Vorgeblättert

Leseprobe zu Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Teil 3

01.02.2007.
Der Vorrang der Vernunft

Die eigentliche Frage wurde vor langer Zeit mit großer Klarheit formuliert, und zwar um 1590 vom indischen Kaiser Akbar in seinen Bemerkungen über Vernunft und Glaube. Akbar, der Großmogul, wurde als Muslim geboren und starb als Muslim, aber er bestand darauf, daß der Glaube keinen Vorrang vor der Vernunft haben dürfe, weil man seinen überkommenen Glauben durch Vernunft rechtfertigen und notfalls verwerfen müsse. Von Traditionalisten angegriffen, die sich für den angeborenen Glauben aussprachen, erklärte Akbar seinem Freund und getreuen Statthalter (der ein ausgezeichneter Kenner des Sanskrit wie des Arabischen und Persischen war und sich in verschiedenen Religionen, darunter auch dem Hinduismus und dem Islam, hervorragend auskannte):

Das Streben der Vernunft und die Ablehnung des Traditionalismus liegen so offenkundig auf der Hand, daß es keiner Begründung bedarf. Hätte der Traditionalismus recht, wären die Propheten lediglich ihren eigenen Vorgängern gefolgt (und hätten keine neuen Botschaften gebracht).

Nur die Vernunft konnte entscheiden, denn auch wenn man die Vernunft anfechten wollte, müßte man vernünftige Gründe anführen.

     Akbar war überzeugt, daß er sich um die verschiedenen Religionen im multikulturellen Indien ernsthaft kümmern müsse, und organisierte deshalb regelmäßige Dialoge, an denen, wie schon erwähnt, nicht nur Vertreter der im Indien des 16. Jahrhunderts maßgebenden Religionen, des Islam und des Hinduismus, sondern auch Christen, Juden, Parsen, Dschainas und sogar Anhänger des "Carvaka" teilnahmen, einer atheistischen Denkrichtung, die vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert an seit über zweitausend Jahren erfolgreich gewirkt hatte.

     Akbar nahm zum Glauben keine Alles-oder-nichts-Haltung ein, sondern setzte sich gern mit einzelnen Elementen der facettenreichen Religionen auseinander. So bewahrte er sich im Gespräch mit den Dschainas seine Skepsis gegenüber ihren Ritualen, ließ sich aber von ihren Argumenten für den Vegetarismus überzeugen und mißbilligte am Ende jeglichen Fleischverzehr. So sehr das alles auch diejenigen irritierte, die die religiöse Überzeugung lieber auf den Glauben als auf Vernunftargumente gründeten, hielt er doch fest am "Weg der Vernunft" (rahi aql), wie er ihn nannte, und betonte die Notwendigkeit des offenen Dialogs und der freien Wahl. Akbar erklärte überdies, seine islamischen religiösen Überzeugungen seien nicht "blindem Glauben" oder dem "Sumpfboden der Tradition" entsprungen, sondern eigener Überlegung und Entscheidung.

     Da ist ferner die (für Großbritannien besonders relevante) Frage, welche Haltung denn die nicht-eingewanderten Gemeinschaften zu den Anforderungen der multikulturellen Erziehung einnehmen sollten. Soll das die Form annehmen, daß jede Gemeinschaft ihre eigenen historischen Feiertage begeht, ohne Rücksicht darauf, daß die "alten Briten" sich der globalen Wechselbeziehungen bei der Entstehung und Entwicklung der Weltzivilisation stärker bewußt werden müssen (wie in den Kapiteln 3 bis 7 erörtert)? Wenn die sogenannte westliche Wissenschaft oder Kultur ihre Wurzeln unter anderem in chinesischen Neuerungen, in der indischen und arabischen Mathematik oder darin hat, daß das griechisch-römische Erbe in Westasien bewahrt wurde (so daß arabische Übersetzungen der vergessenen griechischen Klassiker viele Jahrhunderte später ins Lateinische zurückübersetzt wurden), sollte man dann nicht jene entschieden interaktive Vergangenheit stärker berücksichtigen, als es im derzeitigen Lehrplan des multiethnischen Großbritannien der Fall ist? Die Prioritäten des Multikulturalismus können sehr stark von jenen einer plural-monokulturellen Gesellschaft abweichen.

     Zu dem problematischen Verfahren der Konfessionsschulen, dem nicht vernünftig begründeten Glauben den Vorrang gegenüber der Vernunft zu geben, tritt ein weiteres gewichtiges Problem hinzu, nämlich die Bedeutung der Religion als Kriterium für die Klassifikation der Menschen, für die ja auch andere Kriterien denkbar wären. Die Prioritäten und Handlungen der Menschen werden von all ihren Zugehörigkeiten und Verbindungen beeinflußt und nicht nur von der Religion. Die Loslösung Bangladeshs von Pakistan wurde ja, wie schon erwähnt, mit Unterschieden der Sprache und Literatur sowie mit politischen Prioritäten begründet, nicht aber mit der Religion, die ja in beiden Teilen des ungeteilten Pakistan dieselbe war. Sich über alles außer dem Glauben hinwegzusetzen bedeutet, die Realität von Interessen zu leugnen, von denen Menschen veranlaßt wurden, ihre weit über die Religion hinausreichenden Identitäten zu bekräftigen.

     Unter religiösem Aspekt wird die recht ansehnliche Bangladeshi-Gemeinschaft in Großbritannien mit allen übrigen Glaubensbrüdern in einen großen Topf geworfen, ohne daß ihre Kultur und ihre Prioritäten eine Rolle spielen. Das mag zwar den islamischen Priestern und Religionsführern gefallen, aber es verkürzt ohne Zweifel die reiche Kultur jenes Landes und erklärt die vielfältigen Identitäten, welche die Bangladeshis haben, für unwesentlich. Überdies setzt es sich willentlich über die Entstehungsgeschichte von Bangladesh hinweg. Gegenwärtig findet in Bangladesh selbst eine politische Auseinandersetzung zwischen Säkularisten und ihren Gegnern (zu denen auch religiöse Fundamentalisten gehören) statt, und es ist nicht einzusehen, warum die offizielle britische Politik auf letztere stärker Rücksicht nehmen sollte als auf erstere.

     Die hochpolitische Bedeutung dieser Frage kann nicht genug betont werden. Das Problem ist zugegebenermaßen nicht den letzten britischen Regierungen anzulasten. Seit vielen Jahren vermittelt die offizielle britische Politik den Eindruck, britische Bürger und Einwohner, die vom Subkontinent stammen, bevorzugt unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Gemeinschaft einzuordnen, und nun, da in aller Welt seit einiger Zeit die Religiosität (einschließlich des Fundamentalismus) betont wird, versteht sie unter Gemeinschaft in erster Linie Glaubensgemeinschaft, statt etwa Kulturen zu berücksichtigen, die allgemeiner definiert sind. Das Problem beschränkt sich nicht auf die Schule und natürlich auch nicht auf Muslime. Dasselbe passiert, wenn, wie man beobachten kann, Religionsführer der Hindus oder der Sikhs als Sprecher für die britische Hindubeziehungsweise Sikh-Bevölkerung anerkannt werden. Statt daß man die britischen Bürger unterschiedlicher Herkunft ermutigt, im Rahmen der Zivilgesellschaft miteinander in Beziehung zu treten und als Bürger am politischen Leben teilzunehmen, fordert man sie auf, "über" ihre jeweils "eigene Gemeinschaft" aktiv zu werden.

     Die Beschränktheit dieser reduktionistischen Sichtweise wirkt sich unmittelbar auf die Lebensweise der einzelnen Gemeinschaften aus, und besonders stark sind die einengenden Auswirkungen auf das Leben von Einwanderern und ihren Familien. Überdies aber kann sich das Selbstverständnis von Bürgern und Einwohnern, wie die Ereignisse des Jahres 2005 in Großbritannien gezeigt haben, auch auf das Leben von anderen auswirken. Die Anfälligkeit für Einflüsse eines sektiererischen Extremismus ist sehr viel größer, wenn man im konfessionellen (aber nicht notwendigerweise gewalttätigen) Sinne erzogen und in der Schule unterrichtet wird. Die britische Regierung bemüht sich, Haßpredigten von religiösen Führern zu unterbinden, und das ist unbedingt richtig, aber das Problem ist mit Sicherheit weit umfassender. Es geht darum, ob Bürger mit Migrationshintergrund sich in erster Linie als Mitglieder bestimmter Gemeinschaften und spezifischer religiöser Ethnizitäten betrachten und sich erst über diese Mitgliedschaft als Briten in einer vermeintlichen Föderation von Gemeinschaften verstehen sollen. Man wird unschwer begreifen, daß eine Nation mit einem derart zersplitterten Selbstbild anfälliger für das Predigen und Heranzüchten von religiös begründeter Gewalt ist.

     Tony Blair hat allen Grund, "hinauszugehen" und "in der muslimischen Gemeinschaft" Debatten über Terror und Frieden zu führen, die "bis ins Mark [dieser] Gemeinschaft gehen". Daß er sich für Fairness und Gerechtigkeit einsetzt, ist unbestreitbar. Dennoch kann die Zukunft des multiethnischen Großbritannien nur darin liegen, die vielfältigen Möglichkeiten zu erkennen und zu fördern, wie Bürger, die neben ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit auch ihre je eigenen politischen Einstellungen, ihr jeweiliges sprachliches Erbe und ihre sozialen Prioritäten haben, in ihren verschiedenen Eigenschaften, darunter auch als Bürger, in Beziehung zueinander treten. Eine wichtige Rolle im Leben aller Bürger hat vor allem die Zivilgesellschaft zu spielen. Es geht nicht an, die Partizipation britischer Einwanderer, ob Muslime oder andere, als "Gemeinschaftsbeziehungen" zu rubrizieren, die von Religionsführern (seien sie auch "moderate" Priester, "milde" Imame oder sonstige nette Sprecher von Religionsgemeinschaften) vermittelt werden.

     Wir müssen gründlich über unser Verständnis des Multikulturalismus nachdenken, um begriffliche Unklarheit bezüglich der sozialen Identität zu vermeiden und der gezielten Ausbeutung der Entzweiung entgegenzuarbeiten, die durch diese Begriffsverwirrung ermöglicht und bis zu einem gewissen Grad sogar gefördert wird. Insbesondere müssen wir, sofern diese Analyse zutrifft, vermeiden, zwei Dinge miteinander zu verwechseln: den Multikulturalismus und die kulturelle Freiheit auf der einen Seite und den pluralen Monokulturalismus mit seinem religiös begründeten Separatismus auf der anderen. Eine Nation darf nicht als eine Ansammlung von abgeschotteten Segmenten definiert werden, in der den Bürgern bestimmte Plätze innerhalb der vorweg bestimmten Segmente zugewiesen werden. Und es ist unzulässig, Großbritannien explizit oder implizit als eine imaginäre nationale Föderation von religiösen Ethnizitäten zu definieren.

Mit freundlicher Genehmiung des C.H.Beck-Verlages
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