Vorgeblättert

Leseprobe zu Celeste Ng: Was ich euch nicht erzählte. Teil 1

19.05.2016.
Kurz bevor Marilyn Lydia das erste Tagebuch geschenkt hatte, fand die jährliche Weihnachtsfeier der Universität statt. Marilyn wollte nicht hingehen. Schon den ganzen Herbst nagte eine leichte Unzufriedenheit an ihr. Nath war gerade in die erste Klasse gekommen, Lydia in den Kindergarten, und Hannah existierte noch nicht einmal in der Phantasie. Zum ersten Mal seit ihrer Heirat hatte sie Zeit. Sie war neunundzwanzig, immer noch jung, immer noch schlank. Und immer noch klug, fand sie. Jetzt könnte sie endlich wieder studieren und ihren Abschluss machen. All das tun, was sie vorgehabt hatte, ehe die Kinder kamen. Nur wusste sie nicht mehr, wie man einen Aufsatz schreibt, wie man sich Notizen macht; es kam ihr so vage und schemenhaft vor wie in einem Traum. Wie sollte sie studieren, wenn das Abendessen gekocht werden musste, Nathan ins Bett gebracht werden sollte, Lydia spielen wollte? In der Zeitung sah sie die Stellenanzeigen nach Aushilfsjobs durch, aber es wurden nur Kellnerinnen, Buchhalterinnen, Werbetexterinnen gesucht. Nichts, was sie konnte. Sie dachte an ihre Mutter, an das Leben, das ihre Mutter sich für sie gewünscht hatte, das Leben, das ihre Mutter sich für sich selbst erhofft hatte: Mann, Kinder, Haus, und sie allein dafür verantwortlich, alles in Ordnung zu halten. Ohne es zu wollen, hatte sie die Aufgabe angenommen. Ihre Mutter wäre vollauf mit ihr zufrieden gewesen. Der Gedanke versetzte sie nicht gerade in Euphorie.
     James dagegen fand, dass sie sich bei der Weihnachtsfeier blicken lassen müssten; im Frühjahr stand seine Festanstellung in Aussicht, deshalb war Sich-blicken-lassen wichtig. Und so fragten sie Vivian Allen von gegenüber, ob sie auf Nath und Lydia aufpassen könnte. Marilyn zog ein pfirsichfarbenes Cocktailkleid an, legte ihre Perlenkette um, dann machten sie sich auf den Weg in die mit Krepppapier geschmückte Turnhalle, wo man in der Spielfeldmitte einen Weihnachtsbaum aufgestellt hatte. Nach der obligatorischen Runde von Hallos und Wie-geht-es-Ihnen zog sie sich in eine Ecke zurück und hielt sich an einem Becher Rumpunsch fest. Dort begegnete sie Tom Lawson.
     Tom holte ihr ein Stück Früchtekuchen und stellte sich vor - er war Professor im Chemie-Institut; er und James hatten die Dissertation eines Studenten betreut, der eine fächerübergreifende Arbeit über chemische Kriegsführung im Ersten Weltkrieg schrieb. Marilyn wappnete sich für die unvermeidlichen Fragen - Und was machen Sie, Marilyn? -, doch stattdessen tauschten sie Höflichkeitsfloskeln aus: wie alt die Kinder waren, wie schön der Weihnachtsbaum in diesem Jahr aussah. Als er ihr von seiner Forschungsarbeit erzählte - etwas mit der Bauchspeicheldrüse und künstlichem Insulin -, unterbrach sie ihn und fragte, ob er nicht eine Forschungsassistentin brauchen könne, worauf er sie über seinen Teller mit Würstchen im Schlafrock hinweg anstarrte. Marilyn, die befürchtete, sie könne unqualifiziert erscheinen, lieferte sofort Erklärungen: Sie habe Chemie in Radcliffe studiert und vorgehabt, Ärztin zu werden, sei allerdings nicht ganz fertig - noch nicht - , aber da die Kinder jetzt etwas größer seien -
     Tom Lawson erstaunte der Tonfall ihrer Bitte: Sie hatte etwas von der gemurmelten Atemlosigkeit eines Heiratsantrags. Marilyn blickte lächelnd zu ihm auf, und ihre Grübchen verliehen ihr die Ernsthaftigkeit eines kleinen Mädchens.
     "Bitte", sagte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm. "Ich würde wirklich gern wieder wissenschaftlich arbeiten."
     Tom Lawson grinste. "Ein bisschen Hilfe könnte ich durchaus brauchen", sagte er. "Das heißt, wenn Ihr Mann nichts dagegen hat. Vielleicht könnten wir uns im neuen Jahr treffen, wenn die Vorlesungen wieder anfangen. Dann reden wir darüber." Marilyn sagte, ja, ja, das wäre wunderbar.
     James war weniger begeistert. Er wusste, was die Leute sagen würden: Er verdient nicht genug - seine Frau muss dazuverdienen. Es war Jahre her, aber er erinnerte sich immer noch daran, wie seine Mutter jeden Morgen früh aufstand und ihre Uniform anzog, wie sie in einem Winter, als seine Mutter zwei Wochen wegen Grippe nicht arbeiten konnte, die Heizung abstellen und sich mit zwei Decken warm halten mussten. Er erinnerte sich daran, wie sich seine Mutter abends Öl in die schwieligen Hände massierte, damit sie weicher wurden, und sein Vater beschämt das Zimmer verließ. "Nein", sagte er zu Marilyn. "Wenn ich festangestellt bin, haben wir alles Geld, das wir brauchen." Er nahm ihre Hand, löste ihre Finger und küsste ihre zarte Handinnenfläche. "Versprich mir, dass du dir keine Gedanken mehr wegen Arbeit machst", sagte er, und am Ende hatte sie ihm den Gefallen getan. Die Telefonnummer von Tom Lawson hob sie trotzdem auf.
     Im Frühjahr, als James - gerade festangestellt - bei der Arbeit war, die Kinder in der Schule und Marilyn zu Hause die zweite Ladung Wäsche zusammenlegte, klingelte das Telefon. Eine Schwester aus dem St. Catherine's Hospital in Virginia teilte ihr mit, dass ihre Mutter gestorben sei. Ein Schlaganfall. Es war der 1. April 1966, und Marilyns erster Gedanke war: Was für ein schrecklicher, geschmackloser Scherz.
     Sie hatte jetzt seit fast acht Jahren nicht mehr mit ihrer Mutter gesprochen gehabt, seit ihrem Hochzeitstag. Und ihre Mutter hatte in der ganzen Zeit nicht ein einziges Mal geschrieben. Als Nath zur Welt kam und dann Lydia, hatte Marilyn sie nicht informiert und ihr auch kein Foto geschickt. Was gab es schon zu sagen? Sie und James hatten nie darüber gesprochen, was ihre Mutter an jenem letzten Tag über ihre Heirat gesagt hatte: Es ist nicht richtig. Und sie hatte nie wieder daran denken wollen. Als James am Abend nach Hause kam, bemerkte sie daher nur: "Meine Mutter ist gestorben." Dann drehte sie sich wieder zum Herd und fügte hinzu: "Der Rasen muss übrigens gemäht werden", und er verstand, damit war das Thema erledigt. Als sie den Kindern beim Abendessen sagte, dass ihre Großmutter gestorben sei, legte Lydia den Kopf schief und fragte: "Bist du traurig?"
     Marilyn warf ihrem Mann einen Blick zu. "Ja", sagte sie. "Ja, das bin ich."
     Es gab einiges zu regeln: Papiere mussten unterschrieben, Vorbereitungen für die Bestattung getroffen werden. Und so ließ Marilyn die Kinder bei James und fuhr nach Virginia, das sie schon lange nicht mehr als ihr Zuhause empfand, um die Sachen ihrer Mutter in Ordnung zu bringen. Während Meile um Meile von Ohio, dann West Virginia an ihr vorbeiflog, hallte die Frage ihrer Tochter in ihr nach. Sie wusste die Antwort nicht genau.
     War sie traurig? Sie war eher überrascht als alles andere: überrascht, wie vertraut ihr das Haus ihrer Mutter noch war. Selbst nach acht Jahren erinnerte sie sich noch genau, wie man den Schlüssel bewegen musste - runter und nach links - damit das, Schloss sich öffnete; sie erinnerte sich noch an die Fliegengittertür, die sich von allein mit einem leisen Zischen schloss. Die Glühbirne in der Diele war durchgebrannt, und die schweren Vorhänge im Wohnzimmer waren zugezogen, aber ihre Füße bewegten sich trotz der Dunkelheit wie von selbst: Durch jahrelanges Üben wusste sie noch, wie man um den Sessel und den Polsterhocker zum Tisch neben dem Sofa tänzelte. Ihre Finger fanden den geriffelten Taster der Lampe beim ersten Versuch. Es hätte ihr Haus sein können.
     Als das Licht anging, sah sie die schäbigen Möbel, mit denen sie aufgewachsen war, die zartlila Tapete mit der Struktur wie Seide. Den Geschirrschrank mit den Puppen ihrer Mutter, deren starre Augen einen kalten Schauder in ihrem Nacken auslösten. Auf dem Kaminsims Fotos von ihr als Kind. Alles Sachen, die sie ausräumen musste. War sie traurig? Nein, nur müde nach der ganztägigen Fahrt. "Viele Leute fühlen sich von dieser Aufgabe überfordert", sagte der Bestattungsunternehmer am nächsten Morgen. Er gab ihr die Nummer einer Reinigungsfirma, die darauf spezialisiert war, Häuser verkaufsfertig zu entrümpeln. Leichenfledderer, dachte Marilyn. Was für eine Arbeit, die Häuser von Toten auszuräumen, ganze Leben in Mülltonnen zu werfen und an den Straßenrand zu stellen.
     "Vielen Dank", sagte sie mit erhobenem Kinn. "Ich kümmere mich lieber selbst darum."
     Als sie jedoch die Sachen ihrer Mutter zu sortieren versuchte, fand sie nichts, das sie behalten wollte. Der Goldring ihrer Mutter, ihre zwölf Porzellangedecke, das Perlenarmband von Marilyns Vater: Erinnerungsstücke an eine unselige Hochzeit. Ihre züchtigen Twinsets und Bleistiftröcke, die Handschuhe und Hüte in Schachteln: Relikte eines korsettierten Lebens, das Marilyn immer bemitleidet hatte. Ihre Mutter hatte die Puppensammlung geliebt, aber ihre Gesichter waren ausdruckslos, Porzellanmasken unter Rosshaarperücken. Kleine Fremde mit starren Blicken. In den Fotoalben suchte sie ein Bild von sich und ihrer Mutter, fand aber nicht ein einziges. Nur Marilyn im Kindergartenalter mit Rattenschwänzen; Marilyn in der dritten Klasse mit einem fehlenden Schneidezahn; Marilyn bei einem Schulfest, eine Papierkrone auf dem Kopf. Marilyn in der Highschool vor dem Weihnachtsbaum auf teurem Kodachrome. Drei Fotoalben von Marilyn und nicht ein einziger Schnappschuss von ihrer Mutter. Als hätte sie nie existiert.
     War sie traurig? Wie sollte sie ihre Mutter vermissen, wenn sie nirgends zu finden war?
     Und dann entdeckte sie in der Küche das Kochbuch von Betty Crocker, der Rücken brüchig und zweimal mit Tesafilm geklebt. Auf der ersten Seite des Plätzchenkapitels eine Linie am Rand der Einleitung, wie auch sie es im College gemacht hatte, um wichtige Stellen zu markieren. Es war kein Rezept. Immer Kekse in der Keksdose! stand in dem Absatz. Gibt es ein schöneres Symbol für eine glückliche Familie? Mehr nicht. Ihrer Mutter war es wichtig gewesen, das hervorzuheben. Marilyn betrachtete die kuhförmige Keksdose auf der Anrichte und versuchte sich den Boden vorzustellen. Je länger sie darüber nachdachte, umso unsicherer war sie, ob sie ihn jemals gesehen hatte.
     Sie blätterte die anderen Kapitel durch und suchte weitere Bleistiftlinien. Bei "Kuchen" fand sie einen: Wenn Sie einen Mann glücklich machen wollen - backen Sie einen Kuchen. Aber es muss ein perfekter Kuchen sein. Bemitleiden Sie den Mann, der beim Nachhausekommen noch nie einen Kürbiskuchen oder eine Sahnetorte vorfand. Unter "Grundrezepte Eier": Der Mann, den Sie heiraten, weiß genau, wie er seine Eier mag. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er es damit sehr ernst nimmt. Deshalb sollte eine gute Hausfrau wissen, wie man ein Ei in sechs einfachen Variationen auf den Teller bringt. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter die Bleistiftspitze an der Zunge befeuchtete und dann am Rand entlang eine sorgfältige Linie zog, damit sie es nicht vergaß.
     Sie werden feststellen, dass ein lecker zubereiteter Salat ein wichtiger Beitrag zur Lebensqualität in Ihrem Heim ist.
     Gibt es etwas, das zufriedener macht, als Brot zu backen?
     Bettys Essiggurken! Tante Alices eingemachte Pfirsiche! Marys Minz-Relish! Gibt es etwas Erfüllenderes als eine Reihe glänzender Gläser und Flaschen in Ihrem Regal?

zu Teil 2