Vorgeblättert

Leseprobe zu Hans Keilson: Tagebuch 1944. Teil 2

03.09.2014.
Dienstag 6. 9. 44
Es heißt, daß die Engländer in Rotterdam sind. Innerhalb eines Tages werden sie hier in Delft vorbeiziehen. Ich werde dann frei sein und nach Haus gehen können. Mit diesem Vormarsch endet ein Teil meines Lebens, das vor 20 Jahren begann. Es endet auch dieses letzte Jahr, das das kritischste meines Lebens war. Alle Kräfte, die ich in mir hab, kamen in Bewegung und zogen nach allen Seiten. Unter diesem hohen Druck schrieb ich Gedichte und Prosa. Es scheint, daß nur diese äußerste Belastung des Gewissens und des anderen seelischen Apparates mich in Stand setzt, produktiv zu sein. Daneben ging der Wunsch, Gertrud zu schonen um ihrer selbst willen und des Kindes willen, das nun bald auch öffentlich mein Kind wird. Jedes harte Wort, das in dem Vorangegangenen gegen Gertrud steht, bedaure ich. Es ist der Ausdruck dessen, in welchem Widerstreit ich stand. Von Hanna werde ich mich trennen. Obwohl ich sie oft vergessen habe, war ich immer wieder zu ihr zurückgekehrt wie zu einer Melodie, die ich gerne hörte und selbst sang. Sie selbst steht unter dem doppelten Eindruck des zu Ende gehenden Krieges und des zu Ende gehenden Zusammenseins. Sie schrieb mir einen Brief, in dem dieser furchtbare Streit zwischen Hoffnung auf Erlösung und Angst vor dem Verlust sich ausdrückt. Aber auch in diesem Kampf ist sie noch liebenswert, unsagbar lieblich und milde, - Dinge, die mich so besonders an sie gebunden haben. Auch meine Gedichte sind fast zu Ende. Habe das Gefühl, wie ein Vampyr aus dem Menschen Hanna und dem Leben Blut gesaugt und damit meine Gedichte gespeist zu haben. Das unmoralische Treiben des Dichters! Es ist das Asoziale als Vorbild! Dazwischen meine Begegnungen mit Gertrud, die immer wieder Eindruck auf mich machen. Unser Zusammenleben ist diese Kette von Eindrücken des Augenblickes. Und es ist gut so. Es bewahrt vor der Erstarrung. Wenn ich nach Hause geh --! Aber vorläufig habe ich noch große Angst, daß Gertrud und dem Kindchen etwas zustoßen kann. Ich möchte schon nach Haus. Aber habe noch Bedenken wegen Razzias in den Zügen. Große Sehnsucht nach Gertrud, oft, sehr oft. Ich werde sehr verwandelt sein. Was wird aus uns werden. Hier in Holland? Werde ich Arzt werden? Alles verspricht noch große Schwierigkeiten. Ich strecke oft schon die Waffen. Ist es nur: müde von dem Vergangenen, oder ist es mehr?
     Aber das Maß an Selbsterfahrung das ich bei Hanna habe aufbringen müssen, war gewaltig. Wie mußte ich mich zügeln. Wie zügelte sie mich, wenn sie nur sagte: o nein, bitte das nicht! Ganz einfach. Alles war so natürlich, weil alles ihr so genehm war, - auch das Widerstrebende. Frauen erziehen, in diesem Maße habe ich das noch nie erfahren. Noch nie. Was hat doch die emanzipierte Frau verloren!
     Mache viel Musik! Das erste Mal, daß es zusammengeht: Musik und Gedichte. Abschied von Frau van der Lek, der Pianistin.


Donnerstag [7. 9.]
Alle Berichte haben sich als übereilt herausgestellt. Die Engländer, Amerikaner haben nach einer offiziellen Mitteilung wohl die holländische Grenze überschritten. Aber mehr weiß niemand. Die Stimmung hat eine Anti-Climax erreicht. Wir müssen noch warten. Jan B. wie durch ein Wunder vor dem Tod gerettet. Auf seinen Papieren stand erschießen!
     Keinem Dichter gegenüber fällt es mir schwerer, eine Stellung einzunehmen, als gegenüber Rilke. Seine dichterische Erscheinung beschäftigt mich in außergewöhnlichem Maße. Im Augenblick, wo ich mich intensiver mit ihm beschäftige, steigt eine ungeklärte Flut von Pro und Contra's in mir auf, die vielleicht das Typische meiner Haltung und vielleicht auch das Charakteristische der Rilkeschen Erscheinung ist: sie ist auf keine Formel zu bringen. Alle die vielen literarischen Termini, vermöge deren man Dichter in eine gewisse Rangordnung bringen kann, versagt bei ihm. Ist er ein verkappter Romantiker, ein Barockdichter, ein Symbolist, ein Dichter der Dekadenz? Alles dies wird so unwesentlich, wenn man sich dem Mann und seinem Werke nähert.
     Die beste Bezeichnung hörte ich unlängst von Gertrud. Aber es war weniger das rein Poetische als das soziologische Moment, das daraus spricht: Minnesänger. Rilke als Typ eines neuzeitlichen Minnesängers, von Einladung zu Einladung schwärmend, schönen Frauen mit höfischen Verbeugungen - seine Briefe - seine Gedichte überreichend und Liebe erweckend, nicht sie genießend, - in der Tat: Minnesänger.
     Der erste Eindruck, den seine Gedichte auf mich machten, ist der einer ungeheuren Schwäche, die kristallisiert, gesäubert und umgemünzt wurde. Ich rieche fast den Schweiß der Anstrengung. Das letzte Mal, als ich seine Gedichte wieder einmal zur Hand nahm - denn ich hüte mich sehr, sie zu lesen, wie er sich in acht nehmend, zuviel andere Dichter zu lesen, um nicht seinen Ton zu verlieren -, war ich doch überrascht, wie fein abgearbeitet seine Gedichte waren. Ich hatte es vergessen oder früher nie wahrgenommen. Es ist vieles prächtig und überwältigend. Aber es bleibt: eine große Schwäche. Eine vitale Schwäche. Nur zu natürlich, daß er seine Frau und sein Kind verließ. Was muß die Frau gelitten haben unter seiner Schwäche. Rilke ist kein Mann. Und es ist für mich die Frage, ob er auch ein Mensch "war". Er wußte, daß er es noch nicht "war", und seine Anstrengung ging dahin, einer zu "werden". Dies war sein "Sein". Er war beschäftigt, sich selbst zu schaffen, aus den Verhältnissen, denen ein Mensch sich gegenüber gestellt sieht: Gott, Umwelt, Baum, Landschaft, Tiere. Seine Liebe zu Rußland schloss dieses "Inne Werden" der umringenden Verhältnisse ein. Der Umweg zum Menschen ging für ihn über den Dichter. Es war ein schwerer Weg für ihn. Und seine Schwäche, besser, sein Ungeschaffensein spricht daraus. Man kann ihn preisen oder tadeln, oder beides tun. Es bleibt der Umstand: seine Erscheinung ist ein sehr besonderer Fall eines Dichters. Nicht einer, der verzichtet, um ganz Schaffender zu sein. Sondern der Schaffender wird, um Mensch zu werden. Einige biographische Notizen könnten das beinahe illustrieren, wie er später menschenfreundlicher, geselliger wird. Von Musik verstand er nicht viel, der Stand der Dinge ante rem war ihm unbekannt. Desgleichen Humor. Eine Figur wie Stefan George ist mit all ihren menschlichen Widerwärtigkeiten doch menschlich. Wo Rilke unbeschriebenes weißes Papier ist.
     Auch eine Figur wie Rosetti ist ihm überlegen. Hier scheint in der Tat eine der seltenen glücklichen Verbindungen von Mensch und Künstler vorgelegen zu haben, an denen die Englische Literatur wohl reich ist. Trotz allem ist das dichterische Werk Rilkes das größte in Deutschland nach Goethe, Hölderlin. Seine Bedeutung wird noch wachsen, in dem Maße, wie die Frage der Neuschöpfung des deutschen Menschen eine aktuelle Frage wird. Das etwas salonhafte Parfüm seiner Gedichte wird man dabei verwehen lassen müssen, vielleicht läßt die Zeit es hier etwas verriechen.
     Hatte in den letzten 14 Tagen eine Anzahl, 7, Sonette geschrieben und ein 3strophiges Gedicht. Oft floß es mir aus der Feder. Zuvor hatte ich gedacht, daß ich nie wieder etwas schreiben würde. Man begreift die Zeugung nie. Sie ist das Gegenteil des Bewußtseins. Ihr Widerspiel. Man hüte sich vor dem falschen [ein Wort fehlt] des Bewußtseins.


Mittwoch 12. 9.
Oft weiß ich ganz sicher, daß Gertrud und das Kind einer der Kerne sind, die in mir ruhen. Es überfallen mich oft diese beiden Gesichter, die mir fast die Tränen in die Augen treiben. Das Erlebnis mit Hanna schwindet blasser. Durch die Gedichte, in die ich viel von mir und ihr zu gießen getrachtet habe, ist das Gefühl selbst distanziert worden. Indem ich merke, wie stark ich durch das Zusammensein mit ihr verändert wurde, habe ich Gewißheit, daß es nicht Literatur war. Anders wäre es spurlos vorübergegangen, nur Gedichtchen, weiter nichts. Hier war alles miteinbezogen. Daß ich immer den ganzen Einsatz geben muß. Gertrud erscheint mir auf einmal in einem anderen Lichte. Vielleicht wird mir das Leben mit ihr tragbarer. Meine unendliche Gereiztheit wird sich vielleicht mildern. - Schwere Gedanken, über das was für uns nach der Befreiung kommt. Werden die Niederländer ihre guten Eigenschaften der öffentlichen Redlichkeit, der persönlichen Ausstattung eines Falles sich bewahrt haben. Oder werden sie "verändert" herauskommen. Die Engländer stehn vor Holland. Eigenartig, wie wenig es mich im Grunde angeht und wie mein ganzes Trachten nach innen gerichtet ist, auf Gedanken, Verhältnisse zwischen Menschen, Gedichte, Erfahrungen. Großes Verlangen nach Gertrud und dem Kind. Und oft auch nach den Eltern. Ich rede manchmal mit ihnen. O, soviel zu spät! -

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