Vorgeblättert

Jürgen Neffe: Mehr als wir sind. Teil 1

27.08.2014.
Vor mir steht Jenny. Das Gold ihrer Augen hat sich in ein dunkles Funkeln verwandelt. Ich halte das Päckchen bereit, das ihr Vater mir mitgegeben hat. Sie bedankt sich und reißt die Verpackung auf. Drinnen steckt eine Schachtel, deren Inhalt sich als tropenfester Karamell entpuppt. Routiniert löst sie das Zuckerzeug aus dem Karton.
     »Magst du? Ich mach mir nichts aus Süßem.«
     »Aber warum schickt er …?«
     »Sein Name ist übrigens Leonard.«
     »Ich weiß. Deine Mutter … Vera hat mir von ihm erzählt.«
     Mit geübtem Griff zerlegt sie den Deckel der Schachtel. Ein Bündel Banknoten in großen Notierungen kommt zum Vorschein.
     »Mein Taschengeld. Er denkt immer noch, Geld müsse man verstecken.«
     »Wofür brauchst du das hier?«
     »Zum Verschenken. Ich behalte nur das Nötigste für mich.«
     Auf dem Weg erklärt sie mir, zur Ausbildung an ihrer Schule gehöre im zweiten Jahr soziales Engagement in den Dörfern und Städten der Umgebung. Die einen helfen Versehrten aus dem letzten Bürgerkrieg mit Prothesen ins Leben, andere bei der Wiederaufforstung kahl geschlagener Hügel oder beim Latrinenbau. Sie kümmere sich um ein Heim, in dem Kinder von Prostituierten ein Zuhause gefunden hätten. Ihre Apanage, so nennt sie den väterlichen Geldsegen, stecke sie in den Bau eines Schulhauses, in dem ihre Schützlinge Grundlagen einer ordentlichen Bildung bekommen sollen.
     »Weiß dein Vater davon?«
     »Er findet es sogar gut. Seit ich ihm davon erzählt habe, hat er den Betrag verdoppelt.«
     »Du weihst ihn in alles ein, was du machst, stimmt"s?«
     »Keine Sorge. Von unserer Geschichte weiß er nichts. Wenn er von guten Ideen hört, ist er nicht aufzuhalten. Sobald er an etwas glaubt, spielt Geld keine Rolle.«
     »Scheint ein reicher Mann zu sein, dein Vater.«
     »Alles selbst verdient. Er hat einmal ganz klein angefangen. Freischreiber bei Lokalzeitungen.«
     »Er ist Journalist?«
     »War. Er kam als Storyhunter groß raus. Geschichten, die kein anderer hatte. In der Zeit hat er auch Mama kennengelernt. Die beiden waren das Traumpaar des gehobenen Boulevards. Nach ihrer Trennung und dem Höhepunkt seiner Karriere hat er alles hingeschmissen. Er sagt immer, man müsse wissen, wann man am besten mit etwas aufhört.«
     »Und was tut er jetzt?«
     »Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau. Er hat schon tausend Dinge gemacht. Ich glaube, das meiste Geld verdient er mit Lizenzen für Unterhaltungsformate.«
     Coppki hat keine Ahnung, wovon sie spricht.
     Wir bleiben, vom Gästehaus kommend, außerhalb des umzäunten Schulgeländes. Die Sichel des abnehmenden Mondes geht am Horizont auf. Sterne glimmen fahl durch Schichten aus leichtem Dunst. Wir gehen einen schmalen Pfad bergab durch dichtes Buschwerk. Ich sehe fast nichts. Sie scheint den Weg blind zu kennen und nimmt meine Hand. Ihre Wärme wandert in meine Gewebe. Wir stehen still und lauschen in die belebte nächtliche Stille. Das ist meine Gelegenheit. Ich berichte ihr, was mir der Sicherheitsmann anvertraut hat.
     »Das ist doch längst ein alter Hut. Vor den Weihnachtsferien waren wir noch anders, schlecht in der Schule und gut im Feiern. Wir haben intensiv diskutiert. Was soll daran schlimm sein?«
     »Er sprach von aufwieglerischen Parolen.«
     »Wir steigerten uns damals in Fantasien, alles Alte zu zerstören. War immer ziemlich munter, mit Saufen und Rauchen und so. Wir wussten nur, was wir nicht wollten, aber nicht, was wir uns stattdessen vorstellen sollten. Dann muss uns am letzten Tag vor den Weihnachtsferien jemand verraten haben.«
     »Stimmt es also doch?«
     »Die haben uns nach unserer Rückkehr genau beobachtet. Das war so plump, das hätten Blinde erkannt. Wir haben uns enger zusammengeschlossen und die perfekte Tarnung gefunden. Als der Direktor uns dann zur Rede gestellt hat, konnten wir ihm wahrheitsgemäß berichten, eine Lerngruppe fürs Abitur gegründet zu haben.«
     Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr wirklich folgen kann. Heute verstehe ich ihre Geschichte etwa folgendermaßen: Alle Mitschüler stammen aus wohlhabenden, wenn nicht reichen Familien. Oft auf eigenes Betreiben werden sie im Geiste einer, so steht es in Großbuchstaben auf die Stirnwand der Mensa gemalt, »vereinten, friedlichen und gerechten Welt« erzogen, die mit ihrer natürlichen Umwelt im Einklang lebt.
     Im Lauf des ersten Schuljahrs haben sie sich an Ungleichheit, Not und Elend neben Prunk und Luxus gewöhnt wie an das folkloristische Beiwerk einer fremden Kultur. Als ihr Jahrgang am Ende der Sommerpause aus der behüteten Behaglichkeit der Elternhäuser zurückkehrt, sehen sie krasser als bei der ersten Ankunft die Unterschiede zwischen unten und oben, sie selber eingeschlossen. Der Masse der einheimischen Bewohner gelten die Siebzehnjährigen als unerreichbar reich.
     Die Direktion hat ihnen zum Ende der Regenzeit ausnahmsweise ein Willkommensfeuer genehmigt. Ein harter Kern von zwölf bleibt bis in den frühen Morgen versammelt. Sie sprechen über ihre Gefühle bei der Fahrt vom Flughafen in ihre sichere Enklave , nennen ihre Privilegien beim Namen, finden viele Worte für die gleiche Empörung.
     Tief beschämt über ihren bevorzugten Status und die besseren Chancen im Leben allein aufgrund ihrer Herkunft, schwören sie einander, neben ihrer Kraft auch Teile ihrer zu erwartenden Vermögen und Erbschaften gegen Leid und Elend einzusetzen. Von der Vision einer neuen Welt ist da noch nicht viel zu hören. Eher vom Lindern der Missstände, wie sie es von ihren Eltern als Trostpflaster gegen schlechte Gefühle kennen.
     Sie treffen sich regelmäßig nach dem Unterricht und schärfen in Referaten und Debatten ihr politisches Bewusstsein und ihre Kritikfähigkeit. Mit jeder Woche wächst die Liste dessen, wogegen sie, einmal in ihren Berufen angekommen, ankämpfen wollen. Hunger, Armut, Unterdrückung und so fort, das übliche Programm. Damit liegen sie noch ziemlich genau auf der Linie ihrer Schule.
     Nach Weihnachten kehrt eine von ihnen merkwürdig verwandelt zurück. Sie strotzt vor Kraft und Klarheit, glänzt im Unterricht, bringt neue Töne in den Diskurs der Zwölf. Wer etwas überwinden will, solle das Gesamtsystem im Auge behalten, größer denken, weniger an Abriss als an Aufbau.
     Ein verdrießlicher Mensch ist Jenny nie gewesen. Bisweilen etwas verzogen und launisch. Jetzt strahlt ihre Ausstrahlung auf sie zurück. Als hätten sich dunkle Flecken von ihrer Seele verflüchtigt, besitzt sie, noch nicht einmal volljährig, so etwas wie einen Nimbus. Alle suchen ihre Nähe. Ihr Rat ist gefragt. Sie wird gelobt, für ihre Worte, ihr Wesen. Was sie anfasst, gelingt ihr. Heillos unterfordert vom schulischen Programm, erlebt sie Momente der Grenzenlosigkeit.
     Dabei ist sie so glücklich wie jemand, der spürt, dass er nie wieder so glücklich sein wird. Je länger sie ihre jugendliche Allmacht genießt, die Leichtlebigkeit, das Wohlwollen der Lehrer, die Blicke der Männer, desto stärker empfindet sie ihr Anderssein als Last. Zwischen sie und selbst ihre besten Freunde hat sich eine Wand geschoben. Sechs Tage (und Nächte, die sie in der Bibliothek verbringt) hält sie es dahinter aus. Am siebten hat ihr Glück sein gesamtes Vermögen in Elend umgetauscht. Auf einmal sieht sie sich hinterfragt, beäugt, ausgeschlossen. Auf ihrer Seite der Mauer ist sie einsam wie der erste Mensch.
     Als die Nacht anbricht und die Gruppe sich wie jeden Abend versammelt, macht sie ihrem Herzen Luft und weiht die Kameraden in ihr Geheimnis ein. Noch nie hat sie sich so befreit gefühlt. Nicht einmal, als sie Abschied genommen hat von der unverbesserlich dauererschöpften Mutter. Zusammen mit ihrem einsamen Wissen entledigt sie sich auch der Last des Gewissens, einen unverdienten Vorteil zu besitzen. Sie bietet den anderen ihren Wachtrank an. Das Mittel wirkt sofort.
     Coppki notiert im Geist: Versuchspersonen 5 bis 15 bei Ersteinnahme ohne Zweifel an Wirkung durch Beispiel VP 4. Anschauung ansteckend.
     »Sagtest du nicht, ihr seid gegen Privilegien?«
     »Am Anfang waren wir nur überwältigt. Wir feierten die ganze Nacht.«
     »Ihr habt gefeiert?«
     »Nicht, wie du dir das vielleicht vorstellst. Wir haben auch getanzt. Aber hauptsächlich geredet. Herumgesponnen. Vor uns lag eine unendliche Welt. Alles war möglich.«
     »Du teilst gerne, stimmt"s?«
     »Ich wüsste nichts, was glücklicher macht.«
     »Das Mittel war für deine Mutter bestimmt, für niemanden sonst.«
     »Du nimmst es doch auch. Das haben wir sofort gesehen.«
     »Ja, sie und ich. Zwei, aber nicht weitere zwölf. Damit ist es in der Welt, ist euch das klar?«
     »Ist das denn so schlimm? Der Stoff hat eine wunderbare Nebenwirkung: Man hat nicht nur mehr Zeit, man lernt leichter und besser. Wir sind jetzt die Besten der Schule. Der Direktor hat uns die Sache mit der Lerngruppe sofort abgenommen. Stimmt ja in gewissem Maß auch.«
     »Aber?«
     »Wir lernen gemeinsam, das ist richtig. Aber wir machen mehr als das. Wir treffen uns jede Nacht. Kein Schlaf mehr, der uns trennt. Wir nehmen dein Mittel und arbeiten an einem Plan.«
     »Einem Plan?«
     »Wir entwerfen das Bild einer besseren Welt. Seit wir immer bei uns sind, hat sich die Stimmung gewandelt. Warum, das weißt du vermutlich besser als jeder andere.«
     »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
     »Wir gehen nicht mehr davon aus, was zu zerstören wäre. Vielmehr fragen wir uns, wie eine Welt aussähe, von der die allermeisten Menschen sagen würden, so soll sie sein.«
     »Du sagst, das Wasser hat euch umgekrempelt?«
     »Das war schon gleich in der ersten Nacht so. Drinnen, ich meine vor allem im Innern unseres Kreises, stellte sich eine fast schon unheimliche, hell leuchtende Zuversicht ein. So ein Gefühl von unschlagbarem Gemeinsinn. Wenn wir wollen, können wir alles schaffen.«
     Feldnotizbuch im Kopf: Offenbar Gruppenphänomen. Kollektive Zuversicht. Abbruch des Experiments nicht ratsam.
     »Kannst du das näher beschreiben? Wie macht sich das bemerkbar? «
     »Das kannst du gleich alle fragen. Wir sind da. Vorsicht: Es geht ein paar Stufen nach unten. Die anderen warten schon.«
     Die anderen. Vom Ansehen her kenne ich bereits jeden einzelnen. Den ganzen Tag über bin ich ihnen begegnet. In ihrer unverwüstlichen Frische heben sie sich unübersehbar ab, nicken mir heimlich zu, als würden wir uns schon lange kennen.
     Wir steigen, meine Hand in Jennys, nach einer steilen Kehre hinab in die Erde. Kurz ist es stockschwarz. Dann sehe ich den Schein einer Flamme. Sie leuchtet ein Felsgewölbe aus, das einmal einem Einsiedler als Unterschlupf diente. Die anderen sitzen auf Kissen im Kreis um eine Öllampe. Keiner spricht, außer mit den Augen, die sich auf uns richten.
     »Ich bringe euch die Quelle unseres neuen Lebens, meinen Onkel , Professor …«
     »Ich bin kein Professor und auch nicht Jennys Onkel. Ich bin der Freund ihrer Mutter.«
     Jenny drückt meine Hand. Ich verstehe.
     »Ihr habt es wahrscheinlich schon gemerkt. Ich habe ihm für die Schule eine passende Identität gegeben. Willkommen in unserem Kreis. Du wirst gleich eine kleine Zeremonie erleben.«
     »Eine Zeremonie?«
     »Unser tägliches Ritual, bei dem wir die Tropfen nehmen.«
     Das Lämpchen verbreitet warmes Licht.
     »Du möchtest wissen, wer wir sind. Wir werden dir unsere Ideen vorstellen. Aber erst einmal wollen wir dir danken, dass du die lange Reise auf dich genommen hast.«
     Zwölffacher Applaus. Ich blicke in die Runde. Freundliche, wohlwollende, erwartungsvolle Gesichter. Alle Hautfarben. Dann fangen sie an zu sprechen. Es geht reihum. Jeder sagt einen Satz und reicht den Stab der Redestaffel weiter. Zusammen klingt es wie ein früher Entwurf des Optimistischen Manifests.
     »Wir glauben an die Zukunft der Menschheit.« - »Wir wollen sie erleben.« - »Nicht nur von ihr träumen.« - »Wir glauben an die Tat.« - »Die Menschen wissen genug über die Probleme der Welt, um sie zu lösen.« - »Der Schlüssel zum Erfolg liegt im Kommenden, nicht im Gewesenen.« - »Der Blick nach hinten lähmt.« - »Wir glauben an den Fortschritt.« - »Pessimismus und Fatalismus sind unsere Feinde.« - »Wir wollen erschaffen, nicht vernichten.« - »Wir glauben an die Gemeinschaft.« - »Gemeinsam können wir alles erreichen.« - »Sind wir mehr, als wir sind.« - »Wir glauben an Transparenz.« - »Was jeden betrifft, soll jeder wissen können.« - »Wir glauben an die Kraft der Utopie.« - »Nichts ist unmöglich bis zum Beweis des Gegenteils.« - »Wir glauben an das Paradies auf Erden als ewiges Ziel.« - »Jede neue Wirklichkeit beruht auf Visio nen.« - »Wir glauben an uns.«
     Wo sich andere, besonders die Intellektuellen seiner Zeit, kopfschüttelnd abwenden würden, weil ihnen der Sinn für jugendliche Leichtigkeit abhandengekommen ist, schwingt Coppki mit im Reigen der Sprüche, die er wörtlich nimmt. Als einer, der nie erwachsen wird, käme er erst gar nicht darauf, nur einen ihrer Punkte als blauäugig oder realitätsfern einzustufen. Vor seinen Augen erscheint ein gemeinsames Gedankenexperiment, das alle Wünsche in sich vereint. Einen Augenblick lang, fast zu kurz, ihn zu begreifen, nimmt er seine Verwandlung wahr als Umschlagen seines inneren Milieus.

Teil 2