Vorgeblättert

Hemley Boum: Gesang für die Verlorenen - Leseprobe Teil 1

09.08.2018.

1948-1958
DIE JAHRE DES KAMPFES

...

5

     Esta Ngo Mbondo Njee saß in ihrer Küche und wartete auf Schwester Marie-Bernard. Sie hatte eine Gemüsebrühe gekocht und hoffte, die Kleine, die im Nebenzimmer schlief, würde etwas davon zu sich nehmen. Sie hasste Pierre Le Gall, mit allen Fasern ihres Körpers, er widerte sie an. Dass er sich im Land der Bassa niedergelassen hatte, war ein Fluch. Seine Anwesenheit schwebte wie ein dunkler, drohender Schatten über ihr, eine finstere Macht, gegen die niemand sich verteidigen konnte. Sie wollte ihn tot sehen, niedergetrampelt von denen, die er seit so langer Zeit misshandelte. Jeannette, ihre Mutter, kam zu ihr in die Küche.
     "Wie geht es der Kleinen?", fragte sie.
     "Sie schläft", antwortete Esta kurz angebunden.
Sie war am Ende, Wut und Kummer schossen wie ein ungestümer Wildbach durch ihre Adern. Es dürstete sie nach Blut, sie träumte von Mord. Sie wollte nicht reden. Das ständige Gefühl der Ohnmacht im Kampf gegen ihren Widersacher verzehrte sie. Ihre eigene Geburt war ein Skandal gewesen, Jeannette war damals fünfzehn Jahre alt. Ihre Heirat mit einem jungen Mann aus dem Nachbardorf hatten die Eltern schon seit langer Zeit vereinbart. Pierre Le Gall ließ niemals eine religiöse Veranstaltung aus: Jeden Sonntag begab er sich unterschiedslos entweder in den protestantischen Gottesdienst oder die katholische Messe, im Interesse wohlwollender Neutralität, wie er versicherte, einer breiter gefächerten Auswahl seiner Opfer wegen, waren sich die Dorf bewohner schnell einig. An einem Sonntag nach dem Gottesdienst ging er auf Jeannettes Eltern zu, und ohne das junge Mädchen eines Blickes zu würdigen, bestand er darauf, dass sie zu ihm geschickt werden und seinen Haushalt führen sollte. Die geschmeichelten Eltern nahmen ohne Zögern an. Der neue weiße Herr war vor Kurzem nach Eseka gezogen, wo er ein schönes neues Haus gebaut hatte. Für ihn zu arbeiten gäbe ihrer Tochter die Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen, zusätzlich zu dem, was sie erwarb, indem sie ihnen bei der Feldarbeit half. Sie waren nicht misstrauisch. Damals hegte noch niemand Zweifel an dem Lebenswandel des Schweins. Und wenn sie es gewusst hätten, hätten sie das Angebot nicht ablehnen können. Er war unbestreitbar der neue große Weiße in der Gegend, selbst seine Landsleute bekundeten ihm ihre Ergebenheit. Sie ließen ihre Tochter für Le Gall arbeiten. Sie sollte nur zweimal die Woche zu ihm gehen. Nicht lange danach verlangte er, sie müsse jeden Tag kommen. Die Eltern protestierten. Das Mädchen hatte seine familiären Pflichten, sie brauchten sie für die Feldarbeit. Pierre Le Gall beantwortete ihre Einwände mit einem seiner Wutausbrüche, die bald legendär im Dorf wurden, und schickte sie kurzerhand fort. Immerhin erhöhte er den Lohn der Kleinen, als Ausgleich für den Wegfall ihrer Arbeit bei ihren Eltern, erklärte er ihr.
     Seit sie für den neuen Herrn tätig war, magerte Jeannette ab, wurde reizbar. Sie, die so gern lachte und so fröhlich war, schien wie erloschen. Sie war immer hübsch anzusehen gewesen, wenn sie auf ihren Verlobten wartete, sie verbrachte Stunden damit, sich die Haare flechten zu lassen und Kleidung auszuwählen, die ihren kleinen, wie Bambus biegsamen Körper zur Geltung brachte. Doch nun sträubte sich das Mädchen dagegen, sich zurechtzumachen und zu frisieren. Sie zog sich in eine Ecke zurück und antwortete nur, wenn sie direkt angesprochen wurde. Ihre Mutter war alarmiert.
     "Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Weißen. Wir müssen das Kind von ihm fernhalten", sagte sie zu ihrem Mann. Die Familie beschleunigte die Hochzeit, und von heute auf morgen zog Jeannette in das Dorf ihres Mannes.
     Pierre Le Gall schickte mehrere Boten zu den Eltern seiner kleinen Haushälterin, von der er nichts mehr gehört hatte. Als er erfuhr, dass sie verheiratet worden und für ihn außer Reichweite war, kannte sein Zorn keine Grenzen. Die Eltern wurden in das Lager von Eseka-Lolodorf deportiert und dort der Zwangsarbeit für den Bau der neuen Straße unterworfen.
     An ihrem ehelichen Wohnsitz erfuhr Jeannette mit Entsetzen von den Neuigkeiten aus ihrem Heimatdorf. Das war nicht das Einzige, das ihr Angst einflößte. Sie hatte ein kleines Mädchen geboren. Das Kind hatte eine helle Haut. Das Baby erweckte keinen Verdacht. Im Stammbaum ihres Mannes waren einige Albinos zu verzeichnen. Das war nie eine gute Sache, um die empfindlichen Kinder musste man sich besonders sorgfältig kümmern, und oft starben sie vor der Zeit. Doch das Kind wuchs heran. Es hatte eine gesunde Haut, einen schönen hellen Teint und litt nicht unter den Hautkrankheiten, denen Albinos oft unterworfen sind. Ihre großen schwarzen Augen zitterten nicht und waren leicht opak. Das alles ließ sich erklären, manche Menschen, die keine Albinos waren, hatten gleichwohl eine sehr helle Haut, so etwas kam häufig vor. Ja, es wäre keine große Sache gewesen, wenn die Kleine nicht auch noch weiche, lockige Haare gehabt hätte, die in der Sonne leicht erblondeten. Eine helle Haut, große Augen, das mag noch angehen, doch wenn sich diesen Merkmalen Haare der genannten Art hinzugesellen, hat man es zweifelsfrei mit einer gemischten Herkunft zu tun.
     "Dieses Kind ist nicht unseres", rief die Schwiegermutter eines Tages aus und brachte ans Licht, was bis dahin nur ein Verdacht gewesen war. Jeannette hatte niemandem erzählt, was bei Pierre Le Gall geschehen war. Ihre Mutter hatte es geahnt, doch die Worte waren nie ausgesprochen worden. Sie hing an ihrem Mann und wusste sich von ihm geliebt. Ihre Eltern hatten ein ungewöhnliches Opfer auf sich genommen und es ihr so ermöglicht, ein neues Leben anzufangen. Ihre Situation hatte ihre Schwiegerfamilie gerührt, sie hatte ihr zur Seite gestanden und sie im Unglück unterstützt. Die Entscheidungen des Weißen sind willkürlich, jeder erduldet sie, ohne sich ihnen entziehen zu können. Alle Familien wussten es. Sie mussten die wahren Gründe für diese Ungnade gar nicht kennen. Doch ein Kind gemischter Herkunft! Das Kind des Weißen! Wollten sie das mutmaßliche Risiko auf sich nehmen? Was zu der Schande sagen? Schnell wurde ein Familienrat einberufen. Jahre später erklärte Jeannette ihrer Tochter, in welcher Betrübnis die Zusammenkunft stattgefunden hatte. Die Kleine war missbraucht worden, niemand zweifelte daran.
     Mit der Zeit wurde Pierre Le Gall bekannt in der Gegend, seine Vorliebe für sehr junge Mädchen war kein Geheimnis mehr. Ihre Schwiegermutter weinte, als sie Jeannettes Eltern von ihrem schweren Leben im Lager erzählen hörte, von der körperlichen Arbeit, die so mühsam war für den alten Vater. "Es kam uns vor, als ob unser Leben uns nicht gehörte. Eine dunkle Macht stieß uns nach Lust und Laune umher, wir wussten nicht, warum wir ihr ins Visier geraten waren, was wir getan hatten, dass uns solche Leiden auferlegt wurden. Was ist das Leben eines Menschen wert, wenn ein anderer darüber verfügen kann, wie es ihm beliebt? Wenn er in dein Haus kommen kann, deine Kinder bedrängen, deine Frau in Besitz nehmen und deine Eltern in eine schändliche Knechtschaft zwingen kann? Du warst das Kind der Ohnmacht, Esta, der bedingungslosen Kapitulation der Schwachen in einem schlecht proportionierten Kräfteverhältnis. Meine Eltern sind einige Monate später gestorben. Mein Vater infolge eines Arbeitsunfalls, hat man mir erklärt. Mutter hat mir gesagt, dass er einen großen Sack Kies auf dem Rücken trug, als er plötzlich vornüber auf die Erde fiel. Eine zu große Erschöpfung für einen so ausgelaugten Körper, ein Übermaß an Leid und Niederlagen hatte ihn niedergeworfen. Er fiel wie ein vom Blitz getroffener Baum. Sie folgte ihm nicht lange danach. Dein Vater hat mich als Ehefrau behalten, er hat dir seinen Namen gegeben und dich anständig behandelt, wenn nicht sogar mit Zuneigung. Er hat Würde und Mut bewiesen angesichts der Umstände, doch mich bis zu seinem Tod nicht wieder berührt."
     Estas Vater, Salomon Mbondo Njee, heiratete zwei andere Frauen, und beiden Ehen entstammten mehrere Kinder. Esta wuchs in dieser eigenartigen Atmosphäre auf. Nicht zurückgewiesen, aber auch nicht wirklich akzeptiert. Sie hatte die unverwüstliche Gesundheit ihres Erzeugers geerbt und fühlte sich wohler beim Spielen mit den Jungen als mit den Mädchen, bis auf eine Ausnahme, den Tanz. Esta tanzte, wie sie atmete. Ihr Körper schien auf eine innere Perkussion zu reagieren, die niemand außer ihr wahrnahm. Die anderen Kinder liefen oder marschierten, Esta tanzte. Der leiseste Ton einer Trommel, das leiseste Balafon, das sie von Weitem hörte, ließen sie aus ihrem Stuhl aufspringen, alles stehen und liegen lassen, ihre Hände, ihr Oberkörper, ihre Hüften folgten dem unbändigen Ruf. "Dein Mädchen vernimmt den Ko'ô", sagte eine Alte aus dem Dorf leise zu Jeannette. Jeanette erschrak, der Ko'ô war eine Geheimgesellschaft der Frauen, das weibliche Gegenstück zum Mbog', den Patriarchen, den Meistern des Clans. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Land der Bassa leben nicht in Königtümern. Sie erkennen an, dass sie von einem gemeinsamen Ahnen abstammen, die einzelnen Gruppen werden vom Mbog' angeführt, einem Bund von Patriarchen, Priestern, Soldaten, einer Gesellschaft von Initiierten, die wegen ihrer Weisheit, ihrer Spiritualität, ihrer Sorge um die Güter der Gemeinschaft und den Respekt der Traditionen Anerkennung genießen. Sie legen die politischen, rechtlichen und sozialen Regeln der Gemeinschaft fest. Die Priesterinnen des Ko'ô, Heilerinnen, Garantinnen des sozialen Friedens, der moralischen Ordnung, der Sorge um Schönheit und Gesundheit, waren ebenso gefürchtet wie geachtet. Ihre Urteile konnten nur von ihnen selbst aufgehoben werden. Tanz und Gesang waren die bevorzugte Art ihres Ausdrucks. Der Ko'ô, Schnecke in der Sprache der Bassa, war auch eine Metapher für die Klitoris, die Macht der Frauen in ihrer Herrlichkeit und unendlichem Mysterium. "Die Frau ist wie eine Palme, die Wein gibt", sagten die Priesterinnen des Ko'ô, "und der Mann die Liane, die ihn fermentiert, die Liane hat der Palme nichts zu befehlen." Die Macht der Frauen im Land der Bassa stützt sich auf eine unbestrittene Einzigartigkeit, die Mutterschaft. Die Männer erkennen ihre alleinige Zuständigkeit an in allen Belangen, die die Fruchtbarkeit berühren, ihre eigene, die der anderen, doch auch in einem erweiterten Sinn; wenn das Wild selten wird oder die Felder an Fruchtbarkeit verlieren, wenn das Gleichgewicht des Clans gestört ist, dann ruft die Gemeinschaft nach dem Ko'ô. Nur ist die Fruchtbarkeit nicht in der Klitoris beheimatet, die Frauen wissen das. Die Existenz und das Gewicht des Ko'ô, die Achtung, die den Priesterinnen entgegengebracht wird, zeigen, dass die Gemeinschaft ihnen eine intimere Macht zuerkennt, eine besondere, die sich jedem männlichen Eindringen sperrt.

Leseprobe Teil 2