Vorgeblättert

Leseprobe zu Emmanuel Carrère: Alles ist wahr. Teil 3

13.02.2014.
Hélène und ich fahren selbst nach Tangalle. Der Tuk-tuk-Chauffeur ist redselig, many people dead, aber seine Frau und seine Kinder seien Gott sei Dank unverletzt. Als wir uns dem Krankenhaus nähern, überfällt uns ein ätzender Gestank. Selbst wenn man ihn noch nie gerochen hat, erkennt man ihn sofort. Dead bodies, many dead bodies, kommentiert der Chauffeur und hält sich ein Taschentuch vor die Nase und rät uns, es ihm gleichzutun. Im Hof schuften Männer, nur einige von ihnen haben Pflegerkittel an, die anderen, wahrscheinlich Freiwillige, tragen Zivilkleidung; auf Krankenbahren schaffen sie Leichen herbei und stapeln sie auf die Ladefläche eines mit einer Plane bespannten LKWs. Diese wird man fortschaffen, andere werden eintreffen. Wir betreten einen großen Raum im Erdgeschoss, der weniger der Empfangshalle eines Krankenhauses gleicht als einem Fischmarkt. Der Zementboden ist feucht und glitschig, man spritzt ihn regelmäßig ab, um einen Anschein von Frische zu bewahren. Die Leichen liegen aufgereiht da, ich zähle etwa vierzig. Sie sind seit gestern hier, viele von ihnen sind vom langen Verbleib im Wasser aufgedunsen. Es sind keine Weißen darunter, vielleicht wurden sie wie Juliette bevorzugt weggeschafft. Ihre Haut wirkt eher grau als dunkel. Ich habe noch nie einen Toten gesehen, es kommt mir plötzlich seltsam vor, bis zum Alter von siebenundvierzig Jahren davon verschont geblieben zu sein. Einen Stoffzipfel gegen die Nase gepresst besichtigen wir weitere Räume und steigen in den ersten Stock hinauf. Es gibt keinerlei Kontrolle, die Besucher sind kaum vom Krankenhauspersonal zu unterscheiden, keine Tür ist verschlossen, überall liegen graue, aufgeblähte Leichen. Ich denke an das Seuchengerücht und an den Holländer, der im Hotel mit großer Bestimmtheit sagte, wenn man all diese Toten nicht sofort verbrenne, sei eine Gesundheitskatastrophe unausweichlich, sie würden das Brunnenwasser vergiften und Ratten die Cholera in die Dörfer tragen. Ich habe Angst, durch den Mund zu atmen, aber auch durch die Nase, als könne dieser grauenhafte Gestank ansteckend sein. Ich frage mich, was wir überhaupt hier tun. Schauen. Nur schauen. Hélène ist die einzige Journalistin vor Ort, gestern Abend hat sie einen ersten Artikel diktiert, heute morgen einen zweiten, sie hat ihren Fotoapparat mitgenommen, aber sie bringt es nicht übers Herz, ihn herauszuziehen. Sie spricht einen sichtlich erschöpften Arzt an und stellt ihm ein paar Fragen auf Englisch. Er antwortet, aber wir verstehen nur die Hälfte. Als wir wieder draußen stehen, ist der LKW mit den Leichen abgefahren. Hinter dem Zaun, am Straßenrand, gibt es einen Grünstreifen mit trockenem, scharfem Gras, das von einem riesigen Ban­yanbaum überschattet wird; unter dem Banyan sitzen ein Dutzend Menschen. Weiße in zerfetzten Kleidern voller kleiner Wunden - sie haben sich nicht die Zeit genommen, sie zu versorgen. Wir gehen zu ihnen, und sie scharen sich um uns. Sie alle haben jemanden verloren, Frau, Mann, Kind, Freund, aber im Gegensatz zu Delphine und Jérôme haben sie diese nicht tot gesehen und wollen weiter hoffen. Die erste, die uns ihre Geschichte erzählt, heißt Ruth. Eine rothaarige, etwa fünfundzwanzigjährige Schottin. Sie bewohnte mit Tom einen Bungalow am Strand, sie waren frisch verheiratet und auf Hochzeitsreise. Sie standen zehn Meter voneinander entfernt, als die Welle kam. Ruth wurde fortgerissen, dann aber auf dieselbe Weise gerettet wie Philippe; ­seither sucht sie Tom. Sie hat ihn überall gesucht: am Strand, zwischen den Trümmern, im Dorf, auf der Polizeistation. Als sie verstanden hat, dass alle Leichen ins Krankenhaus gebracht werden, ist sie hierher gekommen und hat sich nicht mehr von der Stelle gerührt. Sie ist schon mehrmals drin gewesen und hat die Entladung der LKWs, die neue Leichen bringen, überwacht und auch die Beladung derer, die zu den Scheiterhaufen fahren, sie hat nicht geschlafen und nichts gegessen, die Leute vom Krankenhaus haben ihr gesagt, sie solle sich ausruhen, man hat ihr versprochen, sie zu benachrichtigen, falls es Nachrichten gäbe, aber sie will nicht weg, sie will mit den anderen hierbleiben, und die anderen bleiben aus dem gleichen Grund. Sie ahnen, dass die Nachrichten nur noch schlecht sein können. Aber sie wollen da sein, wenn der Körper ihres geliebten Menschen vom LKW gehoben wird. Da Ruth schon seit gestern Abend hier wacht, ist sie gut informiert: Sie bestätigt, dass die Leichen der Weißen, die im Krankenhaus ankommen, schnell nach Matara gebracht werden, wo es mehr Platz und offenbar auch einen Kühlraum gibt. Bei den Leichen der Dorfbewohner wartet man auf die Nachfragen der Familien, aber viele Familien, vor allem von Fischern, deren Häuser sehr nah am Wasser standen, wurden vollständig ausgelöscht, und es gibt niemanden mehr, der die Toten abholen könnte, also schickt man sie auf den Scheiterhaufen. Das alles geschieht auf chaotische, improvisierte Weise. Da Strom und Telefon unterbrochen und die Straße abgeschnitten sind, kann keine Hilfe von außen kommen, und was sollte dieses Außen auch sein, da doch die ganze Insel betroffen ist? Niemand ist verschont worden, jeder kümmert sich um seine eigenen Toten. Ruth formuliert es so, doch sie sieht wohl, dass Hélène und ich eine Ausnahme bilden. Wir sind unverletzt und beieinander, unsere Kleider sind sauber, und wir suchen niemanden Bestimmten. Nach diesem Besuch in der Hölle werden wir in unser Hotel zurückkehren, wo uns jemand das Mittagessen servieren wird. Wir werden im Swimmingpool baden, unsere Kinder in die Arme schließen und dabei denken: Das war knapp. Ein schlechtes Gewissen führt zu nichts, ich weiß, eher raubt es einem Zeit und Kraft, trotzdem quält es mich, und ich möchte es dringend loswerden. Hélène dagegen kümmert sich nicht um ihre Seelenzustände. Sie setzt ihre ganze Kraft ein, um zu tun, was in ihrer Macht steht. Auch wenn es vergeblich sein sollte, es muss getan werden. Sie ist aufmerksam und genau, stellt Fragen und denkt an alles, was von Nutzen sein könnte. Sie hat unser gesamtes Bargeld mitgenommen und verteilt es an Ruth und ihre Gefährten. Sie notiert die Namen eines jeden und dann die Namen und eine grobe Beschreibung der Vermissten. Sie will versuchen, morgen nach Matara zu fahren und dort nach ihnen suchen. Sie schreibt sich die Telefonnummern der Familien in Europa und in Amerika auf, um sie anzurufen und ihnen mitzuteilen: Ich habe Ruth gesehen, sie lebt, ich habe Peter gesehen, er lebt. Sie schlägt vor, diejenigen, die es wollen, mit ins Hotel zu nehmen, es würde reichen, wenn einer oder zwei als Wachposten hierblieben, inzwischen könnten die anderen etwas essen, sich waschen, sich verarzten lassen, ein bisschen schlafen und telefonieren, danach würden sie zur Ablösung wiederkommen. Doch keiner will mit.

Von diesen Weißen, die unter dem Banyan vor dem Krankenhaus Wache hielten, ist mir vor allem Ruth in Erinnerung geblieben, denn mit ihr sprachen wir am meisten und sie sahen wir auch später wieder, aber ich erinnere mich auch an eine korpulente, kurzhaarige Engländerin mittleren Alters, die ihre Freundin verloren hatte - my girlfriend, sagte sie - und ich stelle mir das Leben dieses alternden lesbischen Paars in ihrer englischen Kleinstadt vor, ihr Engagement in den ortsansässigen Vereinen, ihr liebevoll eingerichtetes Haus, ihre jährlichen Fernreisen, ihre Fotoalben - all das in Scherben. Die Rückkehr der Überlebenden, das leere Haus. Die Kaffeebecher mit dem Namen einer jeden, von denen einer nie wieder benutzt werden wird. Und die dicke Frau am Küchentisch, die ihren Kopf in die Hände legt und weint und sich sagt, von nun an bin ich allein und werde es bis zu meinem Tod bleiben … In den Monaten nach unserer Rückkehr war Hélène wie besessen von der Idee, noch einmal Kontakt mit den Mitgliedern dieser Gruppe aufzunehmen, um zu erfahren, was aus ihnen geworden war und ob einige von ihnen ein Wunder hatten erleben dürfen. Aber so sehr sie in unserem Gepäck auch nach dem Zettel suchte, auf dem sie alles notiert hatte, sie konnte ihn nicht wiederfinden, und wir müssen es hinnehmen, nie mehr von diesen Menschen zu hören. Das Bild, das ich bis heute von der halben Stunde bewahre, die wir mit ihnen verbrachten, gleicht einem Bild aus einem Horrorfilm. Da sind wir, sauber, adrett und verschont, und um uns herum diese Schar von Aussätzigen, von Strahlenopfern, von verwilderten Schiffbrüchigen. Am Abend zuvor waren sie noch wie wir und wir wie sie, aber ihnen geschah etwas, das uns nicht geschah, und jetzt gehören wir zu zwei verschiedenen Sorten von Mensch.

Am Abend erzählt uns Philippe von seiner Liebe zu Ceylon; vor mehr als zwanzig Jahren kam er zum ersten Mal hierher. Er war Informatiker in einem Pariser Vorort gewesen und hatte von fernen Ländern geträumt, dann freundete er sich mit einem sri-lankischen Kollegen an, und dieser lud Philippe, seine damalige Frau und die damals noch kleine Delphine auf die Insel ein. Es war ihre erste große Familienreise, und sie liebten einfach alles: das Gewimmel der Städte, die Frische der Berge, den Dämmerschlaf der Dörfer am Ozean, die Reisterrassen, die Schreie der Geckos, die Dächer aus gewellten Ziegeln, die Tempel im Regenwald, die Morgendämmerung, das Lächeln der Leute und die Reiscurrygerichte, die man mit den Fingern isst. Philippe dachte: Das ist das wahre Leben, hier will ich irgendwann bleiben. Doch noch war es nicht so weit. Der sri-lankische Kollege ging nach Australien, man schrieb sich hin und wieder, verlor sich dann aber aus den Augen; die Verbindung zur Zauberinsel brach ab. Philippe hatte genug davon, ein höherer Angestellter aus der Vorstadt zu sein, er begeisterte sich für Wein, und zu dieser Zeit fand ein Informatiker leicht gutbezahlte Arbeit, wo immer er wollte, also zog er in die Nähe von Saint-Émilion. Dort baute er sich schnell einen eigenen Kundenstamm auf: große Winzer und Einkaufszentralen, deren Verwaltungssysteme er modernisierte und wartete. Seine Frau eröffnete eine Boutique, die sehr gut lief - entgegen jeder Erwartung, denn es handelte sich um eine Gegend mit dem Ruf, Zugezogenen nicht besonders offen zu begegnen. Sie lebten nun auf dem Land, in einem hübschen Haus zwischen Weinreben, und verdienten gut mit Dingen, die sie gern machten: eine gelungene Veränderung. Dann lernte Philippe Isabelle kennen und ließ sich ohne große Dramatik scheiden. Delphine wurde älter, umwerfend hübsch und klug. Mit nicht einmal fünfzehn Jahren traf sie zum ersten Mal Jérôme und beschloss, dass er ihr Mann fürs Leben sei. Er war einundzwanzig, sah gut aus, stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden und war Erbe einer reichen Weinhändlerfamilie. In seinen Kreisen scherzt man nicht mit Standesunterschieden, aber als sich seine jugendliche Schwärmerei mit den Jahren zu einer ernsthaften, beidseitigen Verbindlichkeit entwickelte, wusste Jérôme dem Druck der Seinen zu widerstehen und zeigte Entschlossenheit und Charakterstärke: Er liebte Delphine und hatte sie erwählt, niemand würde sie ihm nehmen. Philippe vergötterte seine Tochter, man hatte allen Anlass zu befürchten, dass nie ein Anwärter vor ihm würde bestehen können, aber auch bei ihm und Jérôme war es Liebe auf den ersten Blick: eine freundschaftliche Liebe zwischen Schwiegersohn und Schwiegervater. Trotz der zwanzig Jahre Altersunterschied entdeckten beide aneinander die gleichen Vorlieben: für große Bordeaux-Weine und die Rolling Stones, Pierre Desproges und das Angeln und als Krönung all dessen ihre Liebe zu Delphine. Schon bald ähnelte ihre Beziehung einer zwischen alten Freunden. Die beiden Jungverheirateten fanden ein Haus etwa zehn Kilometer von dem Dorf entfernt, wo Philippe und Isabelle wohnten, und die beiden Paare wurden unzertrennlich. Sie tafelten zu viert mal bei den einen, mal bei den anderen, und Philippe und Jérôme zogen jeder eine Flasche hervor, die man mit verbundenen Augen verkostete, man verbrachte den Abend damit, sich über Farbton, Geschmacksnote und Weintränen auszulassen, zum Dessert zündete man sich einen Joint mit selbst angebautem Gras an und legte Angie oder Satisfaction auf, alle liebten sich und waren glücklich. Unterm Weinlaub begann Philippe wieder von Sri Lanka zu sprechen. Acht Jahre lag die ers­te Reise nun schon zurück, doch seine Sehnsucht nach diesem Land war geblieben. An einem Herbstabend kurz nach der Weinlese aßen sie draußen zu Abend, sie hatten einen Château-Magdelaine von 1967, Jérômes Geburtsjahr, getrunken und sprachen davon, in den Ferien zu viert nach Sri Lanka zu fahren, da warf Isabelle eine Idee in die Runde: Und wenn die beiden Männer vorher eine kleine Erkundungstour machten?

Diese kleine, fünfwöchige Erkundungstour durch Sri Lanka ist den beiden in zauberhafter Erinnerung. Mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Guide du routard in der Tasche stiegen sie aufs Geratewohl in Züge, Busse und Tuk-tuks, landeten auf Dorffesten und gerieten an die unterschiedlichsten Menschen. Philippe war stolz, seinem Schwiegersohn seine Insel zu zeigen, und zunächst etwas perplex, dann aber auch beeindruckt, dass dieser sich dort nach einigen Tagen sogar besser zurechtfand als er. Mit seinem Format, seinem Humor und seiner gutmütigen Ironie stelle ich mir Jérôme als einen idealen Reisegefährten vor: einer, der die Dinge auf sich zukommen lässt, der es nicht eilig hat und nie völlig überrascht ist, der Widrigkeiten als Herausforderungen betrachtet und Fremden als möglichen Freunden begegnet. Der kleinere, nervösere, redseligere Philippe wieselte wahrscheinlich um diesen Ruhepol herum wie sein Quasi-Doppelgänger Pierre Richard um Gérard Dépardieu in Zwei irre Spaßvögel oder Ein Tollpatsch kommt selten allein. Und sicher amüsierte es sie köstlich, ihre Gesprächspartner auf den Veranden der guesthouses mit der Auskunft zu überraschen, sie seien Schwiegersohn und Schwiegervater.

Dann fuhren sie in den Süden. Die Küstenstraße von Colombo nach Tangalle, für die wir mit dem Taxi einen halben Tag gebraucht haben, nahmen sie in langen Etappen, und je träger sie sich in Kurven dahinwandte und von der Hauptstadt entfernte, desto paradiesischer und zeitloser erschien das Leben zwischen Brandung und Kokospalmen. Die letzte richtige Stadt an dieser Küste ist Galle, die portugiesische Festung, wo Nicolas Bouvier vierzig Jahre zuvor einsam gestrandet war und in Gesellschaft von Termiten und Geistern eine geraume Zeit in der Hölle verbracht hatte. Philippe und Jérôme empfanden nicht die geringste Affinität zur Hölle und setzten ihren Weg fröhlich pfeifend fort. Nach Galle gibt es nur noch ein paar Fischerdörfer: Welligama, Matara, Tangalle und das vorgelagerte Medaketiya. Eine Handvoll gischtangefressene Häuser aus grünen oder rosa Backsteinen und einen Dschungel aus Kokospalmen, Bananenstauden und Mangobäumen, deren Früchte einem direkt auf den Teller fallen. Weißer Sandstrand, Einbäume, die mit bunten Balancierstangen gesteuert werden, Fischernetze, Hütten. Keine Hotels, dafür einige Häuschen, die als guesthouses dienen und deren Besitzer M. H. genannt wird. Das heißt, eigentlich trägt er einen dieser sri-lankischen Namen mit mindestens zwölf Silben, ohne die ein Mensch kein Gewicht hat auf Erden, aber um den Ausländern das Leben leichter zu machen, nennt er sich M. H. und spricht das englisch aus: ämäitsch. Medaketiya und das guesthouse von M. H., das ist der Traum aller Rucksackreisenden dieser Welt. Der Strand. Das Ende der Reise, der Ort, an dem man sich endlich niederlässt. Lächelnde, unkomplizierte Einwohner, die einen nicht über den Tisch ziehen. Kaum Touristen und die wenigen ­einem selbst ähnlich: ruhige Individualisten, die den Geheimtipp eifersüchtig für sich behalten. Philippe und Jérôme blieben drei Tage dort, sie schwammen im Ozean, aßen abends den Fisch, den sie morgens selbst fingen, tranken Bier, rauchten Joints und gratulierten sich gegenseitig zum Erfolg ihrer Erkundungen: Das Paradies auf Erden existierte tatsächlich, sie hatten es gefunden - fehlten nur noch ihre Frauen. Als sie M. H. bei der Abreise ankündigten, bald wiederzukommen, wünschte dieser ihnen höflich das sri-lankische Pendant zu Inschallah, doch tatsächlich kamen sie schon im nächsten Jahr zu viert zurück und auch im übernächsten und in allen folgenden Jahren. Ihr Leben richtete sich mehr und mehr zwischen Saint-Émilion und Medaketiya ein. Vor allem Philippes, denn die anderen hatten mehr Verpflichtungen und kamen nur während der Ferienzeit in Europa mit, er dagegen verbrachte jedes Jahr drei oder vier Monate dort. Immer bei M. H., der nach und nach ihr Freund wurde und sie sogar einmal in der Gironde besuchte - wobei die Reise nicht besonders glücklich verlief. So weit von seinen Wurzeln entfernt fühlte sich M. H. nicht recht wohl, und er konvertierte auch nicht zu den Grands Crus der Bordeaux-Weine. Nun gut. Schließlich zog Philippe vom guesthouse in einen anderen Bungalow um, den M. H. ihm fest vermietete. Isabelle und er richteten ihn nach ihrem eigenen Geschmack ein, und er wurde ein echtes Zuhause. Sie hatten ein Haus in Medaketiya, Freunde in Medaketiya. Jeder dort kannte und mochte sie. Als Juliette geboren wurde, nahmen sie sie schon als Baby mit. M. H. hatte zu seinen großen Söhnen spät noch eine kleine Tochter namens Osandi bekommen, und die drei Jahre ältere Osandi lernte schon bald, sich um Juliette zu kümmern wie um eine Schwester.

Am liebsten brach Philippe immer schon einen Monat vor den anderen auf und verbrachte diesen Monat allein in Medaketiya, wissend, dass die anderen bald nachkämen. Er genoss sowohl die Einsamkeit als auch das Glück, eine Familie zu haben: eine Frau, mit der er ein gutes Gespann bildete, eine wunderbare Tochter - so wunderbar, dass es ihr gelungen war, mit der Wahl ihres Mannes zugleich einen Freund für ihn zu finden, und zwar seinen bes­ten Freund - und eine Enkelin, die ihrer Mutter wie aus dem ­Gesicht geschnitten war. Ja, es war ein gutes Leben. Er war zum richtigen Moment Risiken eingegangen - der Umzug nach Saint-Émilion, sein Berufswechsel, die Scheidung -, aber er war auch nicht puren Hirngespinsten gefolgt, hatte anderen nicht übermäßig weh getan, war nicht mehr versucht, irgendetwas zu erobern, sondern wollte nur noch genießen, was er gefunden hatte: das Glück. Und noch etwas teilte er mit Jérôme, was bei einem jungen Mann selten zu finden ist: einen leicht spöttischen, aber nicht boshaften Blick auf Leute, die hin- und herrennen und sich Stress machen und Intrigen spinnen, die hungrig sind nach Macht und Einfluss auf ihre Umgebung. Die Ehrgeizigen, die kleinen Chefs, die Niezufriedenen. Jérôme und er gehörten eher zu denen, die ihre Arbeit gut machten, die aber, sobald die Arbeit erledigt und das Geld eingegangen war, gemütlich davon profitierten, statt sich noch mehr aufzuhalsen, um noch mehr Geld zu scheffeln. Sie besaßen nicht nur alles, was man braucht, um mit seinem Leben zufrieden zu sein - nicht jeder hat dieses Glück -, sondern auch und vor allem die Klugheit, sich damit zu bescheiden, zu lieben, was sie besaßen, und nicht nach mehr zu schielen. Die Gabe, sich dem Leben ohne schlechtes Gewissen und ohne Hast hinzugeben, im Schatten eines Banyans ein träges, humoriges Gespräch zu führen und dabei schlückchenweise sein Bier zu schlürfen. Ein Garten will schließlich gepflegt sein. Carpe diem. Um glücklich zu sein, leben wir unauffällig. Philippe formuliert es nicht so, aber ich verstehe es so, und während er davon erzählt, fühle ich mich weit von dieser Klugheit entfernt, ich, der ich immer eine gewisse Unzufriedenheit und Anspannung empfinde und Träumen von Ruhm hinterherrenne und meine Liebesbeziehungen zerstöre, weil ich mir einbilde, eines Tages irgendwo noch etwas Besseres zu finden.

Philippe war überzeugt: Ich habe den Ort gefunden, an dem ich leben und sterben will. Ich habe meine Familie hergebracht und eine zweite gefunden, die von M. H. Wenn ich in meinem Rattansessel die Augen schließe, unter meinen nackten Füßen die Holzplanken der Bungalowterrasse spüre, wenn ich nebenan den Besen aus Kokosstroh über den Sand rascheln höre, mit dem M. H. jeden Morgen sein kleines Grundstück fegt, dann sagt mir dieses so vertraute und besänftigende Geräusch: Du bist am richtigen Fleck. Du bist zuhaus. Nach dem Auskehren wird M. H. in seinem karminroten Sarong gelassen und würdevoll zu mir herüberschlendern. Wir werden zusammen eine Zigarette rauchen und ein paar Belanglosigkeiten austauschen wie zwei alte Freunde, die keiner Worte bedürfen, um sich zu verstehen. Ich glaube, ich bin wirklich ein Sri Lanker geworden, sagte Philippe eines Tages, und er erinnert sich an den freundschaftlichen, aber leicht ironischen Blick, mit dem M. H. ihm zu verstehen gegeben hatte: Das glaubst auch nur du … Es hatte ihn ein bisschen geärgert, war ihm aber auch eine Lektion gewesen: Ja, er war ein Freund geworden, aber für M. H. blieb er ein Fremder. Wie auch immer er selbst darüber befand, für M. H. spielte sich Philippes Leben woanders ab.

Philippe könnte heute denken: Meine Enkelin ist in Medaketiya gestorben, unser Glück wurde dort in wenigen Augenblicken zerstört, ich will nichts mehr hören von diesem Ort. Aber so denkt er nicht. Er denkt, er wird dem toten M. H. endgültig beweisen, dass sein Leben hier, bei ihnen, spielt, er wird ihm beweisen, dass er einer von ihnen ist; und nachdem sie die guten Tage geteilt haben, wird er sich jetzt nicht von ihrem Unglück abwenden, seine Siebensachen packen und sagen: Tschüss, vielleicht sieht man sich mal wieder. Er denkt an das, was von M. H.s Familie übriggeblieben ist, an ihre zerstörten Häuser, an die Häuser ihrer Fischer-Nachbarn, und er sagt: Ich will bei ihnen bleiben. Ihnen helfen, alles wiederaufzubauen und ein neues Leben zu beginnen. Er will sich nützlich machen, was sollte er sonst mit sich anfangen?

                                                   *

Auszug mit freundlicher Genehmigung von Matthes & Seitz
(Copyright Verlag Matthes & Seitz)


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