Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans Christoph Buch: Baron Samstag. Teil 1

25.02.2013.
BILDBESCHREIBUNG

Im Zentrum des sechzig mal fünfundvierzig Zentimeter großen, nein kleinen Bildes des Malers und Voodoo-Priesters André Pierre steht der Totengott Baron Samedi alias Maître Lacroix: Nicht, wie in Haiti üblich, als androgyner Gott dargestellt mit breiten Hüften und dem Busen einer Frau, sondern als alter Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart und buschigen Koteletten, der einen mit Voodoo-Symbolen bestickten Anzug im Stil des Fin de siècle trägt, dazu einen schwarzen Zylinder, auf den ein an eine Piratenflagge erinnernder Totenschädel mit gekreuzten Knochen gezeichnet ist. Statt der auf Hochglanz polierten Lackschuhe, in denen er sonst immer auftritt, ist Baron Samstag barfuß, um den Kontakt zur Erde nicht zu verlieren, aus der er wie Antaios seine Kraft bezieht, denn dort ruhen die Gebeine der Vorfahren, deren Totenruhe er durch Trommeln stört und die er mit Tanzschritten und rhythmischem Sprechgesang zum Leben erweckt. Vielleicht ist das der Grund, warum man vor Beginn einer Voodoo-Zeremonie den Boden des Tempels mit Friedhofserde bestreut, auf die der Laplace genannte Gehilfe des Priesters mit Maismehl geometrische Muster malt. Die Rede ist von einem als manger morts bezeichneten Ritual, das in der Nacht vor Allerheiligen in den Houmforts von Haiti gefeiert und vor den Blicken Unbefugter, nicht in die Mysterien Eingeweihter, abgeschirmt wird. Erst als der Lehmboden des Tempels mit an Freimaurersymbole erinnernden Ornamenten verziert war, genannt Vévés, begann die Zeremonie, bei der die Priesterin, in der Baron Samstag sich um Mitternacht inkarnierte, mich von einem Schlangenbiss heilte, der meinen Fußknöchel hatte anschwellen lassen auf die Größe einer Kokosnuss. Das ist jetzt dreißig Jahre her: Genau genommen war es keine Giftschlange, sondern ein Riesenblutegel, haementeria ghilianii, der sich in Französisch-Guyana, an der Wasserscheide zwischen Amazonas und Orinoko, an meiner Ferse festgesaugt hatte, als mein Mietwagen, ein altersschwacher Citroën, auf einer Dschungelpiste im Schlamm steckenblieb, und ich hatte keine Zeit, das wie ein Aal sich windende Tier genauer in Augenschein zu nehmen, bevor Raphaël, mein einheimischer Führer und Chauffeur, seine Gauloise oder Gitane auf ihm ausdrückte. Auf dem Rückflug von Cayenne nach Port-au-Prince entzündete sich der kreuzförmige Biss und tat höllisch weh, die Schuhe passten mir nicht mehr und ich bewegte mich mühselig humpelnd am Stock, bis die Priesterin, will sagen Baron Samstag, mit Friedhofserde und einer monotonen Litanei, von der ich nur die Hälfte verstand, meinen Fuß entgiftet und mich von den Folgen des Bisses kuriert hatte.

Auf dem eingangs erwähnten Bild hat Maître Lacroix alias Simon der Sargtischler das Kreuz geschultert, das er für die Hinrichtung Christi gezimmert und diesem abgenommen hat, als der Messias, durch Folter und Blutverlust geschwächt, auf dem nach Golgatha führenden Kalvarienweg unter der Last des Kreuzes zusammenbrach. Vielleicht ist Baron Samstag mit dem ewigen Juden identisch, der seit zweitausend Jahren Länder und Meere durchstreift, ohne leben oder sterben zu können: Ein Vorläufer des fliegenden Holländers, dem man in allen Häfen die Landung verwehrt, und ein Zombie im wahren Sinn des Wortes, denn es ist kein Zufall, dass die lebenden Toten wie die Boat People in Haiti beheimatet sind.

Zu Füßen, nein: unter den Fersen des Barons befindet sich ein mit Vévés verziertes Grab, auf dem eine Kerze brennt neben einem Kreuz mit der Inschrift HINRI, die auf Jesus von Nazareth, den König der Juden, ebenso verweist wie auf Henri Christophe, den König von Haiti, der im Norden der Insel von befreiten Sklaven, die er erneut versklavte, eine Festung errichten ließ, genannt La Citadelle, bei deren Bau zwanzigtausend Zwangsarbeiter ums Leben kamen. Hier schoss König Christophe, nach einem Schlaganfall gelähmt, sich, um seinem Sturz zuvorzukommen, eine goldene Kugel in den Mund, die ihm das Direktorium der Republik zusammen mit einer Pistole aus der Manufaktur von Versailles für seine historischen Verdienste verliehen hatte.

Beim Aufstieg nach Golgatha, ein hebräischer Ortsname, der Galgenberg oder Schädelstätte bedeutet, tritt Grande Brigitte, die Herrin der Friedhöfe, Baron Samstag entgegen - im Pantheon der Voodoo-Götter wird Grande Brigitte mit Maria Magdalena oder der Heiligen Veronika identifiziert. Sie trägt ein mit Voodoo-Symbolen besticktes Kleid und einen lila Turban auf dem Kopf, hält einen aus Perlen geflochtenen Rosenkranz in der linken und das Grabtuch der Veronika in der rechten Hand, ein Laken mit dem Abdruck des Kopfes eines bärtigen Mannes, ein Haupt voll Blut und Wunden, bei dem es sich um unseren Herrn und Heiland Jesus Christus handeln soll: Aus der Dornenkrone rinnen mit Essig vermischte Blutstropfen, die das Leintuch aufgesogen hat. Für den Fall, dass Baron Samedi den Weg nicht freimachen will, hat Grande Brigitte ihren Cousin Zaca mitgebracht, den Geist der Erde und der Landwirtschaft: Er ist barfuß und hat, wie die Tontons Macoutes genannten Schergen des Diktators Papa Doc, eine Trommel und eine Machete umgeschnallt. Doch es ist nicht ganz klar, ob sie Baron Samstag zur Umkehr bewegen kann, indem sie ihm das Grabtuch entgegenstreckt, oder ob Grande Brigitte, alias La Reine, auf dem Weg nach Golgatha ein Wunder bewirkt, indem sie Jesus Christus noch vor dessen Kreuzestod aus dem Totenreich auferstehen lässt. Diese Frage könnte nur der Maler und Voodoo-Priester André Pierre beantworten, der nach Fertigstellung des Gemäldes, das er mir zu treuen Händen übergab, das Zeitliche gesegnet und die Antwort mit ins Grab genommen hat.

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