Vorgeblättert

Leseprobe zu Abdellah Taïa: Der Tag des Königs. Teil 2

15.03.2012.
ES WAR GERADE ERST neun Uhr morgens. Bei Bouhaydoura hatte sich eine beeindruckende Menschenmenge versammelt. Nur Frauen.
Auf dem Weg zum Hexenmeister wollte ich einen Moment lang meinen Vater in meinen Traum vom Vortag einweihen. Und gleich verzichtete ich wieder darauf. Mein Vater war mit den Gedanken woanders. Er wäre unfähig gewesen, mir zuzuhören. Dieser Traum war wichtig für mich. Für mich und meinen Freund Khalid, dem ich ihn sicher erzählen würde. Nicht für meinen Vater. An diesem Mittwochmorgen versuchte mein Vater, seine Haut zu retten. Seine Vergangenheit. Seine Herkunft. Seine Männlichkeit.
An diesem Morgen war ich mit meinem Vater zusammen. Ich begleitete ihn. Er konnte nicht allein hingehen. Er war das Kind. Ich war der Erwachsene.
Bouhaydoura war der Richter. Sein Haus ein Gerichtshof. Rings um ihn eine Atmosphäre des Weltuntergangs. Unsere Angst war gleich zu Beginn groß und wurde plötzlich greifbar, augenscheinlich. Sie hatte einen Geruch. Einen Atem. Grundfarben. Schwarz. Weiß. Grün. Sie war ein Bild. Sie war verkörpert. Gott unter uns, ein Mensch. Bouhaydoura war dieser Mensch. Er war Gott. Mittwochmorgen, es war wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Wir hatten alle Angst. Das Paradies. Die Hölle.
Kein Fegefeuer. Doch niemand weinte.Wir warteten. Verängstigt, entschlossen, gespannt.
Bouhaydoura war zurück.
Die vier Jahre, die er im Gefängnis zugebracht hatte, hatten seinem Ruf nicht im Geringsten geschadet. Seine Macht, seine Zauberkraft, seine Heiligkeit, das, was von seinen Ahnen auf ihn übergegangen war, stammten aus weit zurückliegenden Zeiten. Bouhaydoura setzte etwas fort, was in der Frühzeit der Menschheit erfunden worden war. Ein Guru, ein Meister, ein Prophet. Die Zauberkunst der Ursprünge. Das Gute und das Böse, bevor sie geschieden, bevor sie klassifiziert und entsprechend verbreitet worden waren, voneinander abgespalten, überall. Bouhaydoura war berufen. Wir taten nichts anderes, als seine Mission zu erfüllen. Wir waren seine Anbeter.
Er empfing in seinem Haus im Tabriquet-Viertel. Genauer gesagt, auf der Terrasse. Dort, inmitten der trocknenden Wäsche, warteten die treuen, die glücklichen und unglücklichen Frauen, bis sie an die Reihe kamen. Alte, junge. In Weiß. Alle oder so gut wie alle in Weiß. Sie waren also in Trauer. Um wen trauerten sie? Um wie viele Tote? Und was bedeuteten ihnen diese Toten?
Es war eine eigenartige Atmosphäre. Lastend. Diese Frauen hatten gerötete Augen. Vor Wut gerötet. Sie saßen auf
dem Boden. Sie sprachen nicht.
Starke Ergriffenheit packte uns, meinen Vater und mich, kaum dass wir diese befremdliche Terrasse betreten hatten. Diese Frauen, die den Tod in der Seele trugen, waren trauriger und verzweifelter als wir. Sie hatten größeres Unglück erlebt, ihre Verlassenheit war endgültig. Hier, auf dieser Welt, hatten sie keinen Platz mehr. Sie mussten nun bei null, wieder ganz von vorne anfangen. Bouhaydoura sollte ihnen dabei helfen. Er war ihr Befreier. Ihr Mann. Ihr Prophet.
Eingeschüchtert hielten wir uns etwas abseits und wagten nicht, sie anzublicken. Wir spürten die auf uns gerichteten Blicke der Frauen, verwundert, unnachsichtig, fragend.
Die Welt hatte sich von Grund auf verändert. Heutzutage gingen sogar Männer zu Hexenmeistern. Sogar Männer beanspruchten Beistand durch Magie. Jetzt war alles aus. Die Männer trugen keine Masken mehr. Sie waren nun auch naiv, schwach, unten. Am Boden.
Bouhaydoura war der Retter. Der Messias.Wir waren alle da,um unsere Verehrung zu bezeugen. Hingebung zu beweisen. Zu lieben.
Bouhaydoura, in den Augen des Gesetzes ein Verbrecher, weil er einer Frau unabsichtlich dabei geholfen hatte, ihren Mann zu töten,war unser Oberhaupt. Der Auserkorene. Ein Heiliger zu Lebzeiten. Das Licht in der Dunkelheit meines Vaters.
Bouhaydoura sollte mir dabei helfen, meinen Vater reinzuwaschen. Er sollte ihn läutern. Seine nie versiegenden Tränen trocknen. Ihm helfen, seine Liebe wieder zu finden. Seine Frau, meine Mutter. Meinen kleinen Bruder.
Er sollte für uns die Welt neu erschaffen.
Aber wollte ich das wirklich? Die Rückkehr meiner Mutter?
Ich war mit meinem Vater zum Hexenmeister von Tabriquet gekommen, doch ich war noch von Zweifeln erfüllt.
Von Hass. Von Gewaltsamkeit.
Wir setzten uns in eine Ecke der Terrasse. Die Frauen sahen uns noch immer an. Mein Vater hielt seinen Blick gesenkt. Ich nicht. Ich kehrte den Frauen den Rücken zu und tauchte meinen Blick in die Aussicht, die sich mir bot. Meine Stadt, Salé, ihre Viertel, ihre Häuser, ihre sich bis an den Rand des Horizonts ausdehnenden Dächer, ihre Minarette, ihre Heiligenmausoleen, die Altstadt, die Stadt der Korsaren des 17. Jahrhunderts. Die Befestigungsmauern. Die Gefängnisse. Der unendlich große Friedhof und seine Gräber aus längst vergangenen Zeiten. Und das Meer, ein Ungeheuer, ein Feind: der Atlantische Ozean. In der morgendlichen Wärme dieses Sommers lauschte ich der Stille der Welt. Und am Himmel suchte ich nach Wolken: Da waren keine. Nicht mehr.
Ich träumte. Ich schwebte. Ich malte mir alles aus und sah alles von meiner Stadt an jenem Morgen. Ich wurde zum Schriftsteller, ja, zum Dichter.
Hoch über der Welt schrieb ich ein anderes Schicksal für mich. Mit meinem Freund Khalid.
Ich suchte das reiche Viertel, in dem er wohnte, mein Freund und Bruder Khalid. Es hieß Hay Salam. Dort befand sich auch unser Collège.
Hay Salam hat zwei Teile. Den armen, am Fuße des Hügels. Und den reichen, oben. Das Haus von Khalid in der Nähe des Collège war wahrscheinlich das höchste auf dem Hügel. Es war kein Haus: Es war eine Villa. Groß. Prachtvoll. Wie alle anderen in diesem Teil von Hay Salam. In meinem Viertel, Bettana, nannte man sie Paläste. Man kannte sie nur von außen. Als ich jünger war, schlenderte ich regelmäßig mit meinen damaligen Kumpeln durch die ausgestorbenen Straßen, auf der Suche nach einem Schatz, auf der Jagd nach einem verschwommenen Traum. Und kurz bevor wir wieder in unser Gebiet zurückkehrten, kletterten wir über die Mauern einer Villa und stahlen Obst. Besonders mochte ich die gestohlenen Feigen in einer Villa, die ein pensionierter Minister be- wohnte. Er wohnte allein dort. Er war blind.
In dieser sauberen Welt kannte ich nun eine Villa. Die von Khalid. Sie hatte einen Namen. Villa du Nord. Der Norden wovon?
Khalid war jetzt gerade dort. Er schlief bestimmt noch.

Sein Zimmer war manchmal mein Zimmer. Das sagte er, um mir eine Freude zu machen.
Ich suchte die Villa von Khalid in Salé. Ich suchte sein Zimmer. Seinen Atem. Seinen Körper. Die Richtung seiner Träume. Ich fand sie. Ich folgte ihnen.
Ich betrat die Villa von Khalid. Köstliche Düfte, die ich unschwer erkannte, erfüllten das Erdgeschoss: schwarzer Kaffee, zu stark gesüßter Pfefferminztee, Marmelade, Honig, Hörnchen, Schokobrötchen, kleine marokkanische Pfannkuchen. Ich ging in den ersten Stock hinauf. Ohne anzuklopfen, betrat ich Khalids Zimmer. Seine kleine Schreibtischlampe brannte wie immer. Khalid schlief tief und fest. Auf dem Bauch. Sein Bett war klein. Aber nicht zu klein. Ein grünes Bett. Während ich die Schuhe auszog, redete Khalid im Schlaf: "Ja, ja, ich war es . . . Nein, nein, ich war's nicht … Ich schwöre es … Ja, ja … " Ich knipste die Lampe aus und legte mich zu ihm in das kleine grüne Bett. Ohne ihn aufzuwecken. Er war es gewohnt. Von mir.
Von meinem Körper. Von uns. Zu zweit. Eins.
Ich schloss die Augen. Ich träumte. Ich war bei Khalid. Ich schlief mit meiner Straßenkleidung in seinem Bett. Allein In seinem Bett. Dann neben ihm. Aus der weitesten Ferne meines Schlafs redete nun aber ich: "Nein, nein, ich war es nicht … Ja, ja, ich war es … Ich … ehrlich … ehrlich."

Eine Frau packte mich plötzlich an der linken Hand. Ich ließ Salé im Stich. Ich wandte mich ihr zu. Ich glaubte eine Sekunde lang, sie wäre meine Mutter. Aber natürlich war sie es nicht. Diejenige, die ihre Hand in meine gelegt hatte, war jünger. Ein junges Mädchen am Ende seiner Jugendjahre. Und bereits Witwe. Bereits eins mit dem Tod. Ihre Hand, die mit dem Tod eins war, berührte die meinige. Dieser Gedanke erschreckte mich. Und so zog ich sie heftig zurück. Ich rang nach Luft, als hätte ich einen zehn Kilometer langen Dauerlauf hinter mir. Die junge Frau begriff. Sie neigte sich mir zu und sagte sanft: "Keine Bange, keine Bange.Wir wollen euch beiden, deinem Vater und dir, nur etwas vorschlagen.Aber ich traue mich nicht, deinen Vater anzusprechen. Er wirkt so abwesend. Komm du, komm . . ."
Ich blickte ihr direkt in die Augen, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich ihr nicht folgen würde.
Meine Mutter hatte mich vor ihrem Fortgehen vor fremden Frauen gewarnt: "Sie könnten dich benutzen,um andere Frauen mit einem Fluch zu belegen. Halte dich unbedingt immer fern von fremden Frauen." Ich verstand nicht, wie das hätte gehen sollen, wie meine bloße Gegen- wart einer Frau, die andere Personen mit ihrer Hexenkunst bekriegte, hätte helfen sollen. Ich war neugierig geworden und wollte der Unbekannten schon folgen, um das Geheimnis zu lüften, doch die Stimme meiner Mutter kehrte wieder, um mich daran zu hindern.
Etwas in meinen Augen hatte mich wohl verraten. Die junge Frau legte die Hand auf meinen Arm und zog mich in Richtung Treppenhaus. Und dort hob sie wütend zu einer langen Rede an. Sie hatte all meine Befürchtungen in meinen Gedanken gelesen.
"Ich bin keine böse Hexe. Verstehst du? Sieh mich nicht so an, als wäre ich eine Verbrecherin, eine Verrückte. Ich bin zu Bouhaydoura gekommen, um eine Ungerechtigkeit wiedergutzumachen. Um endlich Gottes Gerechtigkeit auf meiner Seite zu haben. Ich werde niemandem etwas Böses tun. Und dir schon gar nicht. Du bist wie der Sohn, den ich nie haben werde. Du bist noch rein. Aber pfiffig siehst du auch aus. Also, hör zu, was ich dir jetzt sagen will. Die anderen Frauen und ich werden lange mit Bouhaydoura zu tun haben. Vielleicht dauert es sogar den ganzen Tag, bis ihr an die Reihe kommt. Alle, absolut alle von uns werden vorgelassen werden.Wir werden ihm ge- genüberstehen und ihn umringen. Wir sind in derselben Angelegenheit da. Aber er muss uns alle anhören, eine nach der anderen.Wir haben alle dieselbe Schmach erlitten. Denselben Schmerz. Nur Bouhaydoura kann uns helfen, uns Aufschluss geben. Uns heilen. Uns Erleichterung bringen.Uns rächen. Dir und deinem Vater lassen wir den Vortritt. Vor uns. Hast du verstanden? Sieh mich nicht so an! Hast du verstanden? Ich bin kein Engel. Nicht mehr. Aber du hast von mir nichts zu befürchten. Du hast mir ja nichts getan. Hast du verstanden? Rede . . . Bist du stumm? Hast du Durst?"
Ich nickte, um zu zeigen, dass ich sie verstanden hatte. "Sag es jetzt deinem Vater, geh. Scheich Bouhaydoura wird jeden Augenblick eintreffen. Heute findet seine große Rückkehr statt. Er hat uns allen sehr gefehlt, uns, seinen Getreuen.Wir sind ihn regelmäßig im Gefängnis besuchen gegangen, doch jedes Mal weigerte man sich, ihn zu holen.Wir seien ja nicht seine Familie, hieß es. Die anderen haben nicht die geringste Ahnung. Ohne Bouhaydoura stand unser Leben still. Heute ist ein großer Tag. Er wird wieder unter uns sein. Und für uns da. Für seine Frauen. Geh nun, geh. Wiederhole deinem Vater alles, was ich dir gesagt habe. Keine Angst, ich bin auf deiner Seite.Wirklich. Geh."
Ich rührte mich nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst. Sie stand ganz dicht neben mir. Sie war nicht mehr dieselbe junge Frau, die mich angesprochen hatte. Je länger sie sprach, desto verschiedener wurde sie von der Frau, die sie gewesen war.Mit einer anderen Stimme.Einem anderen Alter. Sie presste sich an mich. Ich roch ihren Geruch.
Ich erkannte diesen Geruch. Jetzt gab es nur Eines: fliehen.
Es war der Geruch des Todes.

zu Teil 3

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