Vorgeblättert

Irene Heidelberger-Leonard: Jean Amery, Teil 3

09.02.2004.
Hans und Ernst Mayer: Freunde auf Leben und Tod

Eingeschult wird Hans Mayer am 1.9.1918, auch im Wiener vierten Bezirk, an der Phorus-Schule in Wien. Dort lernt er Ernst Theodor Mayer kennen - die beiden wird eine lebenslange Freundschaft verbinden, die sich ab 1946 in einem kaum unterbrochenen Briefwechsel niederschlägt. Einen der 241 Briefe an Ernst Mayer schließt Jean Amery 1964 mit folgender Beschwörung: "Sei mir für heut herzlich gegrüßt, mein lieber Freund. Ich warte, wie stets, geduldig-ungeduldig auf ein Brieflein und bin wie seit nunmehr sechsundvierzig Jahren (Phorusschule, erste Klasse, Rötzer, weißliches Gaslicht, Matuschek, Fesenmeier, Fuchs Ernst, Mayer Ernst, Mayer Hanns -) Dein alter..." (Jean Amery an Ernst Mayer, 24.10.64).(1) In einem viel späteren Brief ist vom "Bewußtsein höherer Gemeinsamkeit" die Rede. "Es wurde aus dem Zufall, daß Herr Lehrer Rötzer den einen Mayer neben den anderen setzte, das Schicksal zweier Leben, die beide zwar wohl nicht groß, aber doch nicht wertlos waren. Es gibt Dümmere und Unbegabtere als Dich und mich, so haben wir?s immer gewußt und so war in Maßen die Welt bereit, es uns zu bestätigen." (J.A. an E.M. 17.4.71) So groß ist die 'Schicksalsgemeinschaft' zwischen ihnen, daß auch Ernst Mayer - zwei Jahre nach Jean Amery - Hand an sich legt.(2)
Auch seine politische Sozialisation datiert er anno 1918. "Mein österreichisches Schicksal war ein politisches. Geschehnisse des öffentlichen Lebens haben schon das Ohr des Knaben aufhorchen lassen."(3) Er erinnert sich an den Fünfjährigen, der mit Schrecken Zeuge der Streikaktionen vom Januar wurde: "Von irgendwoher dringt ein anschwellender Stimmenchor. Es regnet. Ich habe Angst. 'Komm', sagt die Mutter und drückt zärtlich meine Hand. 'Wer sind die Leute, die schreien?' 'Es sind die Arbeiter', sagt meine Mutter, und ich stelle mir die Arbeiter als eine schwarze Masse von Gefahr vor, die uns zermalmen wird." Ein Jahr später schickt ihn seine Mutter in eine "Trafik, um Zigaretten und um eine Zeitung, das Neue Wiener Tagblatt", zu kaufen. Das Tagblatt war ausverkauft, der Knabe kauft statt dessen Die Rote Fahne, "der Name ist schön und erregend. Die Mutter lacht Tränen daheim über meinen Kauf. Ich begreife nicht", und dann begreift er doch: 'Kind, das ist doch eine Arbeiter-Zeitung', sagt die Mutter."(4)
Das Verhältnis zu ihr, einer sanften Frau, ist ein inniges; "sie schlug mich weder, noch bedrohte sie mich, sondern hing mit "einer Art zerstreuten Affenliebe an mir."(5) Als er zum 60. durch ein Familienalbum blättert, ist ihm, als "hörte ich die Stimme meiner Mutter, die noch im Elend so gern von den feschen Leutnants im Dritten Kaffeehaus und den Mitgliedern des Erzhauses erzählte." (J.A. an E.M. 4.11.72) Er selber sei der Kriegerwitwe Mutter "kein sehr guter Sohn" gewesen, gesteht er sehr viel später.(6) Bei aller 'Affenliebe', die Mutter scheint dem Knaben nicht gerade Mut zu sich gemacht zu haben, sein Selbstbewußtsein hat sie jedenfalls nicht aufgebaut; im Gegenteil, sie habe ihm immer versichert, "aus mir würde nichts, und wenn sie gerade flammend eifersüchtig war, wie eine betrogene Geliebte, dann erklärte sie klipp und klar, ich würde noch einmal am Galgen hängen - womit sie dann 1943 beinahe recht bekommen hätte", erinnert er sich in einem späten Brief an Ernst Mayer. Und doch verdiene sie sein "kritisch-ehrendes Andenken." (J.A. an E.M. 20.5.76) Einziger Sohn sei er gewesen, erklärt er Ingo Hermann in einem letzten Gespräch. "Da braucht man gar kein psychoanalytisch geschulter Mensch zu sein, um zu wissen, daß da eine starke ödipale Beziehung (...) da war. Meine Mutter war sowohl übermäßig zärtlich als auch übermäßig autoritär, und da ist etwas geblieben. Es ist immer wieder so, daß ich in Frauen auch die Mutter suche."(7)

Bad Ischl

Der Sohn kränkelt. Von "Lungenspitzenkatarrh" ist die Rede, der Arzt empfiehlt dringend Landluft. Vielleicht kann Mila helfen, deren Mann Dr. Stroessel in Bad Goisern ein Sanatorium führt. Mutter und Tante Herta beschließen ins benachbarte Bad Ischl überzusiedeln. Wie soll die Kriegerwitwe den Sohn durchbringen? Sie unterschreibt einen Pachtvertrag, ist von nun an Wirtin des "Gasthofs zur Stadt Prag" in der Eglmoosgasse 9.(8) "Meine Mutter übernahm das Wirtsgeschäft", spekuliert der Sohn, " weil sie...darauf angewiesen (war), für sich und mich das Brot zu erwerben." Außer Französisch, Klavierspielen und "jener Läppischkeiten, die man den höheren Töchtern beibrachte", habe sie vor allem sehr gut kochen können. Irrigerweise habe sie gemeint, "dies genüge zur Führung eines kleinen Gastbetriebs".(9) Von proletarisiertem Bürgertum ist die Rede, denn es stand nicht zum Besten mit dem "Gasthof zur Stadt Prag".(10) "Wir waren auf einmal schlecht und recht Wirtsleute ... eines unansehnlichen Kleinbetriebes ... der (...) an jener Ischler Anhöhe lag, die den Fuß des Kalvarienberges bildet."(11)

In der Knaben-Volksschule von Bad Ischl wird er in den Klassenkatalog am 23. Mai 1921 eingetragen mit dem Vermerk "zum Landaufenthalt von Wien". Dann taucht sein Name erst wieder auf am 11. Jänner 1923, ohne daß ersichtlich wird, wo er das dazwischenliegende Jahr verbracht hat. Seine Zeugnisse sind zufriedenstellend mit der Note "gut" im Deutschen, Mathematik, Geschichte, Geographie, Bürgerkunde und Turnen; in Latein, Naturgeschichte, Zeichnen und Schreiben "genügt" er.
In Wirklichkeit ist ihm die Schule eine große "Unannehmlichkeit, die man eben zu ertragen hatte". Nur der Schulweg war verheißungsvoll "wenn?s im Winter noch dunkel war und die Welt mit Wald und Gebirg, Marktplatz und Gässchen das seltsame Gesicht der Nacht zeigte." Der Unterricht selber ist zum größeren Teil "unappetitlich". Hier meldet sich schon der Ästhet: "Der Raum war überheizt stickig vom Dampf der trocknenden Armeleute-kleider." Der "dünnhaarige, dünnlippige, dünnstimmige" Lehrer sprach ein mühseliges Hochdeutsch, für dessen Lächerlichkeit ich höchst aufnahmefähig war, und die armseligen Pausen-Raufereien erschienen mir, dem Freunde des Kefer-Luk, kindisch genug." Dem Kefer-Luk als Vertreter der "indigenen" bäurischen Fraktion von Bad Ischl gilt seine ungeteilte Bewunderung. Dem Lehrer fühlt er sich an Bildung haushoch überlegen, denn mit acht Jahren hat er schon den ganzen Schiller gelesen. Nur wenn der Lehrer das kleine Gedicht des Dialektdichters Stelzhammer rezitiert "das Gedicht von einem im Winter frierenden Vöglein, dem koaner Flöckerlschuah spendierte", ist er zu Tränen gerührt.
Anders verhält es sich mit dem "riesenhaften", "muskulösen" Herrn Katechet, "einem fetten Menschen mit Donnerstimme, der in die Geschichten von der Hochzeit zu Kana und der Heilung des armen Lazarus viel Eindringlichkeit zu legen wußte." Der Religionsunterricht begeistert ihn: "Da ich mir, soferne ich nur ein wenig zuhörte, die Dinge ganz von selbst merkte ohne zu lernen, glänzte ich denn in 'Religion'. An ihn wendet man sich, wenn es darum geht, 'mit Andacht und Würde' das katholische Glaubensbekenntnis aufzusagen, wenn irgendein Oberhinterkogler, der sich unter 'Auferstehung des Fleisches' zweifellos zehn Kilogramm in den Himmel entschwebendes Pökelfleisch vorstellte, bei eben diesen Worten stecken blieb und hilflos, aber ohne die Aufklärungsbitte zu wagen, um sich blickte."(12)
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(1) Durchschlag eines Briefes von Jean Amery an Ernst Mayer vom 24.10. 1964, DLA.Dies ist der einzige Beleg für Jean Amerys Einschulung. Die Phorusschule im 4. Wiener Bezirk verfügt über keinerlei Unterlagen mehr aus dieser Zeit; sie seien alle im Krieg zerstört worden.
(2) Ernst Mayer wird zusammen mit seiner Lebensgefährtin Erni 1980 einen Doppelselbstmord begehen. Er stirbt, sie überlebt.
(3) "Gasthof zur Stadt Graz", S.1.
(4) Ebda, S.1.
(5) Ebda, S.11.
(6) Jean Amery an Günter Kunert 11.5.75.
(7) Der Grenzgänger, S.106.
(8) Das Haus wird heute noch nach beträchtlichen Umbauten unter demselben Namen geführt. Es gibt ein Bild von Jean Amery aus dem Jahr 1956, auf dem er sich vor dem ehemaligen Wirtshaus von seiner Mutter fotografieren läßt, zur selben Zeit also, als er mit seinen "Memoiren" anfängt. Man beachte die leichte Verfremdung des Wirtshausnamens in dem unveröffentlichten Manuskript "Gasthof zur Stadt Graz". Auf S.4 desselben Fragments steht zunächst der Name unverfälscht "Gasthof zur Stadt Prag", dann wird 'Prag' ausgestrichen und mit 'Graz' handschriftlich überschrieben.
(9) Ebda, S.5.
(10) "Als das dort schief ging - eigentlich ging bei uns, dem proletarisierten Bürgertum in Österreich, alles schief -, gingen wir nach Wien (...) ." Der Grenzgänger, S.21.
(11) Gasthof zur Stadt Graz, S.4.
(12) Ebda, S.9.

Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta-Verlages

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