Vorgeblättert

Leseprobe zu Fadhil al-Azzawi: Der Letzte der Engel. Teil 1

07.08.2014.
Zweites Kapitel

Eigentlich hatte das Chukor-Viertel keine Sorgen - außer der Armut und den Dämonen. Die Armut hatte viele Menschen - meist zugezogene Araber - in die Dieberei getrieben; sie brachen des Nachts in Läden und Häuser ein. Die Dämonen aber, von denen das Viertel nur so wimmelte, weil es ganz in der Nähe des Friedhofs lag, hatten viele veranlasst, Derwisch und Magier zu werden. Es waren meist Turkmenen, die einen großen Teil ihrer Zeit der Auseinandersetzung mit den Geistern widmeten, welche das Chukor-Viertel als Wohnsitz für sich auserkoren hatten. Als Burhan Abdallah, ein Junge von sieben Jahren, eines Tages sagte, dass die Dämonen der Armut folgten und die Diebe den Dämonen, wunderten sich die Leute. Auf die Frage, was das zu bedeuten habe, gab er keine Antwort, denn er selbst kannte den Sinn dieses Satzes nicht. Doch als sein Vater, Abdallah Ali, der in der Ölfirma arbeitete, ihn nach der Herkunft dieses Satzes fragte und wissen wollte, ob der Mullah, bei dem er die Koranrezitation erlernte, ihn dies gelehrt habe, stritt der Junge trotzig mit den Worten ab: "Nein, das habe ich geträumt."

Dann erzählte er ihm die Geschichte seines Traumes:
Er habe auf einem Hügel gesessen, der über das Chukor-Viertel blickte, und die Dämonen und die Räuber beobachtet, die sich im Viertel tummelten. Er habe vor Angst geschrien, doch da seien drei weiß gewandete Scheichs mit langen, hennarot gefärbten Bärten auf ihn zugekommen, hätten ihm die Hände auf den Kopf gelegt und gesagt: "Hab keine Angst, mein Sohn, denn die Dämonen folgen der Armut und die Diebe folgen den Dämonen." Dann hätten sie dort, wo er saß, ein grünes Banner in den Boden gesteckt und sich zurückgezogen.

Der Vater des Knaben schüttelte nachdenklich den Kopf. "Ich glaube", sagte er zu seiner Frau Kadrija, "unser Sohn wird ein Prophet werden." Die Frau aber widersprach ihrem Mann und klärte ihn darüber auf, dass das Banner Führerschaft bedeute und dass er ein Kommissar bei der Polizei werden würde. Seinen Sohn aber forderte der Vater auf, diesen seinen Traum geheim zu halten und niemandem davon zu erzählen.

     Als Kadrija Musa ihren Wunsch äußerte, dass ihr Sohn ein Kommissar bei der Polizei werde, offenbarte sie in Wahrheit ihren Neid auf den Wohlstand, dessen sich das Heim von Hasanija erfreute, der Tochter des Totengräbers, die ihrerseits dafür gekämpft hatte, dass ihr Sohn ein Kommissar werde. Täglich nämlich brachten Polizisten in Uniform Flaschen mit Öl, Säcke voller Reis und Weizen, Hühnerkäfige und Körbe voller Eier als Bestechung für ihren Sohn zu ihm nach Hause, ja mehr noch, Kommissar Nagib, der die zwanzig noch nicht überschritten hatte, wurde stets in einem Jeep bis vor seine Haustür gebracht, und jeder Polizist, dem er unterwegs begegnete, erbot ihm den militärischen Gruß, selbst wenn er ihn gar nicht kannte. All dies hatte ihn zum Neidobjekt werden lassen, und die Herzen der Mädchen schlugen höher, sobald er vorbeiging. Sie lugten vorsätzlich auf die Straße oder lüpften sogar den Vorhang, der gewöhnlich hinter der Haustür angebracht war, in der Hoffnung, er werde auf sie aufmerksam und bitte seine Mutter, für ihn um ihre Hand anzuhalten.
     Wie auch immer …, das Schicksal wollte es, dass dieser Satz, dessen Bedeutung der Knabe Burhan Abdallah zu jener Zeit nicht kannte, seine Spuren in seinem späteren Leben hinterließ. Es stimmte wohl, dass die drei Männer mit den langen Bärten und den weißen Gewändern dies im Traum zu ihm gesagt hatten, aber er hatte es bereits vorher schon einmal gehört. Als er die Zauberkiste seiner Vorväter geöffnet hatte - eine Holzkiste, die er in einer vergessenen Ecke des Hauses entdeckt hatte -, hatte er sich träumend in einem in Nebel versunkenen Zaubertal wiedergefunden.
     In Wahrheit aber war der Junge ein durchtriebener Schelm, ja, er hielt sich sogar für einen Denker, und was sein Vater über ihn gesagt hatte, nämlich dass er ein Prophet sein würde, gefiel ihm nur allzu gut. Er hatte in nur wenigen Monaten den ganzen Koran auswendig gelernt und hielt sich selbst für durchaus würdig, eine solche Mission zu übernehmen. Als er damals auf die Buchstaben gestarrt und ihre Beziehung zum gesprochenen Wort begriffen hatte, hatte er Lesen und Schreiben gelernt, ohne indes sein Geheimnis preiszugeben. Seine Eltern würden dieses Geheimnis ohnehin nicht aufdecken, da sie selbst Analphabeten waren, und Mullah Zain al-Abidin al-Qadiri verbrachte die meiste Zeit damit, die Beine seiner vorlauten Schüler in die Bastonadestellung zu pressen und mit einem Stock auf ihre Fußsohlen zu schlagen.
     Burhan Abdallah war durch puren Zufall auf dieses seltsame Kästchen gestoßen. Das Haus bestand aus einem großen Raum, in dem sich, wie es Brauch war, zwei Marmorbänke befanden. Davor lag als Eingang eine Art Vorraum mit einem Lehmfußboden, der als Küche diente, und der gleichfalls der Eingang zu einem finsteren, heruntergekommenen Raum war, in den kein Licht fiel und der an das große Zimmer angrenzte. Es war so etwas wie ein verlassenes Lager, das wegen der vielen Skorpione darin kaum einmal betreten wurde. Von dieser Rumpelkammer aus gelangte man über einige teils bröcklige Steinstufen zu einem darüberliegenden Raum, eine Art Dachboden, aus Gips errichtet, mit zwei kleinen quadratischen Fensterluken, die sich zur Straße hin öffneten. Auch diese Dachkammer war verlassen, obwohl tagsüber genügend Licht hineinfiel. Auf einer Seite lagen Überreste kurioser und vor langer Zeit, vielleicht vor Jahrhunderten achtlos dort abgestellter Gegenstände. Niemand im Hause hatte jemals auch nur im Entferntesten daran gedacht, sich mit diesen vergessenen Überbleibseln zu beschäftigen. Sie waren einfach da, weder störten sie, noch nützten sie, und vielleicht wollte auch niemand den Staub von der Vergangenheit wischen. Mehr noch als das aber war dieser Teil des Hauses, der so unbeachtet war, als würde er gar nicht existieren, eine Behausung für Dschinne.
     Der Junge, der noch nie einen Dschinn gesehen hatte, stahl sich eines Tages heimlich in die Dachkammer, um dort vielleicht den guten Hausdschinn zu treffen, von dem ihm seine Mutter immer erzählte. In jedem Haus gab es einen guten Dschinn, der das Haus bewachte. Obwohl dieses Abenteuer nicht ganz ungefährlich war, wurde der Knabe doch von einer starken Willenskraft getrieben, und er hatte beschlossen, sich nicht zu fürchten, wenn der Dschinn sich ihm zeigen sollte; stattdessen wollte er mit ihm sprechen wie mit jedem anderen Menschen auch. Und selbst wenn der Dschinn ihn mit sich nehmen wollte, würde er einen Ausflug in die eigenartigen Welten der Dschinne, die Geschichten verhießen, wie sie ihm sein Vater zu erzählen pflegte, sicher nicht bedauern. Burhan Abdallah hatte sogar tatsächlich eine Liste mit Bitten mitgebracht, die er dem guten Hausdschinn unterbreiten wollte, denn die Dschinne waren zu allem fähig. So etwa wollte er den Dschinn darum bitten, alle Tore des Chukor-Viertels in Gold zu verwandeln, die alte Hidaja in eine Kuh zu verhexen und ihm eine Tarnkappe zu beschaffen, damit er einigen der größeren Jungs eine Tracht Prügel verabreichen könne.

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