Vorgeblättert

Leseprobe zu Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Teil 1

07.04.2014.
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Als Obinze ihre E-Mail las, saß er auf dem Rücksitz seines Range Rovers im stehenden Verkehr von Lagos, sein Jackett lag auf der Lehne des Vordersitzes, ein bettelndes Kind mit rostfarbenem Haar drückte das Gesicht ans Fenster neben ihm, ein Händler hielt bunte CDs ans andere Fenster, im Radio liefen leise die Nachrichten in Pidgin auf Wazobia FM, und auf allen Seiten herrschte die Düsternis drohenden Regens. Er starrte reglos auf seinen BlackBerry. Zuerst überflog er die E-Mail und wünschte instinktiv, dass sie länger wäre. Decke, kedu? Hoffe, alles ist in bester Ordnung mit Arbeit und Familie. Ranyinudo sagt, dass sie dich vor einer Weile getroffen hat und du jetzt ein Kind hast! Stolzer Papa. Gratuliere. Ich habe vor kurzem beschlossen, nach Nigeria zurückzugehen. Sollte in einer Woche in Lagos sein. Würde gern in Verbindung bleiben. Mach's gut. Ifemelu.
     Er las sie langsam noch einmal und verspürte das Bedürfnis, irgendetwas zu glätten, seine Hose, seinen kahlgeschorenen Kopf. Sie nannte ihn Decke. In ihrer letzten E-Mail, ein paar Tage vor seiner Hochzeit geschickt, hatte sie ihn Obinze genannt, sich für ihr jahrelanges Schweigen entschuldigt, ihm mit fröhlichen Sätzen Glück gewünscht und den schwarzen Amerikaner erwähnt, mit dem sie zusammenlebte. Eine elegante E-Mail. Er hatte sie gehasst. Er hatte sie so sehr gehasst, dass er den schwarzen Amerikaner googelte - warum sollte sie den Mann mit vollem Namen nennen, wenn sie nicht wollte, dass er ihn googelte? -, ein Yale-Dozent, und wurde wütend, weil sie mit einem Mann zusammen war, der seine Freunde in seinem Blog als "Typen" bezeichnete, doch es war das Foto des schwarzen Amerikaners - er verströmte in einer schäbigen Jeans und mit schwarz gefasster Brille intellektuelle Coolness -, das Obinze den Rest gegeben und ihn veranlasst hatte, eine kalte Antwort zu senden. Danke für die guten Wünsche, war nie glücklicher. Er hoffte, sie würde etwas Spöttisches erwidern - es sah ihr so gar nicht ähnlich, dass sie in ihrer E-Mail kein bisschen scharfzüngig gewesen war -, aber sie antwortete nicht, und als er nach seinen Flitterwochen in Marokko noch einmal mailte und schrieb, dass er gern in Verbindung bleiben und hin und wieder mit ihr telefonieren würde, reagierte sie nicht.
     Der Verkehr setzte sich wieder in Bewegung. Es nieselte. Der bettelnde Junge lief neben dem Wagen her, sein rehäugiges Gesicht theatralisch, seine Bewegungen hektisch: Immer wieder hob er die Hand an den Mund, die Fingerspitzen aneinandergepresst. Obinze öffnete das Fenster und hielt ihm einen Hundert-Naira-Schein hin. Im Rückspiegel beobachtete ihn sein Fahrer Gabriel mit tiefer Missbilligung.
     "Gott segne Sie, oga!", sagte das Kind.
     "Geben Sie diesen Bettlern kein Geld, Sir", sagte Gabriel. "Sie sind alle reich. Sie verdienen großes Geld mit Betteln. Ich habe von einem gehört, der in Ikeja ein Haus mit sechs Wohnungen gebaut hat!"
     "Warum arbeitest du dann als Chauffeur und gehst nicht betteln, Gabriel?", fragte Obinze und lachte ein wenig zu herzlich. Er wollte Gabriel erzählen, dass ihm seine Freundin aus Universitätszeiten, ja, seine Freundin aus Universitäts- und Oberschulzeiten gerade eine E-Mail gesandt hatte. Als er ihr das erste Mal den BH ausziehen durfte, lag sie auf dem Rücken und stöhnte leise, ihre Finger gespreizt auf seinem Kopf, und später sagte sie: "Meine Augen waren offen, aber ich habe die Decke nicht gesehen. Das ist noch nie so gewesen." Andere Mädchen hätten behauptet, dass sie nie zuvor einen Jungen an sich herangelassen hatten, aber nicht sie, niemals. Sie war auf impulsive Weise ehrlich. Sie begann, Decke zu nennen, was sie miteinander taten, ihre warmen Umarmungen auf seinem Bett, wenn seine Mutter nicht zu Hause war, wenn sie nur noch Unterwäsche trugen, sich berührten, küssten, saugten und die Bewegungen des Beckens simulierten. Ich sehne mich nach Decke, schrieb sie einmal hinten auf sein Erdkundeheft, und lange Zeit danach konnte er das Heft nicht ansehen, ohne einen Schauder zu verspüren, ein Gefühl heimlicher Erregung. An der Universität, als sie nicht länger simulierten, begann sie ihn auf spielerische, zweideutige Weise Decke zu nennen, aber wenn sie stritten oder sie schlechtgelaunt war, nannte sie ihn Obinze. Sie hatte ihn nie wie seine Freunde Zed genannt. "Warum nennst du ihn Decke?", hatte sein Freund Okwudiba sie einmal gefragt, an einem dieser trägen Tage nach den Prüfungen im ersten Semester. Sie hatte sich zu einer Gruppe seiner Freunde an einen schmutzigen Plastiktisch in einer Bierkneipe unweit des Campus gesetzt. Sie trank aus ihrer Flasche Maltina, schluckte, blickte zu Obinze und sagte: "Weil er so groß ist, dass er mit dem Kopf an die Decke stößt, siehst du das nicht?" Ihre vorsätzliche Langsamkeit, ihr kleines Lächeln sollten ihnen bedeuten, dass das nicht der wahre Grund war. Und er war nicht groß. Sie trat ihn unter dem Tisch, und er trat sie zurück, und schaute dabei seine lachenden Freunde an; sie hatten alle ein bisschen Angst vor ihr und waren alle ein bisschen in sie verliebt. Sah sie die Decke, wenn der schwarze Amerikaner sie berührte? Hatte sie das Wort "Decke" bei anderen Männern benutzt? Der Gedanke, dass sie es vielleicht getan hatte, ärgerte ihn jetzt. Sein Handy klingelte, und einen verwirrten Augenblick lang dachte er, dass ihn Ifemelu aus Amerika anrief.
     "Liebling, kedu ebe I no?" Seine Frau, Kosi, begann ihre Anrufe immer mit diesen Worten: Wo bist du? Er fragte nie, wo sie war, wenn er sie anrief, aber sie sagte es ihm trotzdem: Ich gehe gerade in den Friseursalon. Ich bin gerade auf der Third Mainland Bridge. Es war, als müsste sie sich ihrer Leibhaftigkeit vergewissern, wenn sie nicht zusammen waren. Sie hatte eine hohe Mädchenstimme. Sie sollten um halb acht bei der Party im Haus des Chiefs sein, und es war bereits nach sechs.
     Er sagte, dass er im Stau stehe. "Aber es geht vorwärts, und wir biegen gerade in die Ozumba Mbadiwe. Ich bin gleich da."
     Auf dem Lekki Expressway floss der Verkehr im nachlassenden Regen, und bald drückte Gabriel vor dem hohen schwarzen Tor seines Zuhauses auf die Hupe. Mohammed, der Pförtner, drahtig in seinem schmutzigen weißen Kaftan, öffnete das Tor und hob die Hand zum Gruß. Obinze schaute zu dem hellbraunen Haus mit den Säulen davor. Im Inneren befanden sich die aus Italien importierten Möbel, seine Frau, seine zwei Jahre alte Tochter Buchi, das Kindermädchen Christiana, die Schwester seiner Frau, Chioma, die Zwangsferien machte, weil die Universitätsdozenten wieder einmal streikten, und das neue Hausmädchen Marie aus der Republik Benin, das sie geholt hatten, nachdem seine Frau entschieden hatte, dass nigerianische Hausmädchen nicht geeignet waren. In den Räumen wäre es kühl, die Belüftungsschlitze der Klimaanlage vibrierten leise, in der Küche röche es nach Curry und Thymian, im Fernseher unten liefe CNN, während im Fernseher oben Zeichentrickfilme gezeigt würden, und überall herrschte die ungetrübte Atmosphäre des Wohlstands. Er stieg aus dem Wagen. Seine Beine waren steif, er hatte Mühe, sie zu heben. Seit ein paar Monaten fühlte er sich aufgebläht von allem, was er sich zugelegt hatte - die Familie, die Häuser, die Autos, die Bankkonten -, und hin und wieder überwältigte ihn das Bedürfnis, in alles mit einer Nadel zu stechen, um die Luft entweichen zu lassen, um frei zu sein. Er war nicht länger sicher, ja, er war eigentlich nie sicher gewesen, ob er sein Leben mochte, weil es ihm wirklich gefiel, oder ob er es mochte, weil es von ihm erwartet wurde.
     "Liebling", sagte Kosi und öffnete die Tür, bevor er davorstand. Sie war geschminkt, ihr Teint glühte, und er dachte wie so oft, was für eine schöne Frau sie war, die Augen perfekt mandelförmig, die Gesichtszüge erstaunlich symmetrisch. Das Kleid aus Crashseide war in der Taille eng geschnitten, und ihre Figur sah aus wie ein Stundenglas. Er umarmte sie, darauf bedacht, ihre Lippen zu vermeiden, die rosa bemalt und mit einem dunkleren Rosa umrandet waren.
     "Sonnenschein am Abend! Asa! Ugo!", sagte er. "Chief muss keine Lichter anzünden, wenn du auf der Party bist."
     Sie lachte. So wie sie immer lachte, mit offenherziger Freude über ihr Aussehen, wenn die Leute sie fragten: "Ist Ihre Mutter weiß? Sind Sie Mischling?", weil sie so hellhäutig war. Das Vergnügen, das es ihr machte, für einen Mischling gehalten zu werden, verursachte ihm stets Unbehagen.
     "Daddy-Daddy!", rief Buchi und lief ihm auf die etwas unbeholfene Weise kleiner Kinder entgegen. Sie hatte gerade gebadet, trug einen Blümchenschlafanzug und roch süß nach Babylotion.
     "Buch-Buch! Daddys Buch!" Er hob sie hoch, küsste sie, rieb die Nase an ihrem Nacken und tat so, als würde er sie auf den Boden werfen, weil es sie immer zum Lachen brachte.
     "Willst du duschen oder dich nur umziehen?", fragte Kosi und folgte ihm nach oben, wo sie einen auffällig bestickten blauen Kaftan auf sein Bett gelegt hatte. Ihm wäre ein Hemd oder ein schlichterer Kaftan lieber gewesen als dieser, den Kosi für eine ungeheure Summe bei einem dieser prätentiösen Modedesigner auf Lagos Island gekauft hatte. Aber er würde ihn tragen, um ihr einen Gefallen zu tun.
     "Ich ziehe mich nur um", sagte er.
     "Wie war die Arbeit?", fragte sie wie immer auf vage freundliche Weise. Er sagte, dass er über den neuen Wohnblock nachgedacht habe, den er gerade in Parkview gebaut hatte. Er hoffe, dass Shell ihn mieten würde, denn die Ölfirmen seien immer die besten Mieter, die sich nie über abrupte Mieterhöhungen beschwerten und mit amerikanischen Dollar bezahlten, so dass sich niemand um den schwankenden Naira-Kurs kümmern müsse.
     "Mach dir keine Sorgen", sagte sie und berührte ihn an der Schulter. "Gott wird Shell bringen. Alles wird gut, Liebling."
     Die Wohnungen waren bereits an eine Ölfirma vermietet, aber manchmal erzählte er ihr sinnlose Lügen wie diese, weil ein Teil von ihm hoffte, dass sie Fragen stellen oder ihn herausfordern würde, obwohl er wusste, dass diese Hoffnung vergeblich war, weil ihr nur daran lag, dass ihre Lebensumstände unverändert blieben, und wie er das zuwege brachte, überließ sie ganz und gar ihm.


Auf Chiefs Party würde er sich wie gewöhnlich langweilen, aber er ging trotzdem hin, weil er immer zu Chiefs Partys ging, und jedes Mal, wenn er vor Chiefs großem eingezäunten Compound den Wagen abstellte, dachte er daran, wie er mit seiner Cousine Nneoma zum ersten Mal hierhergekommen war. Er war erst kurz aus England zurück, erst eine Woche wieder in Lagos, aber Nneoma murrte bereits, dass er immer nur in ihrer Wohnung herumlag, las und Trübsal blies.
     "Ahn-ahn! O gini? Bist du etwa der erste Mensch, der dieses Problem hat? Du musst raus und dich ins Zeug legen. Jeder legt sich ins Zeug. Das ist das Wichtigste in Lagos, dass man sich ins Zeug legt", sagte Nneoma. Sie hatte geschickte Hände mit dicken Handflächen und viele Geschäftsinteressen; sie flog nach Dubai, um Gold zu kaufen, nach China, um Frauenkleidung zu kaufen, und seit neuestem organisierte sie für eine Firma, die tiefgefrorene Hühner produzierte, den Vertrieb. "Ich würde ja sagen, hilf mir bei meinen Geschäften, aber das geht nicht, du bist zu weichherzig, du sprichst zu viel Englisch. Ich brauche jemanden mit gra-gra", sagte sie.
     Obinze schwindelte noch von dem, was ihm in England passiert war, er war noch umgeben von den Schichten seines Selbstmitleids, und Nneomas Frage "Bist du etwa der erste Mensch, der dieses Problem hat?" empörte ihn. Sie hatte keine Ahnung, diese Cousine, die im Dorf aufgewachsen war, die die Welt mit einem nüchternen, ungerührten Blick betrachtete. Aber langsam ging ihm auf, dass sie recht hatte; er war nicht der Erste, und er wäre nicht der Letzte. Er begann sich auf die Stellenanzeigen in den Zeitungen zu bewerben, doch niemand bat ihn zu einem Vorstellungsgespräch, und seine Schulfreunde, die jetzt bei Banken und Mobilfunkgesellschaften arbeiteten, fingen an, ihn zu meiden, weil sie Angst hatten, dass er ihnen seinen Lebenslauf noch einmal in die Hand drücken würde.

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