Vorgeblättert

Lawrence Weiner: Gefragt und gesagt. Teil 2

29.11.2004.
Ein Gespräch mit Judith Hoffberg über Bücher


JH: Was ist seit den sechziger Jahren aus den Künstlerbüchern geworden?

LW: "Künstlerbuch" ist das falsche Wort. Ich weiß nicht, was ein Künstlerbuch ist; ein Buch ist eine schlüssige Frage. Lesen ist eine Echtzeit-Erfahrung; Sehen ist eine Echtzeit-Erfahrung.
Bücher von Künstlern haben die Form eines Buchs, aber Künstlern wurde und wird nicht zugestanden, daß sie etwas zu sagen haben, das genauso aussieht wie andere Bücher. Schau dir die zwanziger Jahre an oder das späte 19. Jahrhundert. Leute, die als Künstler ihr Geld verdienten, veröffentlichten auch Bücher - das ist nicht dermaßen merkwürdig. Ich weiß nicht, wie wir jetzt vom späten 19. Jahrhundert zur Kunst des 20. Jahrhunderts kommen, denn dein Hauptinteresse ist ja die Kunst des späten 20. Jahrhunderts. Es war in dieser Zeit nichts ungewöhnliches, denn es war ja schon seit Jahrzehnten gemacht worden: Das Medium Buch existierte schon.

JH: Das Medium existierte, aber die Technologie machte es den Künstlern einfacher, ein Buch zu machen.

LW: Das klingt wie bei einer Podiumsdiskussion von Printed Matter vor ein paar Jahren, an der ich teilnahm und wo ein ähnlicher Standpunkt vertreten wurde,* denn selbst bei dem damaligen Stand der Technik konnte jeder Künstler, der ein Buch veröffentlichen wollte und etwas zu sagen hatte, für ein paar Monate auf ein warmes Mittagessen verzichten und es dann einfach selbst herausbringen. Kathy Acker hat damals diese ganze Situation für sich genutzt, und viele andere Autorinnen und Autoren auch.
Und vergiß nicht, ich komme aus einer Generation, die Ende der fünfziger Jahre nach Kalifornien kam. Da gab es den Discovery Bookshop und andere Läden, City Lights und so weiter, die Lyrik verkauften und absolut nichts mit Künstlern zu tun hatten, aber sie brauchten die Künstler, weil die das technische Know-how hatten, die Dinge herzustellen. Gestern wußte ich, wie man ein Buch macht. Aber wie man heute ein Buch macht, weiß ich nicht. Es hängt vom Inhalt ab. Und die Form folgt nicht mehr der Funktion, sonst würde ich wissen, wie man heute ein Buch macht. "Form follows function" ist ein Hauptproblem unserer Generation. Es gab eine Zeit, da klang das gut, aber es bedeutet, daß jemand versteht, wie die Welt funktioniert. Und ich dachte, daß es in der Kunst nicht darum geht, zu verstehen, wie die Welt funktioniert oder wie ein Buch funktioniert, denn ein Buch ist eine schlüssige Frage. Und es ist anders als ein Film. Man kann nicht woanders hinschauen und nur auf den Soundtrack hören und auf diese Weise weiterlesen. Und sogar Stummfilme haben Ton, weil man das Geräusch des Projektors hört. Das sollten wir von Künstlern wie Robert Morris und Bruce Naumann gelernt haben, bei denen das keine überraschende Einsicht war, sondern eine erklärte Tatsache. Nur daß niemand bemerken wollte, daß es eine Tatsache war.

Das ist, wo Bücher uns hinführen. Das ist, wo für mich das Problem liegt. Ich habe mich für Bücher entschieden, weil ich überzeugt war, daß sie herüberkommen würden. Wenn jemand meine Bücher findet, findet man darin kein Vorwort und keine Erklärung. Kataloge sind anders, die meisten meiner Kataloge haben kein Vorwort und keine Erklärung. Ich meine, wenn man unterwegs ist und ein Buch da läßt, weil man gerade kein Geld für das Zimmermädchen hat, ist es ziemlich wahrscheinlich, daß das Buch weitergegeben wird - das ist mir im Laufe der Jahre schon passiert.

JH: Es ist wie bei Kinderbüchern: kein Vorwort, kein Register, und sie verstehen es einfach durch den Rhythmus des Umblätterns.

LW: Wir sind gerade jetzt mit einer massiven Kultur konfrontiert, die einer anderen massiven Kultur gegenübersteht. Die eine Kultur glaubt, daß das, was in einem Buch steht, immer richtig ist, und die andere Kultur glaubt, daß ein Buch ein Teil der Diskussion ist. So einfach ist das. Und wenn ich sage: "eine massive Kultur", meine ich nicht nur den Islam, sondern auch fundamentalistische Deutungen der Bibel. Ich sehe das Buch nicht als ein fait accompli. Ich sehe das Buch als eine Fragestruktur.
Bücher zu machen ist etwas Wichtiges. Mein erstes Buch, das von einem Verleger veröffentlicht wurde, war STATEMENTS (1968), aber vorher hatte ich schon fotokopierte Blätter gemacht. Ich klebte die Blätter in den Straßen an Hauswände oder verteilte sie in Cafes. Und irgendwie sind sie in die Kultur eingegangen. Das ist das Schöne an einem Buch: Es drängt nichts auf, es präsentiert nur etwas. Wenn es brauchbar ist, wird es von den Leuten an andere weitergeben. Wenn es zu nichts brauchbar ist, landet es auf dem Boden des Schneideraums - bis Künstlerbücher institutionalisiert wurden, und jetzt werden sie oft in eine Schutzhülle eingepackt und in ein Regal gestellt. Ich sah eines der Bücher, die ich mit Edward (Ruscha) gemacht habe, HARD LIGHT (1978). Jemand sagte mir, daß er es zu verschiedenen Preisen bei Ebay gesehen hatte, und Edward fand irgendwo ein paar solche Fälle. Ich erinnere mich noch, wie ich sie an Pierogi in Brooklyn geschickt und für 25 Dollar das Stück verkauft habe, und gleichzeitig gingen sie bei Ebay zu lächerlichen Preisen. Aber das ist okay, das ist nicht mein Problem.

JH: Das Wichtigste war wahrscheinlich, die Bücher überhaupt zu machen?

LW: Nein. Das Wichtigste war, ehrlich gesagt, es hinzukriegen, daß jemand sie liest. Ansonsten hätte ich es genausogut sein lassen können. Heute veröffentliche ich meine Bücher alleine oder mit Moved Pictures. Ein anderes Buch wird bald bei Printed Matter herauskommen. Und im November erscheint ein neues Buch in Paris bei Flammarion, TROIS PETITS CANARDS / UNE EAU DE VIE, darin geht es um Gespräche mit dem Dichter Luc Vezin über die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen Kultur. Manchmal gab es technische Probleme. Für das dänische Buch, HAVING WAVED**, mußten Schrifttypen aus Island, Finnland und so weiter herangeschafft werden - das war noch in der Vor- Computer-Zeit.

JH: Okay, dieses Problem hat die Technologie heute gelöst.

LW: Die Technologie hat enorm viel erleichtert - das Problem ist aber, daß sie eine Unmenge an Büchern ermöglicht hat. Weil die Technologie so einfach ist, daß die meisten Bücher, die man heute sieht, die Voreinstellungen von irgendeinem Computerprogramm beibehalten, das jemand benutzt hat - und das ist eine unmittelbare Institutionalisierung. Nichts gegen die vorprogrammierten Einstellungen, aber wenn man einen Unterschied zwischen sogenannten Künstlerbüchern und sogenannten Standard-Verlagsbüchern machen will, sollte es der sein, daß man von dem abweicht, was einem vorgeschrieben wird. Die Chicagoer Grammatikregeln*** sind sehr interessant zu lernen, aber katastrophal, wenn jemand sie anwendet, denn sie stehen für moralische Werte, die heute keine Gültigkeit mehr haben. Und wenn wir die akzeptieren, mißachten wir die Würde dessen, worüber wir schreiben oder das wir präsentieren. Es läuft darauf hinaus, zu sagen, wenn jemand erwachsen ist, werden wir ihn ernst nehmen. Und wenn jemand nicht erwachsen ist, nehmen wir ihn nicht ernst.

JH: Als du jünger warst, bist du mehr gereist als die meisten anderen Künstler. Hattest du nicht in Europa mehr Erfolg als in den Vereinigten Staaten?
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* Symposium "Artists' Books and Publications", 155 Mercer Street, New York, 18. November 1989, gesponsert von Printed Matter, Inc. und der Dia Art Foundation. Für eine Transkription von Weiners Beitrag siehe: "Books Do Furnish a Room. Lawrence Weiner on Artists' Books", in: Umbrella (Glendale, Kalif.), Jg. 13, Nr. 1, Juni 1990, S. 3.
I-89 Umbrella (Santa Monica), Mai 2003. Das Interview wurde im Oktober 2002 geführt.

** Weiner bezieht sich auf sein Buch RELATIVE TO HANGING (Ringkobing: Edition After Hand, 1975), das fünf Arbeiten enthält, in denen "HAVING WAVED" vorkommt; siehe Abb. S. 154-155 im vorliegenden Band.

*** Weiner bezieht sich auf den Chicago Manual of Style, der erstmals 1906 von der University of Chicago Press herausgegeben wurde und seitdem in vielen erweiterten und revidierten Ausgaben erschien, zuletzt 2003 (15. Aufl.)

Teil 3
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