Vorgeblättert

Leseprobe zu Eugen Ruge: Cabo de Gata. Teil 1

30.05.2013.
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An Weihnachten erinnere ich mich nicht mehr, wohl aber an die Silvesternacht.
     Es war meine letzte Nacht in Berlin, und eigentlich hatte ich vorgehabt, zu der Party eines Freundes zu gehen, genauer: eines ehemaligen Freundes, denn seit er sich nach der Wende selbständig gemacht hatte (bis heute ist mir nicht klar, womit eigentlich; das Einzige, was ich von seiner Selbständigkeit mitbekam, war, dass er ständig irgendwelche Präsentationen vorbereitete und deshalb nie Zeit hatte), war der Kontakt zwischen uns nach und nach eingeschlafen. Nun lud er, zusammen mit irgendwelchen anderen Selbständigen, zu einer Großparty in eine Fabriketage, dreihundert Leute, die mir, so viel war klar, fast alle fremd sein würden –- genau die Art von Veranstaltung also, die ich für gewöhnlich meide. Dieses Mal jedoch hatte ich mich entschlossen, hinzugehen, unterzutauchen, mir das trügerische Gefühl zu verschaffen, unter Menschen zu sein. Aber dann rief Karolin an und fragte mich, ob ich Sarah sehen wolle. Das Kind habe Sehnsucht nach mir.
     Ich erinnere mich recht gut an das Telefonat. Es war wie immer fragil, vom Abriss bedroht. Karolin bat nicht, sondern fragte, und jedes Zögern hätte zum Zurückziehen der Frage geführt und mich mit unguten Gefühlen zurückgelassen. Darin war Karolin groß: im Heraufbeschwören unguter Gefühle. Sie sprach nie etwas aus, aber wenn ich über die Botschaft nachdenke, die sich dieses Mal hinter der scheuen Attitüde verbarg, war es die: Es ist schließlich nicht deine Tochter, schien sie mir sagen zu wollen, und wenn du nun nichts mehr mit ihr zu tun haben willst, dann ist das dein gutes Recht– und sofort hatte ich mich selbst in Verdacht, ich hätte in dem Kind schon die ganze Zeit nichts anderes gesehen als eine letzte Brücke zu ihr, zu Karolin; ich hätte die Tatsache, dass Karolin sich noch immer nicht entschlossen hatte, ihre Tochter über die Vaterschaftsfrage aufzuklären, vor allem deshalb insgeheim begrüßt, weil ich glaubte, daraus schließen zu können, dass unsere Beziehung vielleicht doch noch eine Chance habe– während das Kind, wie sich nun herausstellte, sich nach mir sehnte.
     Aber schon in dem Moment, als Karolin mir die Tür öffnete, mit um den Kopf gewickeltem Handtuch, im rasch übergeworfenen Bademantel, unter dem schwarze Strümpfe hervorlugten schon in diesem Moment war mir klar, dass sie das Kind lediglich zu Silvester hatte los sein wollen, weil sie vorhatte, sich an irgendeinen Typen ranzuwerfen, so wie sie sich damals an mich rangeworfen hatte, heroisch, aber auch irgendwie asozial, schwer zu erklären, vielleicht auch nur peinlich, zuzugeben, was mich damals an Karolin angezogen hatte: der etwas zu schrille Lippenstift im übernächtigten Gesicht; ihre geschundenen Füße in den brutal hohen Pumps; ihre an Selbstverleugnung grenzende Entschlossenheit.
     Sarah stand im Flur, überraschend groß, so schien mir, nachdem ich sie einige Wochen lang nicht gesehen hatte. Sie war still, scheu, traute sich kaum, mich anzusehen, und mir war übel, als ich mich hinunterbeugte und ihr ein paar freundliche Worte sagte. Mir war übel von Karolins Nähe, vom Geruch der Wohnung, vom Anblick des alten Sofas, auf dem sie mich –und zwar an unserem ersten Abend! – mit ihren frisch nachgezogenen Lippen zur Ejakulation gebracht hatte. Ich sah zu, wie Karolin dem leicht widerstrebenden Kind unter gutem Zureden die Jacke anzog, ihr den mit irgendwas vollgepackten Schulranzen umhängte, ich sah, als sie sich herunterbeugte, ihre von Schwangerschaft und Stillzeit leicht erschlafften, kleinen Tütenbrüste, die mir in diesem Moment unendlich begehrenswert erschienen – bis Karolin, als könnte sie Gedanken lesen, das Revers ihres Bademantels zusammenzog.
     Sarah und ich gingen in das gerade eröffnete Restaurant der Nordsee-Kette und bestellten fish and chips (Sarah vor allem wegen der chips, den Fisch durfte größtenteils ich essen). Dann schauten wir uns einen Kinofilm an, irgendeinen Zeichentrickfilm, von dem ich nichts mitbekam, weil ich die ganze Zeit daran dachte, wie Karolin diesen Abend verbringen würde; ich stellte mir vor, dass sie alles, was wir damals getan hatten, heute mit einem anderen tat, mit irgendeinem, wie ich unwillkürlich annahm, reichen Heini, einem Rechtsanwalt aus Düsseldorf oder einem Münchner Designer; ich stellte mir vor, wie sie ihn, nachdem sie sich schon den ganzen Abend beim Tanz aneinander gerieben und sich gegenseitig Albernheiten ins Ohr geflüstert hatten, um zwei Uhr nachts noch zu sich nach Hause einlud, wie sie ihm mitten in der Nacht ein Steak in die Pfanne haute, wie sie ihm mit aufgestellten Füßen und zusammengepressten Oberschenkeln gegenübersaß und ihn anhimmelte.
     Aus Angst, Sarah könnte sich in meiner leeren Wohnung langweilen, hatte ich alle nötigen Zutaten besorgt, um mit ihr Bratäpfel mit Vanillesoße zuzubereiten, aber dann war das Kind ganz außer sich vor Freude darüber, dass es mit den im Schulranzen mitgebrachten Stiften an die Wände malen durfte, und ich stand mit meinen Bratäpfeln allein in der Küche, knackte Nüsse mit einem alten Stechbeitel, höhlte Äpfel aus, und Sarah rührte lediglich die Vanillesoße an in dem letzten verbliebenen Topf, wobei ich verblüfft feststellte, dass sie wusste, wie es ging, sogar ohne auf die Anleitung zu schauen, und erst jetzt, als ich ihr beim Kochen der Vanillesoße zuschaute, wurde mir bewusst, dass sie eine Frau zu werden begann– und dass ich nicht nur Karolin, sondern auch Sarah verlieren würde. Bald würde sie erfahren, dass ich nicht ihr Vater war. Bald würde Karolin wieder in einer festen Beziehung leben, würde womöglich heiraten (früher, als sie noch Hoffnungen auf mich gesetzt hatte, hatte sie immerzu heiraten wollen), würde nach Düsseldorf oder München oder, weiß der Teufel, nach Amerika ziehen, so etwa gingen meine Gedanken, und irgendwann, stellte ich mir vor, würde mir auf der Straße eine dunkle, hochgewachsene Schönheit begegnen, die mich viel zu alten Mann verstohlen ansah, und erst wenn sie schon vorbeigegangen sein würde, würde ich begreifen, warum diese junge Frau mich angesehen hatte Aber, siehe da, hier trügt mich meine Erinnerung. Denn das Bild von der dunklen Schönen, an das ich mich zu erinnern glaube, gleicht der heutigen Sarah aufs Haar, und schließlich kann ich damals kaum gewusst haben, wie Sarah einmal aussehen würde.

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