Vorgeblättert

Götz Aly: Im Tunnel, Teil 2

20.04.2004.
Verhaftung und Enteignung

Am 27. Februar 1943 wurden Ernst, Cilly und Marion Samuel verhaftet. Das geschah im Zusammenhang mit einer großen Razzia, die "auf Anordnung des Reichssicherheitshauptamtes schlagartig am 27.2.1943 bei Beginn der Arbeitszeit durchzuführen" war. Sie betraf die als Zwangsarbeiter eingesetzten so genannten Rüstungsjuden und deren Familien, weshalb man später von der Fabrikaktion sprach. An diesem Tag nahm die Gestapo in den Privatunternehmen die "Zusammenfassung der Juden" vor, möglichst "unauffällig", unter Mithilfe der Abwehrbeauftragten und des Werkschutzes der einzelnen Firmen und nach vorheriger Information der zuständigen Arbeitsämter. Der Berliner Gauleiter, Joseph Goebbels, hatte schon zehn Tage vorher notiert, mit "dem Stichtag des 28. Februar" würden die Berliner Juden "zuerst einmal in Lagern zusammengefasst werden und dann schubweise, Tag für Tag bis zu 2000, zur Abschiebung kommen." Zwei Tage später hatte das Reichssicherheitshauptamt "die Richtlinien zur technischen Durchführung" erlassen, nicht nur für Berlin, sondern für das gesamte alte Reichsgebiet.

Am Morgen des 27. Februar erhielten alle Berliner Polizeireviere mit dem Funkspruch "Großaktion Juden" den Auftrag, alle Juden, die - durch den Stern längst kenntlich gemacht - auf der Straße angetroffen würden, in bestimmte Sammellager - zwei Kasernen, das Ballhaus Clou oder das Haus der Jüdischen Gemeinde in der Großen Hamburger Straße - einzuliefern. Dennoch konnten von den 11 000 potentiellen Opfern 4000 entkommen.

Ja, 4000 schon lange stigmatisierte und sozial isolierte Menschen konnten einer unter weitgehender Geheimhaltung vorbereiteten Großrazzia entrinnen. Mitten im Krieg, zum Zeitpunkt einer allumfassenden antijüdischen Hetze hatten deutsche Mitbürger, Verwaltungsangestellte, Offiziere der Rüstungsinspektion, "arische" Vorarbeiter, ja selbst Polizisten und in einem Fall sogar ein SS-Mann die Verfolgten gewarnt. Die Samuels waren nicht darunter. Entsprechend dem Organisationsprinzip der Razzia gerieten sie einzeln in die Fänge der Polizei und der SS: Ernst Samuel wurde bei Daimler-Benz festgenommen, seine Frau bei Blaupunkt und die elfjährige Tochter Marion zu Hause. Sie wurde von der Polizei oder von Mitarbeiterinnen der "Reichsvereinigung der deutschen Juden" abgeführt.

Die Reichsvereinigung war eine Zwangsorganisation, die unter der Kontrolle deutscher Behörden die Angelegenheiten der Verfolgten zu regeln hatte und das unter immer enger gezogenen Rahmenbedingungen. Camilla Neumann, deren Mann Ludwig verhaftet worden war, und die ohne Judenstern vor der Sammelstelle Große Hamburger Straße nach ihm suchte, schreibt in ihrem Bericht: "Was ich brockenweise von verschiedenen Leuten erfuhr, war erschütternd. Die Juden hatten seit ihrer Verhaftung noch keine Nahrung erhalten. Die Jüdische Gemeinde hatte einfach nicht mehr die Möglichkeit, für diese Tausende von Menschen zu sorgen und ihnen auch nur das Geringste zukommen zu lassen. Die Transporte sollten noch am selben Abend, am 1. März, beginnen und hintereinander abgehen. (...) Ehepaare haben sich überhaupt nicht mehr wiedergesehen, weil sie in verschiedenen Fabriken gearbeitet haben. Eltern haben ihre Kinder nicht mehr wiedergesehen. Kinder sind von zu Hause und aus den Heimen abgeholt worden und kamen auch gesondert weg. Es war alles ganz niederschmetternd und dazu diese fürchterliche Winterkälte."

Ernst und Cilly gaben jeweils getrennte Vermögenserklärungen ab, das heißt, sie sahen sich nach der Verhaftung nicht mehr. Cilly wurde am 1. März mit dem 31. Berliner "Judentransport" nach Auschwitz deportiert, Ernst zwei Tage später mit dem 33. In ihrer Vermögenserklärung schrieb Cilly Samuel in die Spalte "Welche Familienangehörigen sind schon ausgewandert? Wohin?": "Mutter [,] 3 Brüder, davon 1 nach USA."

Da die Verhaftung an einem Samstagmorgen stattfand, schrieb Ernst Samuel in die Rubrik "Flüssiges Vermögen": "ca. 2,- Mk." Dazu addierte er noch einen Lohnanspruch von "ca. 50 Mk. brutto" und gelangte so in der Rubrik "Höhe des jetzigen Gesamtvermögens" zu dem Ergebnis "ca. 52 Mk."

Für Marion Samuel müssen das entsetzliche Tage und Nächte gewesen sein. Sie war zunächst völlig vereinzelt, ohne Verwandte, in die Sammelstelle Große Hamburger Straße verschleppt worden. Während ihre Mutter mit dem 31. Transport deportiert wurde, stand sie auf der Liste für den 32. Transport, der am 2. März nach Auschwitz abfuhr. Ihr Name wurde jedoch wieder gestrichen und auf die Liste für den 3. März gesetzt. So musste Marion Samuel nach drei beklemmenden Tagen und Nächten die letzte Fahrt doch nicht ohne einen vertrauten Menschen antreten, sondern zusammen mit ihrem Vater. Das geht aus der Vermögenserklärung hervor, die Ernst Samuel am 1. März für seine Tochter auszufüllen hatte. An diesem Tag wurde Marion von der Großen Hamburger Straße in jenes Sammellager überstellt, in dem bereits ihr Vater festgehalten wurde.

Die Wohnung wurde versiegelt und stand zunächst leer. Zehn Wochen nach der Deportation schätzte der Obergerichtsvollzieher Vesper das Inventar. Die Wäsche setzte er mit 15 Mark an, Porzellan und Küchengeräte mit 3 Mark, zwei Blumentische mit 2 Mark, den Kinderstuhl notierte er als "wertlos". Die Couch, die Metallbettstelle, der Kleiderschrank, der runde Tisch und die Stühle brachten etwas mehr. Im Berliner Telefonbuch von 1942 findet sich der Mann, der das alles korrekt erledigte, eingetragen: "Wilhelm Vesper Ob.-Ger.-Vollz. NO 55 Prenzlauer Allee 40 534636".

Möbel, Geschirr, Bettzeug und Wäsche gingen an speziell autorisierte Trödler. Dort konnten sich ausgebombte Berliner mit entsprechenden Gutscheinen neu einrichten. Auch die NSV, die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, füllte aus den Hinterlassenschaften der nach Auschwitz Abtransportierten ihre Bestände auf, um die deutschen Bedürftigen, die Sozialrentner und Fürsorgeempfänger besser zu versorgen. Die Beamten des Reichsfinanzministeriums legten den Gemeindeverwaltungen nahe, den Hausrat der Juden aufzukaufen, "um zu gewährleisten, dass die Sachen, insbesondere die Textilien und Wohnungseinrichtungen, in die richtigen Hände kommen". Dazu zählten besonders die Hände "der Bombengeschädigten, der Jungverheirateten, der Kriegshinterbliebenen usw." Verfügten die Deportierten über einen gut ausgestatteten bürgerlichen Haushalt, dann wurden auch Antiquitätenhändler und Antiquariate an der Wohnungsauflösung beteiligt. Normalerweise aber hatte "ein Gerichtsvollzieher oder ein anderer zuverlässiger Schätzer - bewährt haben sich die Beamten der städtischen Pfandleihhäuser - den Wert der einzelnen Gegenstände abzuschätzen". Dabei war auf größte Genauigkeit zu achten, da "nichts verschenkt werden" dürfe.

In den Erinnerungen eines Trödlergehilfen, der seit September 1942 bei dem Berliner Trödler Max Bier arbeitete, kann man nachlesen: "Im September 1942 bekam Herr Bier ein Anschreiben der Behörde mit der Taxliste eines so genannten 'Judennachlasses', den er fristgerecht zu räumen hätte. (...) Alles, was käuflich war, bis zum Nachtgeschirr, war taxiert und auf der Taxliste ausgepreist. Für den Erwerb des Bücherschranks reichte mein erarbeitetes Geld gerade aus. Er kostete 60 Mark. (...) Das war zu jener Zeit viel Geld für einen Schuljungen. Da stand er nun in meinem Zimmer, und ich nannte ihn fortan den 'jüdischen Bücherschrank'. Im Schubkasten ist noch immer ein leiser Geruch des Puders zu spüren."

Auf diese Weise erhöhte der deutsche Staat seine Einnahmen, und gleichzeitig gelang es der politischen Führung, immer wieder solche Güter auf den Markt zu bringen, die wegen des Krieges kaum noch produziert wurden. So konnte ein Mangel, der sich mit der Kriegsdauer immer unangenehmer bemerkbar machte und eine latente Unzufriedenheit bewirkte, punktuell überwunden werden. Das führte sogar dazu, dass einige hunderttausend Wohnungseinrichtungen von westeuropäischen Juden systematisch für die ausgebombten Familien in Deutschland abtransportiert wurden.

Insgesamt ergab sich für das Inventar der Samuels ein Wert von 220 Mark; nach Abzug aller Gebühren, Schätzkosten und Fahrgelder blieben dem Fiskus des Deutschen Reiches 198 Mark. (Das würde heute etwa 1500 Euro entsprechen.) Hinzu kamen 6,28 Mark, die die Berliner Elektrizitätswerke (Bewag) zurückzahlten. Sie hatte für solche Fälle bereits den Din-A-5-Vordruck "Meldung über evakuierte Juden" entwickelt. 2,01 Mark gingen noch von den städtischen Gaswerken (Gasag) ein und 11,08 Mark Lohnnachzahlung von Blaupunkt. Insgesamt ergaben sich also Staatseinnahmen von 217,37 Reichsmark.

Daimler-Benz zahlte die Lohnrückstände nicht nach. Offensichtlich war zwischen dem Oberfinanzpräsidenten und der Lohnbuchhaltung von Daimler-Benz eine pauschale Regelung getroffen worden, die eine Einzelabrechnung überflüssig machte. Im Personalbuch des Werkes Berlin-Marienfelde stößt man nämlich auf eine Merkwürdigkeit. Demnach wurden Ernst Samuel und die anderen am 27. Februar verhafteten jüdischen Zwangsarbeiter formal bis zum 17. März weiterbeschäftigt. Das heißt: Daimler-Benz führte die Steuern und Sozialabgaben 14 Tage länger ab und brauchte im Gegenzug die umständlich zu ermittelnden Lohnrückstände für die einzelnen Arbeiter nicht zu erstatten. Dieser Handel muss nach dem 8. Februar, dem Tag der Verhaftung von Martin Samuel, getroffen worden sein: In der Namenszeile des Personalbuchs, die ihn betrifft, wurde das ursprünglich richtige Datum gestrichen und durch ein späteres Datum, den 25.2.1943, ersetzt.

Das Enteignungsverfahren dauerte bis September 1943. So lange blieb die Wohnung versiegelt, erst dann wurde sie geräumt. Daher musste die Finanzkasse nachträglich Mietzahlungen in Höhe von 245 Mark an die Vermieterin Wally Waschinsky leisten. Nachdem die Wohnungsauflösung sowie die Rück- und Nachzahlungen einen Betrag von 217,37 Reichsmark erbracht hatten, ergab sich für den deutschen Staat in diesem Deportationsfall ein fiskalischer Verlust von 27,63 Reichsmark.

Das war - insgesamt gesehen - eine Ausnahme. Aber selbst in diesem Fall erbrachte die Deportation eines jüdischen Zwangsarbeiterehepaars mit Kind einen volkswirtschaftlichen und bevölkerungsökonomischen Vorteil für die deutsche Kriegswirtschaft. Die Berliner "Rüstungsjuden" wurden durch osteuropäische Zwangsarbeiter ersetzt. Wie es in den Dokumenten des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums ausdrücklich heißt, wurden sie "ohne unproduktiven Anhang", also ohne Alte, Kinder, Schwache und Kranke nach Berlin verschleppt. Die Polinnen und Polen waren jung, sollten nach Geschlechtern getrennt eingesetzt werden, damit sie möglichst keine Kinder bekämen. Darin lag eine bevölkerungspolitische Absicht. Außerdem wurden sie in fabriknahen Barackenlagern untergebracht, dadurch standen nun die Wohnungen und die Einrichtungsgegenstände der jüdischen Deutschen den "arischen" zur Verfügung.

Die Polen wurden aus der Gegend um das östlich von Lublin gelegene Zamosc ausgesiedelt, in der mit aller Gewalt das erste geschlossene deutsche Siedlungsbollwerk mitten im polnischen Kerngebiet errichtet wurde. Tatsächlich begannen Himmlers Siedlungskommissare im Winter 1942/43 damit, dort Rumänien- und Bosniendeutsche anzusiedeln. Sie waren teilweise schon im Herbst 1940 "Heim ins Reich" geholt worden, saßen jedoch seither in oberschlesischen Lagern fest und warteten - täglich unzufriedener - auf die versprochenen Bauernhöfe. Die polnischen Zwangsarbeiter, die in Berlin ankamen, mussten die Arbeitsplätze der "Rüstungsjuden" einnehmen, die nun mit demselben Zug nach Auschwitz deportiert wurden, mit dem die Polen in Berlin angekommen waren. Camilla Neumann schreibt in ihren Erinnerungen über die Tage der "Fabrikaktion": "Ich sah, was um mich geschah und zog daraus meine Schlüsse. Zu Tausenden kamen ausländische Arbeiter und Arbeiterinnen in Berlin an und sind überall dort eingesetzt worden, wo vorher Juden gearbeitet haben. Ich wusste, dass auch unsere Tage gezählt waren."

Der Arbeitskräfteaustausch hatte aus Sicht der damaligen deutschen Regierung mindestens drei materielle Vorteile: Außer den so genannten Rüstungsjuden mussten bis dahin noch deren Familienmitglieder, die Kinder und die anderen, die nicht zur Arbeit eingesetzt werden konnten, ernährt werden; zudem wurden auf diese Weise innerstädtische Wohnungen frei, weil die Polen in einfachen, fabriknahen Massenunterkünften untergebracht wurden, und schließlich waren die jungen, im Schnitt etwa achtzehnjährigen Arbeitskräfte belastbarer.

Demgegenüber wurden die jüdischen Zwangsarbeiter mit ihrem im NS-Deutsch so bezeichneten "unproduktiven Anhang" nach Auschwitz deportiert, und dazu rechnete auch Marion Samuel. Für alle diese Transporte standen Viehwaggons am Güterbahnhof Berlin-Moabit an der Putlitzbrücke bereit. Die SS und einfache Berliner Schutzpolizisten beförderten die zur Deportation Bestimmten meistens mit Lastwagen zur Verladestelle. Weil sie das zehnte Lebensjahr bereits überschritten hatte, war für Marion Samuel der Gruppenfahrpreis für Erwachsene in der dritten Klasse zu bezahlen, vier Reichspfennige pro gefahrenem Kilometer, und für den ganzen Transport ein Gruppenfahrschein "Auschwitz einfach" zu lösen.

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags.

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