Vorgeblättert

Kristof Magnusson: Zuhause. Teil 3

25.07.2005.
Zwei Fische

Das Foto, das vor mehr als zwanzig Jahren den Beginn unserer Freundschaft markierte, entstand auf der Walfangstation am Wal-Fjord. Matilda und ich waren mit meinem Onkel Agust in seinem durchgerosteten Opel Rekord hingefahren, bei dem ich einmal die Fußmatte anhob und direkt auf die Schotterstraße sehen konnte. Dem Wal hatten sie eine Kette um die Schwanzflosse gelegt und ihn auf die Rampe gezogen. Ich hatte mir das Armband meiner Kleinbildkamera um das eine Handgelenk geschlungen und hielt mir mit der anderen Hand die Jacke vor die Nase, gegen den tranigen Gestank aus dem Schornstein. Matilda hatte mit ihrer Kleinbildkamera ein Foto von mir gemacht, wie ich die Männer in Ölzeug fotografierte, die auf dem toten Wal herumliefen. Die Männer schnitten ihm mit Messern, deren Klingen größer waren als ihre gelben Gummistiefel, in Bahnen die fettgepolsterte Haut von den Knochen - rot und weiß wie Zahnpasta. Viele der Erwachsenen sagten damals im Scherz, dass wir wohl später einmal heiraten würden. Matilda und ich dachten das auch.
     Am nächsten Tag hatte ich ein Foto von Matilda gemacht, wie sie im Streichelzoo von Reykjavik einen Nerz fotografierte. In den nächsten Jahren folgten viele weitere Bilder: Matilda auf Mallorca beim Minigolfspielen, ich auf Mallorca, wo mich ein rothaariger Isländer und ein dicker Finne im Pool hin und her warfen, Weihnachtsbilder, Ferienhaus-Trinkbilder, Heiße-Quelle-Trinkbilder, Reykjavik-Trinkbilder, Hamburg-Trinkbilder. Doch die Unbefangenheit der ersten beiden Fotos, dieser kindlich verwackelten Studien über das Verhältnis von Betrachter und betrachtetem Objekt, wurde nie wieder erreicht.
     Die Bilder, die uns gemeinsam zeigten, waren am schlimmsten. Einer von uns hatte immer den Mund aufgerissen, die Augen zugekniffen oder sprach gerade ein Ü. Vielleicht lag es daran, dass wir uns irgendwie ähnlich sahen: irgendwie blond, irgendwie mittelgroß, irgendwie blauäugig. Das war mehr Irgendwie als ein einziges Bild verkraften konnte. Aus diesem Grund begannen wir mit zwölf oder dreizehn, alle Bilder, die uns gemeinsam zeigten, zu vernichten. Es war die Zeit, in der uns langsam klar wurde, dass das mit dem Heiraten wohl doch keine so gute Idee war.
Ein Jahr, nachdem Matilda das Foto von mir gemacht hatte, auf dem ich das Foto von den Männern auf dem toten Wal machte, gingen mein Vater, meine Schwester und ich nach Deutschland. Mein Vater zog einer Deutschen namens Elke hinterher, die er im Sommer im Goethe-Institut von Reykjavik kennen gelernt hatte und die Bibliothekarin in Hamburg war. Damals fehlten in Norddeutschland gerade Tierärzte, und man freute sich geradezu über ihn. So wurde Elke meine zweite Mutter und Tornesch bei Hamburg meine Heimat, in der ich mit neun mein erstes Gewitter erlebte sowie verwundert feststellte, dass es Sandkisten gab, in denen der Sand nicht schwarz war. In der Nähe von Tornesch bei Hamburg kam ich in eine Grundschule aus rotem Backsteinklinker, wo mir eine Praktikantin von der Pädagogischen Hochschule erzählte, dass es bald keine Wale mehr gäbe, wenn Island so weitermachte. Wenig später beobachtete ich diese Praktikantin vor der Eisdiele an der Hamburger Straße mit einer anderen Frau bei dem ersten Zungenkuss, den ich in meinem Leben sah, und kurz danach wurde der Walfang verboten.

Vor dem Fenster der Wohnung, die mein Vater gekauft hatte, damit wir jederzeit auf Island sein konnten, lagen die Walfangboote Hvalur 6, 7, 8 und 9, die seit dem Verbot den Hafen nicht mehr verlassen hatten. Ihre schwarzen Rümpfe waren in der Dunkelheit kaum vom Wasser zu unterscheiden, und an den Masten hingen Körbe für einen Ausguck wie bei Piratenschiffen. Nun rosteten sie schon seit fast fünfzehn Jahren auf ihren Liegeplätzen vor sich hin, während gegenüber ein Schiff mit Panoramafenstern für Walbeobachtungen an- und ablegte.
     Vor den Walfängern stand der Trawler Tryggvi Jonsson im Trockendock und wurde blau gestrichen. Zwischen den Lagerschuppen und dem Betongebäude, in dem sich das Restaurant Zwei Fische befand, wirkte das Schiff deplaziert, wie von einer Flutwelle abgeworfen. Die Ampel dort, wo die Straße zur Mole auf die Hauptstraße traf, wurde grün, und ich wunderte mich einen Moment lang, warum der Trawler Tryggvi Jonsson nicht losfuhr. Während der letzten Zigarette waren drei Autos vorbeigefahren; es war zu spät für den Abend- und zu früh für den Nachtverkehr. Ich sah, wie ein Cabrio in den grauen Matsch am Straßenrand fuhr und noch einige Meter rutschte, bevor es zum Stehen kam. Matilda stieg so schwungvoll aus, als hätte sie noch den Impuls der beschwingten Autofahrt in sich, und stolperte direkt in meinen Hauseingang.

"Das ist wieder so eine Larus-Idee!", sagte Matilda kurze Zeit später, während sie an der Plastiklasche des Dreiliter-Weißweinzapfkartons aus dem staatlichen Alkoholladen herumzog, bis ein müdes Rinnsal ihr Glas füllte. Dann setzte sie sich in den Sessel, den ich eigens dafür gekauft hatte, damit sie darin sitzen konnte, links neben mir und meinem dunkelblauen Sofa.
     "Wie meinst du das?"
     "Na ja, absurd eben."
     "Was ist daran so absurd, dass ich für das Fernsehen arbeite?", fragte ich.
     Matilda leerte ihr Weinglas in einem Zug und warf mir einen Kuss zu.
     "Die haben halt einen meiner Filme gekauft", sagte ich.
     "Du willst also Tierfilmer bleiben?"
     "Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich kein Tierfilmer bin." Ich hatte ihr das wirklich schon oft erklärt, aber sie wollte es immer wieder hören.
     "Du filmst doch Tiere."
     "Ja. Vögel."
     "Dann bist du ein Tierfilmer."
     "Tierfilmer sind die, die sich wochenlang einen Busch auf den Kopf setzen und hoffen, irgendwelche Kolibris bei der Paarung zu erwischen. Ich filme Vögel in Städten. Urbane Vögel."
     Sie guckte, als hätte sie das lustigste Lied ihrer Lieblings-CD auf repeat gestellt.
     "Und davon hat mir jetzt das norwegische Fernsehen einen abgekauft. Meditativen Realismus nennen die das."
     "Dokumental-Film", sagte Matilda amüsiert, und ich musste lächeln. Sie konnte mir schon immer gut den Wind aus den Segeln nehmen. Das hatte sie von ihrem Vater. Der war beim Straßenbauamt von Reykjavik für die Geschwindigkeitsbegrenzungen zuständig, setzte Eisenrohre in den Asphalt und ließ Betonschwellen vor Kindergärten sowie Blindenheimen gießen. Er war auf einem Bauernhof am Ende einer langen holprigen Schotterpiste im Südland groß geworden, und problemlos befahrbare Straßen schienen ihm noch immer suspekt zu sein.
     "So meine ich das gar nicht", sagte sie dann - ich musste sie enttäuschter angesehen haben, als mir bewusst war.
     "Was hast du eigentlich für ein Video ausgeliehen?"
     "Ja, also, sie wollten mir keins ausleihen."
     "Warum nicht?"
     "Weil ich im Einwohnerverzeichnis als tot eingetragen bin."
     "Was?"
     "Ja. Tot."
     Matilda lachte.
     "Ich bin tot, und du lachst."
     "Das ist halt irgendein blöder Computerfehler", sagte sie.      "Du nimmst das doch nicht ernst, oder?" Sie zuckte mit den Achseln.
     "Nein", sagte ich, "natürlich nicht."
     "Doch", sagte sie. "Du nimmst das ernst." Und lachte wieder.
     "Warum sollte ich?"
     "Dann ist ja gut. Übrigens, ich habe gekündigt."
     "Was?"
     "Ich will keine Journalisten mehr durch Island führen. Ich möchte ein Restaurant aufmachen."
     "Du?"
     "Ja."
     "Du in der Küche? Ich kenne Leute, die mehr Kinder bei sich zu Hause zur Welt gebracht haben, als du dir dort Mahlzeiten gekocht hast."
     "Es wird nur Suppen geben."
     "Suppen."
     "Schnell, einfach und gesund. Die Leute wollen das."
     "Und warum willst du das?"
     "Weil es was ganz Einfaches ist."
     "Seit wann willst du es denn einfach?"
     "Weißt du ?" Sie stand auf und zapfte uns neuen Wein, als habe sie der Mut verlassen, weiterzureden. Ich sah zu, wie sie erst ihr, dann mein Glas so weit füllte, bis sie fast überliefen. Und schwieg. Nachdem sie, unsere Weingläser unter mehrmaligem Abtrinken balancierend, wieder in ihrem Sessel angekommen war, blieb ihr nichts anderes übrig, als das Gespräch dort wieder aufzunehmen, wo sie es hatte abbrechen lassen.
     "? vielleicht habe ich mich nicht genug auf Svend eingelassen." Es war einer von diesen stillen, triumphalen Momenten, in denen ich gern die Fähigkeit besessen hätte, nur die linke Augenbraue heben zu können.
     "Vielleicht kann ich mich nicht auf andere Menschen einlassen."
     "Was sollen denn da die Suppen helfen?"
     "Vielleicht einfach mal was anderes machen. Was Einfaches." 'Einfach' und 'vielleicht' waren Worte, die normalerweise nicht zu Matildas Wortschatz gehörten. Alles war für sie immer klar. Und nichts einfach.
     "Ich habe Angst davor, dass das eine Trennung wird, nach der alles so weiter geht wie bisher. Vielleicht sollte man nach jeder Trennung Dinge an sich verändern. Mehr darauf hören, was man wirklich will."
     "Aber Suppen?"
     "Genauso wenig wie es in deinen Vögel-Filmen um die Vögel geht, geht es bei mir um die Suppen. Es geht um die Menschen. Ich möchte ein Restaurant. Mit richtigen Gästen. Für die ich kochen und zu denen ich nett sein kann."
     "Du kannst doch auch zu deinen Journalisten nett sein."
     "Da bin ich nur abstrakt nett. Schreibe E-Mails, telefoniere, fahre irgendwohin, erzähle immer dieselben Geysir-Geschichten und gebe mit der hohen Internetanschlussdichte unseres Volkes an. Ich trinke seit Jahren im Schnitt zweimal die Woche Schwarzer Tod in der Blauen Lagune, das kann doch so nicht weiter gehen! Immer, wenn ein Artikel erscheint, denke ich, das hätten die ohne mich genauso schreiben können. In meinem Restaurant wäre das anders. Die Leute kommen hungrig, und wenn sie gehen, haben sie eine Suppe gegessen. Eine von meinen Suppen. Die es ohne mich nicht gegeben hätte."
     Ich verstand sie überhaupt nicht, und genau dadurch fing ich an zu verstehen: Sie wollte wirklich alles anders machen. Matilda schwieg und sagte dann fast hektisch:
     "Ich glaube, man verliert die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen, wenn man so lange alleine wohnt."
     Nun war ich es, der sein Weinglas in einem Zug leerte. In Matildas Stimme lag etwas Hoffnungsloses, das ich von ihr nicht kannte, und dass sie in diesem Ton ausgerechnet vom Alleinewohnen sprach, erschreckte mich. Als wir uns als Jugendliche unser erwachsenes Leben vorstellten, hatten wir uns ausgemalt, wie schön es sein würde, endlich unsere eigenen Wohnungen zu haben, jeder für sich. Sobald wie möglich machten wir diesen Traum wahr, Matilda im achten Stock am Laugar-Tal und ich in Hamburg in einem seine Renovierung erwartenden Vorkriegsklinkerbau auf der Veddel, einer Insel, die weder zum Nord- noch zum Südufer der Elbe gehört. Die erhebende und gleichzeitig verunsichernde Freiheit genossen wir wie einen Rausch, der auch nach den Jahren und den mit ihnen verbundenen Geschichten weiter wirkte. Doch etwas in ihrer Stimme ließ mich an eine Abmachung denken, die wir vor vielen Jahren trafen und die ich inzwischen fast vergessen hatte: Bevor wir beginnen würden, uns selbst Botschaften auf den beschlagenen Badezimmerspiegel zu schreiben und uns nachmittags beim Bäcker über den Klang der eigenen Stimme zu wundern, würden wir zusammenziehen. Sie und auch ich konnten jederzeit den anderen darum bitten, wenn wir es allein nicht mehr aushielten. Ich hatte nie daran gedacht, dieses Versprechen einzulösen, und es mit vielen anderen Gin-Launen in einer schwer zugänglichen Region meines Gedächtnisses abgelegt. Nun hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass sie daran dachte. Ich sah mich in meiner Wohnung um. Das einzige wirkliche Möbelstück war das blaue Sofa, auf dem ich saß. Von ihm aus betrachtete ich den Deckenfluter an der gegenüber liegenden Wand, den Glastisch mit meinem Obststillleben und Matilda in ihrem Sessel. Plötzlich stand dieses dumme Versprechen, wenn schon nicht zwischen uns, so doch zumindest hier im Raum, mitten in meinem Wohnzimmer.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Antje Kunstmann

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