Vorgeblättert

Julian Ayesta: Helena oder das Meer des Sommers, Teil 1

06.07.2004.
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Am Strand

Am späten Nachmittag leuchtete der Strand ganz orange in der Sonne, und es gab weiße Wolken und roch nach Kartoffeltortilla.
Und es gab Krebse, die sich in den Klippen versteckten, und wir Kinder hatten die Aufgabe, die Cidreflaschen im feuchten Sand zu vergraben, damit sie nicht warm wurden.
Und alle sagten: "Was für ein wundervoller Abend", und die Liebespaare setzten sich etwas abseits, und wenn langsam die Dunkelheit kam und alles lila und violett wurde, waren sie still und hielten ihre Gesichter dicht aneinander, als beichteten sie.
Das Beste aber war, spät am Nachmittag zu baden, wenn die Sonne sank und groß und immer röter wurde, und das Meer erst grün und dann dunkelgrün wurde, dann blau, indigoblau und schließlich fast schwarz.
Und das Wasser war warm, richtig warm, und es gab Schwärme von kleinen Fischchen, die zwischen rötlichen Algen schwammen.
Und es machte Spaß zu tauchen und die Frauen in die Beine zu zwicken, damit sie schrieen. Und daß uns dann Papa und Onkel Arturo und der Mann von Tante Josefina auf ihre Schultern stellten und uns von dort ins Wasser springen ließen. Und daß zwei Erwachsene sich ein Kind griffen und es in die Luft warfen und sagten: "Der fällt ja wie eine Katze ins Wasser", und daß die Frauen, mit ballonartig aufgeblasenen Hinterteilen, riefen: "Macht keinen Unfug mit den Kindern". Und dann sagten die Männer zu uns: "Kommt, wir jagen ihnen einen Schreck ein", und wir rannten auf Mama, die Tanten und die anderen Damen zu, und die liefen alle schreiend aus dem Wasser und flüchteten über den Strand, bis wir sie fingen und als Gefangene ans Ufer führten, und dort setzten sie sich halb tot vor Angst in den Sand, und Tante Honorina weinte fast und sagte: "Nein, nein, um Gottes willen, Arturin". Und wir Kinder wanden uns vor Lachen, wenn sie "Arturin" sagte, und riefen Onkel Arturo dann noch eine Stunde lang "Arturin", bis wir es müde waren. Aber dann nahmen wir uns alle an den Händen (die Hände der Frauen zitterten) und rannten gemeinsam ins Wasser, um uns hineinzustürzen, nur die Frauen wollten das nicht, sie setzten sich ins seichte Wasser, da wo es kaum drei Zehen bedeckte, und lachten wie die Gluckhennen. Und weil Albertito doof war, machte er den Mund auf und bekam Wasser und Sand hinein, und später kotzte er und hatte immer ein bitteres Brennen im Rachen.
Und es war sehr komisch, wie Tante Josefinas Beine unter Wasser dicker und dünner wurden und weiß und grünlich und eklig wie ein Froschbauch schimmerten.
Und da war ein älteres Mädchen, das gerade erst aus Madrid gekommen war, sehr hübsch, mit sehr großen Augen, sie war braungebrannt und roch nach einem Parfum, von dem man ein komisches Gefühl im Buch bekam.
Und sie hatte eine sehr klare Stimme, ein wenig traurig, und sagte zu uns Kindern: "Mal sehn, wer so mutig ist und mit mir zum Camello schwimmt", aber keiner traute sich, weder Papa noch Onkel Arturo, noch der Mann von Tante Josefina und auch wir nicht, und dann schwamm sie allein zum Camello, einem Felsen, der sehr weit weg war, wo man fast nichts mehr sah, und das tat sie auch bei aufgewühltem Meer und an diesen grauen Tagen, wo man Angst hat, ins Wasser zu gehen. Und sie schwamm mit ihren Armbändern, die zog sie nie ab, und man sah abwechselnd den einen und den anderen Arm herauskommen, der vom Wasser glänzte und von der Sonne, die auf den Armbändern spielte, und mit den Füßen hinterließ sie eine Schaumspur, denn sie kraulte.
Und da war ein glatzköpfiger deutscher Herr in einer weißen Leinenhose, der mit zwei Hunden kam und dessen Haut dunkelrot, fast schwarz war, weil er den ganzen Tag fischend und Zeitung lesend in der Sonne verbrachte, ein weißes Handtuch über den Schultern. Und dann setzten wir uns zum Picknick an den Strand, und für die Kinder gab es Fisch, Tortilla und paniertes Schnitzel, die Reste vom Mittagessen, und zum Nachtisch Orangen, Äpfel, Birnen, Trauben, Pflaumen, Pfirsiche zur Auswahl. Es gab auch Bananen, und es machte Spaß, am einen Ende zu drücken, bis die Frucht herauskam, und das den Erwachsenen zu zeigen, denn alle Männer lachten, keiner wußte warum.
Und die Tortillastücke und die Schnitzel waren voller Sand, und den Mädchen klebten die nassen Haare im Gesicht, und die Augen glänzten, und sie schrieen, während sie zwischen den Hunden herumsprangen, die auch sprangen und bellten und nach den trockenen Algen rannten, die man für sie warf, und später bekamen sie das, was vom Picknick übrig war, und das war eine Menge: Tortilla, paniertes Schnitzel, Fisch, und sie leckten die Ölsardinendosen aus, bis sie wie Spiegel glänzten, und King fraß sogar Obstschalen, als einziger.
Und da die Männer sagten, man dürfe nichts, kein Papier, keinen Abfall, am Strand hinterlassen, "da man den Leuten mit gutem Beispiel vorangehen muß", legten wir die Pappteller und das ölige Papier und die Schalen auf einen Haufen, machten ein Feuer und vergruben dann die Asche und die Dosen, die nicht verbrannt waren, im Sand.
Und dann gingen wir hinter die Felsen, uns umzuziehen. Und dort war der Sand sehr kühl, und es pfiff ein kalter Wind, und uns Kindern klapperten die Zähne, weil es dunkel wurde.
Und danach nahmen alle, außer den Frauen, einen Beutel, und wir gingen heim. Und auf dem Weg sangen wir und pflückten Brombeeren, die noch warm waren.
Und der Rücken fühlte sich klebrig an und brannte, und ein sehr großer Mond ging auf.     
Und die Frösche und die Kröten sangen.
Und es roch nach Thymian.
Später mußten wir an den Kneipen und den Imbißstuben vorbei, wo es voll von Männern war, die Apfelwein tranken, kegelten oder auf Schlüssel warfen.
Und es war schön, die Kugel an die Holzbretter der Kegelbahn stoßen zu hören, oder das Kling des Blechs, wenn es auf den Schlüssel traf.
Und da war ein Mann, der sehr gut sang, und Papa sagte, kommt, wir setzen uns an einen Tisch und ruhen ein bißchen aus, und er bestellte Cidre für alle, auch für die Kinder, und wir spürten beim Trinken ein Prickeln im Bauch.
Und da kamen schon die Sterne.
Und manchmal war ein Stück Meer zu sehen, so dunkel, daß man beim Gedanken, ganz allein darin zu schwimmen, Angst bekam.
Und Papa und Onkel Arturo baten Tante Josefina, das Lied von den drei Zicklein zu singen, und sie wurde ganz rot und sagte, sie könne doch nicht vor all den Leuten singen, und alle lachten.
Und plötzlich kam ein Mann an den Tisch, der nach Wein stank und Papa auf die Schulter schlug und irgendwas zu ihm sagte.
Und Papa sah ihn verstimmt an, zahlte sofort, und wir brachen auf.
Und man hörte die Musik, die auf einem Tanzfest spielte, denn es war Sonntag.
Und als wir in Gijon ankamen, waren wir alle verstummt, als wären wir traurig.
Und die Straßenlichter waren traurig.
Und man sah den Regattaklub am Strand mit all den bunten Lämpchen.
Und auf den Straßen waren viele Menschen, und eine Musikkapelle marschierte spielend vorbei.
Und Automobile mit weißen Reifen fuhren vorüber.
Und die Straßen waren besprengt und glänzend und schwarz.
Und es roch nach heißen Gummireifen und Duftwasser und Meer.
Denn das Prinz-von-Asturien-Rennen fand in Gijon statt.

Teil 2