Vorgeblättert

Leseprobe zu Charles Chadwick: Eine zufällige Begegnung. Teil 2

23.03.2009.
II

Elsie schaute im Bus aus dem Fenster, um die Leute, die sich neben sie setzten, nicht abzustoßen. Es war nicht so, dass niemand mit ihr reden wollte, über Gott und die Welt, nachdem sie sich erst einmal an sie gewöhnt hatten. Zumindest hin und wieder. Die Leute glaubten einfach nicht, dass sie es weitererzählen würde. Sie konnten sich nicht
vorstellen, dass sie mit irgendjemandem an einer Bushaltestelle oder einer Straßenecke stand und den neuesten Klatsch verbreitete. Es war, als wäre sie gar keine richtige Person. Sie wollte immer mehr über die Leute erfahren und versuchte, nicht zu starren. Sie wollte, dass die Leute sie besser kennenlernten. Ihre Mutter hatte ihr x-mal gesagt, dass das, was wichtig sei, darunterliege. Und genau das hatte sie sich auch selber oft gesagt.

Schon als Kind hatte sie gelernt, den Hass, der in ihr aufwallte und sie zu überwältigen drohte, zu zügeln. Aber manchmal packte er sie noch, als wäre er immer da und wartete nur darauf loszuschlagen. manchmal passierte es, wenn sie hübsche junge Leute sah, die sich zur Schau stellten. Oder die Gesichter in Anzeigen für Kosmetika und
Kleidung und Frisuren. Leute, die zu selbstgefällig waren. Es hielt nie lange vor. Der Teufel hatte seine schmutzige Arbeit getan und hatte genug Befriedigung im Leben, ohne sich mit ihr abzugeben.

Sie mussten sich neben sie setzen, wenn der Bus voll war, und dann beugten sie sich über ihre Einkäufe oder die anderen Sachen auf ihrem Schoß, sobald sie ihr einen flüchtigen Blick zugeworfen hatten. Wenn sie zweimal hinschauten, dann vielleicht, weil sie unbedingt mit jemandem reden mussten. auf einer längeren Fahrt war es schwieriger, nichts zu sagen, immerhin berührten sich ja die Arme.

Ein Mann saß neben ihr. Er roch nach etwas zugleich Saurem und Süßem, nach etwas, das überdeckt wurde. Sie konnte nicht aufhören, ihn immer wieder flüchtig anzuschauen und Vermutungen anzustellen.

"Was starren Sie denn so?", fragte er verärgert.

Seine Stimme klang, als sollte er sich einmal räuspern. Vielleicht tat er es absichtlich nicht, damit sie rau und heiser klang. Sein Kopf war rasiert worden, und jetzt wuchsen die Haare fleckig nach, schwarz mit grauen Sprengseln. Seine Schuhe waren auf Hochglanz poliert, und seine Hose hatte eine scharfe Bügelfalte. Solche Sachen, wenn sie den Eindruck hatte, die Leute wollten etwas beweisen, fielen ihr auf. Es war der Grauton seiner Haut, die Fältchen an seinen Augen, denn ansonsten wirkte er nicht alt. Sie schaute ihn ein wenig länger an, denn ihre neugier hatte die Oberhand gewonnen.

Dann sagte er: "Wenn Sie?s unbedingt wissen wollen, ich habe einen Kerl umgebracht. Habe fünfzehn Jahre gesessen. Seit vier monaten draußen. Und jetzt können Sie verdammt noch mal aufhören, mich anzustarren."

Elsie war ihm dankbar. Das hätte er keinem anderen je gesagt, nicht einfach so. auch seine Augen waren grau, und er funkelte sie böse an, als wartete er nur darauf, dass sie schockiert oder ängstlich reagierte. Sie vermied es tunlichst, ihrem Gesicht einen ausdruck zu geben. Ein Lächeln zum Beispiel. Bei ihr sah ein Lächeln aus wie Zähnefletschen,
und zwar umso schlimmer, je freundlicher es gemeint war. Es lag an der Art, wie ihre Zähne vorstanden, die unteren. Und ihre Augen so tief in den Höhlen, dass man sie kaum sah. Stundenlang hatte sie vor dem Spiegel geübt, aber sie sah dabei immer nur aus, als würde sie sich hassen. Ein Fernsehprediger hatte einmal gesagt, die Leute sollten in den Spiegel schauen und sich sagen, dass Gott sie liebe. Sie
hatte es ein paarmal versucht und sich dann gesagt, wenn Gott existierte, musste das stimmen, aber da er keine andere Wahl hatte, dürfte ihm das Lieben nicht schwerfallen. Sie hasste sich selber nicht, außer wenn der Teufel sie dazu brachte, auch andere Leute zu hassen. Sie konnte Sachen komisch finden, wenn sie wollte. Doch wenn sie lachte, sah es aus, als würde sie nach Luft schnappen. Sie beherrschte es hervorragend, ihre Gefühle nicht zu zeigen, denn wenn sie es tat, ließ ihr Gesicht sie am heftigsten im Stich. Also verzog sie keine Miene. Das war der Grund, warum Leute ihr vertrauten, einfach damit herausrückten und ihr sagten, sie hätten jemanden umgebracht.

Und so sagte sie: "Ach ja?" als hätte er gesagt, er hätte sich im vergangenen Winter eine Erkältung eingefangen, oder etwas ähnlich Alltägliches.

Aber er hatte das Interesse verloren und schaute zum anderen Fenster hinaus.

Sie fragte sich, ob sie vielleicht unverschämt gewirkt hatte, deshalb fragte sie nach zwei Haltestellen: "Warum haben Sie es getan?"

Ihr schien das eine höfliche Frage zu sein. Doch er antwortete nur: "Scheren Sie sich doch um Ihren eigenen Scheiß."

Manchmal redeten die Leute mit ihr, als wäre sie zu dumm, um sich darum zu scheren, als gäbe es kaum etwas, das sie scheren könnte, so wie sie aussah. "Uneinnehmend" hatte ihre Mutter es einmal Genannt. Das war nicht fair. "nicht sehr einnehmend", waren ihre genauen Worte gewesen. Sie hatte mitgehört, wie ihre Mutter es am Telefon sagte, das war alles. Sie hatte es ihr nicht ins Gesicht gesagt. Ihre Mutter konnte nichts dafür, dass sie sie immer anschaute, als würde sie sich wünschen, sie wäre anders, eher wie Geoffrey.

Aus einer Augenblickslaune heraus sagte sie: "Manchmal habe ich Lust, meine Mutter umzubringen. oder auch meinen Vater."

Sie war unterwegs zu ihrer Mutter, deshalb war ihr das eingefallen. Es stimmte nicht. Es war nur freundlich gemeint, um die Unterhaltung am Laufen zu halten, um sich zu ihm ins selbe Boot zu setzen. Gern hätte sie jetzt witzelnd gegrinst, um das zu unterstreichen.

Doch er murmelte nur: "Blöde, hässliche Kuh!"

So viel zu Aufmerksamkeit. Sie versuchte es wirklich, wenn sich die Gelegenheit ergab. Sie wollte sich wirklich gutstellen mit den Leuten, sie nicht immer nur vor den Kopf stoßen. Eine andere Möglichkeit gab es eigentlich nicht.


Sie stiegen an derselben Haltestelle aus. Einmal drehte sie sich um, weil sie meinte, er würde ihr folgen, und ihr durch den Kopf schoss, dass sie vielleicht sein nächstes Opfer sein könnte, obwohl sie wahrscheinlich der letzte Mensch auf der ganzen Welt war, den irgendjemand würde umbringen wollen. außerdem war er nirgendwo zu sehen.

Sie hastete nicht die Straße entlang, sondern ging gemächlich durch die Schatten, die die sommerlichen Bäume warfen. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Mutter sie mochte und sich auf ihre Besuche freute. Sie konnte sich keinen Grund dafür vorstellen. Vielleicht dachte sie einfach, Kinder verhielten sich eben so ? Es gab einige hübsche Vorgärten, die meisten mit Rosen, die ihre besten Tage schon hinter sich hatten und geschnitten werden mussten. Sie sahen irgendwie erstickt aus, als würden sie in der Sommersonne Staub ansetzen.


Einmal hatte sie ein Foto von der Hochzeit ihrer Eltern gesehen. Ihre Mutter war nicht gerade die Fotogenste, auch wenn sie sich extra herausputzte. manchmal saß sie zurückgelehnt in ihrem Sessel, das Bein auf einem Lederhocker, um es herzuzeigen und darüber zu jammern. Und manchmal legte sie den Kopf zurück und zeigte ihren Hals. Es stimmte doch. Einmal hatte sie sich bei der Überlegung ertappt, ob es wohl einfach wäre, sie zu erdrosseln, oder ob sie dazu schlicht zu viele Fettfalten hatte. als sie in die Straße ihrer Mutter Einbog, an der weniger Bäume Schatten warfen, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob der mann im Bus es für zehntausend Pfund tun würde. Beim letzten mal hatte ihre Mutter über ihr Bein gejammert und sie nie angeschaut, oder nur ein einziges mal, so, als würde sie es sofort wieder bedauern. Ihr Vater hatte sie aus dem Hochzeitsfoto heraus angesehen, als wäre er von ihnen beiden enttäuscht. Sie war nicht lange geblieben, nicht nachdem ihre Mutter mit ihrem Bein angefangen hatte. "Warum solltest du es denn eilig haben?", hatte sie gefragt. Es gab einfach solche Gedanken, die sie überfielen, wenn sie nicht auf der Hut war vor ihnen. Meistens wünschte sie sich einfach, sie wäre anders, damit ihre Mutter sich nicht so große Mühe geben müsste, sie zu lieben.

Sie konnte ja über ihre neue Arbeit reden. Sie hatte schon eine ganze Reihe Jobs gehabt, alle im Reinigungsbereich. Sie war alles andere als blöd, aber das sollten die Leute nicht unbedingt mitbekommen. Einmal hatte sie sich um eine Stelle in einem großen Kaufhaus beworben. Zwei saßen ihr gegenüber, ein mann und eine Frau, beide von einer ehrlichen Freundlichkeit, beide elegant dunkel gekleidet. Ins Formular hatte sie geschrieben, ihre Vorliebe sei die Kosmetikabteilung. Sie hatte sich nur zum Spaß beworben, um den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu sehen. Sie waren sehr höflich und ließen sich während des ganzen Gesprächs nichts anmerken. Sie fragten sie nach ihrer Berufserfahrung im Einzelhandel. Die gleich null war. Ebenso ihr Wissen über make-up. Sie selber benutzte keins. Verbessern kann man schließlich nur, was verbessert werden kann. An diesem Tag hatte sie sich die Mühe gemacht. Sie gab ihnen Bestnoten, weil sie nicht gleich in schallendes Gelächter ausbrachen. Am Ende sagten sie, es gebe viele Bewerberinnen, und ihre mangelnde Berufserfahrung komme ihr nicht gerade zustatten. Sie sagte, sie wolle mit gutem Beispiel vorangehen und zeigen, dass man nicht zu sehr auf Make-up vertrauen sollte und dass es gewisse Probleme gebe bezüglich des Aussehens, die Make-up nicht lösen könne. "Die Leute müssen ihre
Erwartungen in der richtigen Perspektive sehen", war die Formulierung, die sie benutzte, denn so hatte sie es im Wartezimmer ihres Arztes in einer Vogue gelesen. Darauf nickten die beiden mehrmals weise, wahrscheinlich öfter, als sie es ursprünglich vorgehabt hatten. Sie wussten nicht so recht, ob sie sie nur auf den Arm nahm. Sie sagten, sie würden ihr ihre Entscheidung in einem Brief mitteilen. Es war ein ziemlich freundlicher Brief, sie drückten ihr Bedauern etc. aus und wünschten ihr viel Glück für ihre berufliche Zukunft. Sie beantwortete den Brief, um sich für das freundliche Gespräch zu bedanken. Es wäre ihr nur lieber gewesen, ihr Brief hätte ein wenig mehr Selbstsicherheit verströmt. Ihre alte Schreibmaschine hatte, wie alles andere, ihre Beschränkungen.

Sie war noch nicht bereit, ihre Mutter zu sehen, und es war ein wunderbarer Tag, um im Schatten der Bäume durch die Straßen zu schlendern. Putzjobs waren nicht uninteressant. Sie hätte ihrer Mutter gern erklärt, was sie daran interessierte, auch wenn sie wahrscheinlich dachte, Putzen sei das Beste, was sie sich erhoffen könne.

Teil 3