Vorgeblättert

Leseprobe zu Bora Cosic: Lange Schatten in Berlin. Teil 2

25.08.2014.
Geteiltes Zimmer

Ich muss an ein Bild aus der Zeit des Mauerbaus denken, das ich in einer ostdeutschen Zeitschrift sah. Die Mauer strebte langsam, aber unaufhaltsam in die Höhe; Maurer setzten gleichmütig einen Stein auf den anderen, und am Bildrand stand ein Mann, der dadurch eingemauert und eingesperrt wurde, auf Zehenspitzen, um noch einmal über die wachsende Barriere zu schauen. Wie wenn einer den Kopf über Wasser halten will, bevor er untergeht. Danach war es aus, die Mauer überragte die menschliche Augenhöhe.
     Ich überlege, was geschähe, wenn einer mitten durchs Zimmer eine Kordel spannen und eine Decke darüber werfen, mich also ebenfalls gewissermaßen einmauern würde. Der Einfall entspricht der Praxis vieler armer Menschen, die, oft unter schlimmen Umständen als mittellose Vertriebene, aus einem einzigen zwei Räume machen wollen. Daraus ziehe ich meine Lehre: In unserem früheren Leben waren Zimmer geteilt. Und entsprach dem nicht der Aufenthalt im geteilten Berlin, ein Zimmer, durch dessen Mitte jemand eine Kordel gespannt und eine Decke darübergeworfen hatte, eine Mauer, die das Schicksal der Menschen halbierte? Wie hätte ich wohl in meiner Zimmerhälfte gelebt, hinter Kordel und Decke als interner Absperrung? Wie kann man überhaupt damit einverstanden sein, sich in einem aus unerfindlichen Gründen geteilten Raum aufzuhalten, obwohl dadurch die eigene körperliche Konstitution halbiert ist?

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Himmel

Die, deren Leben in den niedrigen Zimmern des Sozialismus verlief, werden nie erfahren, was sich in dem Luftabschnitt befindet, der ihnen fehlte und in den bürgerlichen Wohnungen mit ihren hohen Decken über den Köpfen der Menschen schwebt. Mit dem ein Stück Natur ins Zuhause tritt, das ein Gespräch über persönliche Eigenschaften anzettelt und über Gepflogenheiten, die nicht nur den Menschen gehören. Woraus ich erneut schließe, dass neben mir, in unmittelbarer Umgebung der Menschenwesen, ein Überschuss existiert, der der Fantasie und unauffälliger Beobachtung überlassen ist. Da sammelt sich immer was auf der Anhöhe und über dem Schicksal unserer Familie, auf dem obersten Brett der Zeit, dem Blick verborgen wie der Kosmos, der Erkenntnis entzogen wie das Weltall ganz allgemein. Versenkt im Aquarium des häuslichen Raums, kämpft unser Leben ständig um ein Plätzchen an der Oberfläche, wie in einem Goldfischglas. Oben treten die Bläschen unseres Atems in die höhere Ebene der Welt aus und malen unter dem nächsthöheren Stockwerk Stuckaturen und Blumengirlanden hin. Dort residieren kleine Nachtelemente, Falter und Engel, himmlische Galeeren rudern auf der kompakten Hochsee von einem Ende zum anderen, und der Augenblick wird kommen, in dem unter den Deckenwölkchen Leonardos Flugapparat erscheint. In unzähligen Winkeln unserer Belgrader Kindheit und unseres Berliner Altwerdens hausen wohl Gespenster, vom Sein für uns maßgeschneidert, doch keiner wagt es, den Kopf zu heben und dort oben, in der luxuriösen Tonnage des Nichts, hinter das Geheimnis unserer Levitationen und der allgemeinen Himmelsmechanik zu dringen.
               
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Punische Kriege


Die historische Aufarbeitung des Hausputzes steht noch aus. Lange fragte ich mich, ob nicht selbst der ausführlichsten Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts etwas fehle. Dann begriff ich, es sind die Vorgänge, die sich jeden Sams- tag im Stockwerk unter mir wiederholen, wenn die Putzfrau der Nachbarin Eimer, Besen und Lappen holt und der Wahnsinn unverzüglich seinen Lauf nimmt, eine unbegreiflich rigide Besatzung, ein Schlachtgetümmel ohne Unterlass. Als wolle diese Person aufholen, was unsere europäische Tradition bislang versäumte, reproduziere aber fürs Erste das bereits Erreichte, eine eigene Version des Nationalkonvents, des Gemetzels auf dem Platz in Sankt Petersburg 1905. Sämtliche Gewaltorgien der Geschichte leben beim Möbelrücken, Fensterschlagen und dem unfassbaren Redeschwall auf, denn während der Arbeit diskutiert die Frau mit der Hausherrin und improvisiert über das Thema Spinnwebe in Ecken. Verschiedene Ereignisse dieses Jahrhunderts sind also miteinander verwandt, zusammengepfercht auf die Fläche einer Fünfzimmerwohnung, die gleichsam komplett in Flammen steht, als wäre in unserer Mommsenstraße ein Privatvesuv wiedererwacht, als wäre in dieser samstagnachmittäglichen Stunde die Pest wieder da. Es wirft mich auf Vorfälle in der eigenen Familie zurück; dort herrschte früher ebenfalls in regelmäßigen, wöchentlichen Intervallen der Ausnahmezustand und eindeutiger Wahnsinn. Schon damals fragte ich mich, ob ein paar geputzte Fenster die Infragestellung unserer gesamten Existenz aufwiegen, die mit einer erbarmungslosen Destabilisierung des ganzen Lebens einhergeht. Denn eine Putzfrau kann genauso viel anrichten wie die Politische Polizei bei einer Hausdurchsuchung, sie zerstört, was ihr in die Hände fällt; meine liebsten Sachen, ob Kinderbuch oder Schaukelpferd, stapelt die Walpurgistänzerin in der Mitte des Zimmers, als wolle sie den Haufen gleich anzünden. Wenn gar unsere unglücklichen Besitztümer unter alten Lumpen und Zeitungspapier verschwinden, weil das Kalken der Wände ansteht, ist niemals ganz sicher, ob sich alles, was uns gehörte, nach Abschluss der Reinigungsarbeiten an demselben Ort befindet wie zuvor. Denn diese Diva im grünen Kittel deckt das schwere Mobiliar nur ab, um uns über unser unangefochtenes Eigentum zu demütigen. In der Philosophie des Saubermachens schwingt ein Revanchismus der Klasse mit, die alles hinwegfegt und mit der täglichen Putzpraxis eine Mahnung von historischer Tragweite übermittelt. Es ist, als hätte ein geheimes Revolutionskomitee, bevor es Bomben in Bussen detonieren lässt, der Putzfrau den Besen geschickt, um durch Säuberungen die wichtigsten Ziele der Gruppe öffentlich bekannt zu machen. Nur gelingt der große Wurf nicht so leicht, wenn dafür Bücherschränke voll problematischen Materials verrückt werden müssen. Für diese Aufgabe bringt die Putzfrau stets ihren Bruder mit. Der Bruder ist austauschbar, denn ihre Familie, das ist die ganze Welt. Ein Soziologe sagte dazu, meine reaktionäre Gesinnung übersteige jedes Maß. Es ist meine Meinung, was das Putzen und die Putzfrau als Institution betrifft. Für mich steckt in der Doktrin von der Sauberkeit höchste Korrosionskraft, die nicht nur meine Klasse, sondern den gesamten Kontinent gefährdet. Man darf nicht wegen einiger Staubkörner die Stabilität des ganzen Lebens riskieren. Und eben das hätte im Manifest der Putzfrauen gestanden, hätten sie es in marxscher Manier geschrieben.

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Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Schöffling Verlages
(Copyright Schöffling Verlag)


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