einem der folgende Datensatz überspielt: "Name: Samuel, Ernst Israel / geb. 6.11.1905 / Nationalität: Jude / Eintritt: 3.4.1941; Austritt 17.3.1943 / Fabrik Nr. 33.893 / Arbeiterwohnung: Berlin N 58 Rhinower Str. 11." Im Bestand "Personalbücher Werk Marienfelde" lässt sich die Original-Eintragung nachblättern. Dort steht in der Spalte "Kontroll-Nr." über der Nummer 257079 die Bemerkung "Jude", die Spalte für den erlernten Beruf blieb leer, für die Art der Beschäftigung stand "Hilfsarbeiter", gefolgt von den in Zahlen verschlüsselten Angaben über die zuständige Sozialversicherungsanstalt und die Krankenkasse. Mit Ernst Samuel arbeitete auch dessen Schwager Martin bei Daimler in derselben Abteilung. Das ist das einzige Zeugnis dafür, dass zwischen beiden Familien in Berlin enge Kontakte bestanden haben werden.

Die Unternehmen waren verpflichtet, jüdische Zwangsarbeiter nach Tarif als Hilfsarbeiter zu entlohnen. Allerdings mussten vom Bruttolohn doppelt so hohe Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden wie für "arische" Arbeiter, außerdem wurden jüdische Arbeiter prinzipiell in die schlechteste Lohnsteuerklasse I eingestuft. Ernst Samuels ausbezahlter Wochenlohn betrug 28 Reichsmark, der andere Teil - nämlich 24 Mark - floss in die Staats- und Sozialkassen.

Um das Ausmaß der staatlichen Ausbeutung richtig einschätzen zu können, muss man wissen, dass die Lohnnebenkosten damals für einen Arbeiter kaum mehr als 15 Prozent des Bruttolohns betrugen. Kindergeld erhielten jüdische Eltern ohnehin nicht. Obwohl auch die Arbeitgeber ihren Sozialversicherungsanteil abführten, wurden den jüdischen Zwangsarbeitnehmern von den Krankenkassen und Sozialversicherungsanstalten sämtliche Leistungsansprüche verweigert. Wie hoch der Profit war, den Daimler-Benz mit einem jüdischen Zwangsarbeiter machte, kann man schwer ermitteln, fest steht aber, dass die deutsche Volksgemeinschaft 46 Prozent des Lohns einstrich und auf diese Weise das durch den Krieg belastete Solidarsystem für die deutsche Mehrheitsbevölkerung stabilisierte.

Cilly Samuel wurde vermutlich zur selben Zeit Zwangsarbeiterin im Auslieferungslager Hedemannstraße der Firma Blaupunkt. Ihr Nettowochenlohn betrug 20 Reichsmark. Wie die Arbeitsverhältnisse dort im Einzelnen waren, ließ sich nicht feststellen. In ihrem "Erlebnisbericht aus der Hitlerzeit" hielt Camilla Neumann, die bei Blaupunkt in einer anderen Abteilung arbeiten musste, Ende 1946 fest:

"Nachdem ich schon erwähnt habe, dass ich als Fabrikarbeiterin bei Blaupunkt angekommen bin, will ich auch erzählen, wie es dort zugegangen ist: Zwei Werkmeister und zwei Vorarbeiterinnen waren meine Vorgesetzten. Der eine Werkmeister, Schindler, wahrte zwar nach außen hin die Form, war aber falsch und gefährlich. Der andere, ein Holländer namens van Geest, sprach nur so viel zu uns, wie die Arbeit unbedingt erforderte, und hat alle, die ihm nicht passten, der Gestapo ausgeliefert. Von den Vorarbeiterinnen war die eine sehr anständig, die andere ein arrogantes Weib, die gut als Aufseherin in ein Konzentrationslager gepasst hätte. Meine Kolleginnen und Kollegen gehörten den verschiedensten Gesellschaftsschichten an und waren im Alter von 16 bis 60 Jahren. Wir sollten zwar nicht wissen, was wir fabrizierten, aber wir erfuhren doch, dass wir für die Wehrmacht Hörapparate für Flugzeuge herstellten. Nach einer sechswöchigen Ausbildung bin ich Wicklerin geworden. 32 Spulen mussten täglich abgeliefert werden, aber natürlich nicht am ersten Tag gleich, sondern Tag für Tag etwas mehr. Als ich es auf 28 Spulen gebracht hatte, hat die Wehrmacht mehrere Apparate als unbrauchbar zurückgeschickt. Die Apparate wurden demontiert und festgestellt, dass der Fehler an den Spulen lag. Durch die Nummern ersah man, welche Arbeiterinnen diese gemacht hatten, und die betreffenden 4 Kolleginnen sind zur Gestapo zitiert worden. Dort haben sie eine Warnung bekommen mit dem Hinweis, dass, falls das noch einmal vorkommen sollte, sie ins KZ kommen würden. Da das den besten Arbeiterinnen passiert war, habe ich es mit der Angst zu tun bekommen und mir ist die Lust an dieser Arbeit vergangen. Ich gab mir keine Mühe mehr, 32 Spulen zu schaffen, und sagte, dass ich das nicht leisten könne. Aus diesem Grund bin ich in eine andere Abteilung versetzt worden. Dort war die Arbeit nicht so verantwortungsvoll und das Pensum war zu schaffen. Männer und Frauen arbeiteten hier in einem Saal. Ich saß in einer Ecke zwischen lauter Akademikern. Es waren sehr nette Menschen dabei, und wenn wir auch au fond alle tief unglücklich waren, scherzten wir doch manchmal miteinander, denn sowie die Aufsicht uns den Rücken drehte, richteten wir uns nicht mehr nach dem Redeverbot. - Dass v. Geest mehrere Frauen der Gestapo ausgeliefert hat, sagte ich schon. Wir hatten unter den älteren Frauen auch manche unerfreuliche Gestalten, krank und elend und daher auch nicht gerade geschickt. Die mussten Toiletten reinigen und andere unangenehme Arbeiten verrichten. Wenn sie ihm nicht passten, hat er sie abholen lassen. Von einer anderen Kollegin hat er behauptet, dass sie Annäherungsversuche bei ihm gemacht habe. Obwohl v.G. fabelhaft aussah, glaubte das keiner von uns. Die Kollegin war weg, die konnten wir nicht mehr fragen. Eine Homosexuelle hatten wir auch unter uns. Monatelang wusste er das nicht, aber sowie er es erfahren hatte, war sie verschwunden. [...]
[Nachdem sie Anfang 1943 nur knapp der Verhaftung entronnen war, wandte sich Frau Neumann an ihren Werkmeister:] Ich erzählte v. Geest, was sich zugetragen hatte und fragte ihn, ob ich wieder [für die Zwangsarbeit] reklamiert werden würde. Er sagte, er könne nichts tun, ich möchte doch nach Schmargendorf ins Personalbüro fahren. Ich fuhr also nach Schmargendorf. Nie werde ich vergessen, wie niederträchtig der Personalchef mir dort begegnet ist. Auf meine Frage, ob ich wieder eine Reklamation bekäme, sagte er mir kalt lächelnd: 'Wenn der Staat Ihre 'Beseitigung' beschlossen hat, werde ich es nicht verhindern. Ich bin ja kein Staatsfeind.' Ich machte kehrt und ging wortlos hinaus."

Teil 2