Vorgeblättert

Kiran Nagarkar: Krishnas Schatten, Teil 2

"Ich komme herein", sagte er und wartete ihre Antwort nicht ab. Nach zehn, fünfzehn Minuten begriff er, dass er sich verlaufen hatte. An jeder Biegung der Höhle zweigte ein Nebengang ab, manchmal sogar drei oder vier. Die Gänge waren schwarz und moderig, in einigen roch es durchdringend nach Fledermausexkrementen. Gelegentlich meinte er, mit der Hand eine Echse zu streifen, dann wieder, haarige Taranteln überall auf seinem Leib zu spüren. Er fragte sich, warum sich seine Augen noch immer nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Mittlerweile hätte er doch etwas erkennen müssen, aber er sah immer weniger. Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer. Wie spät war es? Wie lange war er schon hier? Waren es erst einige Minuten oder schon ein paar Stunden? Er hatte Mangal strikt angewiesen, ihm nicht zu folgen. Wie lange würde es dauern, bis Mangal sich darüber hinwegsetzte? Würde er so viel Verstand haben, ein Licht mitzunehmen? Und würde eine Fackel wirklich etwas nützen? Oder würde ihre Flamme schwarz werden? Würde er den Tod Mangals und aller anderen zu verantworten haben? 
Er bemühte sich, seinen aufgeregten Geist zu beruhigen und den bisherigen Weg zurückzuverfolgen. Er hatte die Höhle von Westen her betreten, war erst nach Süden und dann nach Norden abgebogen, aber weiter konnte er sich nicht mehr erinnern. Er hatte jede Orientierung verloren. Wenn man von Westen kommt und wieder zurückwill, muss man dann nach Osten oder nach Westen gehen? So angestrengt er auch nachdachte, es gelang ihm nicht, die Frage zu beantworten. Vielleicht lösten sich in Bhutani Matas Schwärze alle Richtungen in Nichts auf. Er erinnerte sich an etwas, das er in Geometrie gelernt hatte. Wenn man im Kreis ging, kam man irgendwann wieder da an, wo man losmarschiert war. Er würde nach links gehen und an jeder Kreuzung die linke Abzweigung nehmen. Und dann gab es noch eine weitere Regel: die Schritte zählen.
Er zählte bis siebzehntausend und brach zusammen. Es hatte keinen Sinn. Sein Schicksal lag in Bhutani Matas Händen.
"Sind meine Gefährten in Gefahr? Sind sie mir in die Höhle gefolgt? Mit mir könnt Ihr tun, was Ihr wollt, sie aber dürft Ihr nicht für meine Handlungen büßen lassen."
Eine gusseiserne Hand schlug ihm ins Gesicht. "Erzähl mir nicht, was ich darf oder nicht darf!"
"Ihr seid mir die ganze Zeit gefolgt, nicht wahr?", fragte er, nachdem er sich von dem Schlag erholt hatte.
"Du bist mir gefolgt, oder hast es zumindest versucht."
Acht Hände hoben ihn hoch. Vier stützten ihn, eine berührte sein Gesicht, wie um seine Züge zu ertasten, eine machte sich an seiner Brust und den Schultern zu schaffen, die siebte befühlte sein Glied und die letzte zog ihn an den Haaren. Er spürte, wie eine Zunge ihm das Gesicht leckte, die Hände rissen ihm die Kleider vom Leib und die Zunge berührte Füße und Hals. Wie lang war sie? War es nur eine Zunge oder waren es mehrere? Die Hände setzten ihn auf. 
"Jetzt machst du dir in die Hose, wie?"
Er hörte das Geräusch von Wasser, das über den Rand der Erde stürzte, und das ferne Geschrei unzähliger Gepeinigter. Er sah an den Haaren hochgehaltene abgehackte Köpfe, aus denen noch Blut tropfte. Er sah schwarze Füße auf dem Rücken eines bäuchlings liegenden Dämons trampeln. Er hörte das Schmatzen Blut schlürfender Lippen, er sah den Koitus von Himmel und Erde, er hörte das langsame Stöhnen der Wollust. Auf dem Boden wanden sich abgehackte Gliedmaßen, eine Hand hob ein Bein auf und stopfte es in einen gesichtslosen Mund, der es zu zerkauen begann. Er schlug die Augen auf. Vor ihm lag eine geräumige Höhle mit einer Plattform in der Mitte. Auf dieser saß splitternackt eine zahnlose blinde Vettel.
"Es gibt andere. Warum machst du es nicht mit denen? Du kannst noch einmal heiraten. Ignoriere sie, bis sie stirbt." Dann, nach einer Pause: "Wie wär?s mit mir?"
Sein Körper verkrampfte sich. "Grauenhafte Vorstellung, wie?" Noch während sie sprach, verwandelte sie sich in eine junge Frau. Sie hatte einen prächtigen Körper, ihre vollen Brüste waren in eine kanchuki gezwängt, die Schultern und Arme frei ließ. Sie trug einen Sari, der ihre Formen weich umfloss. Er war mit Goldbändern besetzt, die sich spiralförmig emporwanden, und ein goldenes Gürtelband hing locker unterhalb des Bauchnabels. Sie schüttelte ihr Haar. Es zerschnitt das Licht. Zuerst hörte er das Geräusch. Es durchbohrte das Trommelfell mit einem sirrenden Ton. Sie schleuderte den Kopf im Kreis herum, und ihre Haare zischten über seine Gesichtshaut wie eine Harke mit Millionen nadeldünner Zinken. Ihr Kopf kreiste schneller und schneller. Sein ganzer Körper wurde gegeißelt und seine Haut in so feine Fetzen gerissen, dass jeder für sich unsichtbar war. Er versuchte zu fliehen, aber die langen Haare fauchten weiter und schnitten immer tiefer in sein rotes Fleisch.
"Ist sie besessen, oder bist du von ihr besessen? Wie viele Tage, Wochen, Monate ist es her, dass du einen anderen Gedanken im Kopf gehabt hast als sie? Ich würde sagen, du bist derjenige, der einen Exorzismus brauchen könnte." Sie hielt inne und ließ dem Gedanken Zeit, sich zu setzen. "Wir versuchen ständig, andere Leute zu kurieren, während wir selbst es sind, die die Kur am meisten benötigen. Was sagst du dazu? Du bist hier, es wäre die Sache einer Minute, und du würdest nie wieder an sie denken. Du wärst ein freier Mann." Wieder hielt sie inne. "Wärst du gern ein freier Mann?"
Er wollte ja sagen, jeder Knochen und jede Pore seines Körpers sagte ja, aber er brachte es nicht fertig, das Wort auszusprechen.
"Hatte ich mir gedacht. Wer will schon Freiheit, wenn er immerwährende Sklaverei haben kann?" In der bedeutungsvollen Stille waren nur gepresste Atemzüge zu hören. 
"Wie weit bist du bereit zu gehen?"
Die Frage überraschte ihn. "Geld spielt keine Rolle", zischte er.
"Dein Geld kannst du dir sonst wohin stecken. Was soll ich damit anfangen? Mir eine Halskette machen? Es aufessen? Garn daraus spinnen und meine Titten damit bedecken? Es gibt eine einzige Frage im Leben. Sobald du die Antwort darauf hast, weißt du alles, was du je an Wissen brauchen wirst. Sie lautet: Wie weit genau bist du bereit zu gehen, um das zu erreichen, was du willst?"
"Ziemlich weit, würde ich sagen."
"Geh nach Haus, du Dummkopf. Wenn du die Antwort weißt, werde ich da sein. Aber dann brauchst du mich vielleicht gar nicht mehr."
"Wer ist es? Wie ist der Name ihres Liebhabers?"
"Was spielt das für eine Rolle?"
Er hatte viele weitere Fragen, die er ihr stellen wollte. Das Licht am Ausgang der Höhle blendete ihn.

Mit freundlicher Genehmigung des A1 Verlages

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