Vorgeblättert

Leseprobe zu Jamal Mahjoub: Die Stunde der Zeichen, Teil 2

Im Bug der Ismailia hielt Abu Saud Ausschau nach Zeichen von der Insel. Er dachte an das letzte Mal, als er hier vor Anker gegangen war. Aus der Ferne ertönte klagend der einsame Schrei eines Sittichs.
     Vor fünf Tagen erst hatte er genau den gleichen Ausblick vor Augen gehabt. Bei dieser Gelegenheit hatte er lediglich eine Handvoll Männer zu seinem Schutz dabeigehabt. In vorschriftsmäßiger Marschordnung bahnten sie sich ihren Weg durch die Insel, unternahmen keinen Versuch, sich zu verbergen. Als sie den Pfad entlangmarschierten, der vom Flussufer hinüber zu der kleinen Ansammlung von Hütten führte, stellten sie überrascht fest, dass die Bauern, die auf den Feldern arbeiteten, mitten in der Luft den Schwung ihrer Hacken unterbrachen und zu ihnen herübersahen und dann, ohne ein Wort zu sagen, zu dritt oder zu viert von den Feldern herbeikamen und sich ihnen anschlossen. Einer der Soldaten machte ihn darauf aufmerksam.
     »Lassen Sie sie einfach links liegen«, erwiderte Saud. »Das sind nur neugierige Ziegen. Die wollen bloß wissen, was vor sich geht, das ist alles.«
     Irgendwie gelangte die Nachricht von ihrer Ankunft vor ihnen an, sodass sie bereits erwartet wurden, als sie das Dorf erreichten. Um eine kleine Strohhütte herum, vor der ein niedriges, grob gearbeitetes angareeb stand, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ein Mann saß auf dem Seilbett und erhob sich, als sie sich näherten. Er sah ganz gewöhnlich aus, war vielleicht ein wenig größer als der Durchschnitt, doch das war schlecht einzuschätzen, weil er ein wenig vornübergebeugt stand. Er hatte ein angenehmes, klares Gesicht, dessen Harmonie nur von einem großen, dunklen Muttermal auf der rechten Wange gestört wurde. Er schien die ganze Zeit zu lächeln und entblößte dabei eine auffällige Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Je mehr Zeit verstrich, desto ärgerlicher fand Saud dieses Lächeln.
     »Bist du Mohammed Ahmed?«, wollte er wissen.
     Der Mann lächelte noch immer und nickte.
     »Bist du derjenige, der die Leute aufgerufen hat, der Autorität des Generalgouverneurs zu trotzen?« Wieder lächelte der Mann. »Ich habe nur die Wahrheit ausgesprochen. So wie sie mir offenbart wurde«, erwiderte er sanft .
     Saud wischte sich mit einem großen Halstuch über Stirn und Brauen und warf einen Blick nach hinten auf die Menge, die sich inzwischen in einen aufmüpfigen Mob verwandelt zu haben schien. Fest schlossen sich die Hände um Hacken, Äxte und Hirtenstöcke. Arme, ungebildete Menschen, die nichts zu verlieren hatten - genau das, was er vorzufinden erwartet hatte. Auch wenn er nicht gedacht hätte, dass es so viele sein würden. Wo waren sie hergekommen? Was hatte sie hierher geführt? Diesen Mann etwa mit dem Aussehen einer traurigen Ziege? Verkrüppelte Kinder sah er und mit Narben bedeckte Frauen; Leprakranke, denen die Finger fehlten; alte Männer mit grauem Haar und zitternden Händen. »Wie viele von euch werden von den Behörden gesucht?«, verlangte er mit erhobener Stimme zu wissen und sah sich die Menge genauer an. Ein paar Füße scharrten unruhig hin und her, aber niemand antwortete.
     Jetzt sprach der Sohn des Bootsbauers und wies auf seine Zuhörer. »Diese Menschen sind liebenswerte Bauern. Sie haben nichts getan, wofür sie von Euch, die Ihr Euch als Obrigkeit bezeichnet, bestraft werden müssten.« Mit der Hand machte er ein Zeichen der Rechtfertigung. »Es gibt keine Obrigkeit, die über Gott steht. Nicht einmal Ihr könnt, mit allen Soldaten und Waffen der Welt, das Wort Gottes zerstören.«
     Saud stöhnte auf. »La illaha il Allah. Wir glauben alle an denselben Gott.«
     Mohammed Ahmed aber schüttelte weise den Kopf. »Die meisten Menschen haben die wahre Bedeutung Der Botschaft verraten, und Ihr wisst das. Die Leute, für die Ihr steht, haben ihre Würde verschleudert und den Sinn des Wortes ›Islam‹ verfälscht. Sie trinken Wein und rauchen Tabak. Sie werden von den Nichtigkeiten dieser Welt verschlungen.« Er streckte die Hände weit von sich, forderte die Menge auf, sich ihr eigenes Urteil zu bilden. Er zeigte auf Sauds Uniform und den tarboosh. »Ihr tragt die Gewänder der europäischen Ungläubigen. Wir tragen die einfachen Kleider unseres Landes.«
     In Saud stieg die Wut hoch. »Was bildet ihr euch ein, wer ihr seid? Schert euch zurück zu euren Feldern und Ziegen«, schrie er die ausdruckslosen Gesichter an. Keine der Gestalten bewegte sich.
     Der lächelnde Mann riss die Augen weit auf und sagte: »Sie fürchten Eure Drohungen nicht, denn der Prophet hat zu mir gesprochen und durch mich zu ihnen. Sie wissen, wer ich bin.« »Und wer könntest du wohl sein?«, fragte Saud herausfordernd. Und machte einen Schritt nach vorn. Luft wurde eingesogen und angehalten, Schultern versteift en sich, und ein Schauder der Anspannung durchlief die versammelten Anhänger.
     Der gelassene Prophet blickte, Verzeihung heischend, um sich. »Ich bin der Beweis, dass die Letzte Stunde gekommen ist«, antwortete er schlicht. »Ich werde die treuen Rechtgläubigen in den heiligen Kampf führen, in den Krieg gegen die Verfälschung der Macht und des Glaubens, für den Ihr und alle Türken steht. Der Sieg wird unser sein. Der Prophet selbst ist mir im Traum erschienen.«
     Jetzt war es an Saud zu lachen. »Du träumst wohl immer noch. Ich bin hier, um dich nach Khartum zu bringen, damit du dich den gelehrten Mitgliedern des Rats der ulama stellst. Sie sollen entscheiden, ob das, was du behauptest, wirklich zu Gottes Plan gehört.« Er machte einen weiteren Schritt nach vorn und gab den Soldaten das Zeichen zu handeln. Mohammed Ahmed bewegte sich nicht. Der Mann, der neben ihm stand, klein gewachsen war er und stämmig, mit einem Gesicht, das von Windpockennarben gezeichnet war, senkte die Hand und legte sie sacht auf das in seiner Scheide steckende Schwert unter seinem linken Arm. Die Sonne glitzerte auf der halb herausgezogenen Klinge.
     Mohammed Ahmed sah aufmerksam zu den Soldaten hinüber und beobachtete ihre Augen. »Eure gelehrtesten ulama wissen wenig über den wahren Glauben«, erwiderte er sanft .
»Ihr Verständnis beruht auf akademischen Studien. Sie haben nie das Licht Gottes geschaut, noch wie ich, die Worte des Propheten vernommen.« Er hielt inne, legte seine Hand auf den Arm seines Begleiters, der das Schwert in die Scheide zurückgleiten ließ. »Richtet ihnen aus, es wird ihnen nichts geschehen, wenn sie jetzt zu mir kommen und mir ihre Ergebenheit schwören. Gott ist gnädig. Sind ihre Herzen rein, dann wird ihnen kein Leid geschehen, wenn die Stunde kommt. Erinnert sie daran: sie müssen, wie alle Menschen, vor Gott treten, um gerichtet zu werden.«
     Saud sah sich um. Er wandte sich an die Zuschauer. »Hört mich an. Was er erzählt, ist Unsinn. Mehr noch, es ist gefährlicher Unsinn. Er wird euch führen, aber nicht zu Ruhm und Ehre, sondern ihr werdet gemeinsam ins Gefängnis wandern. Wenn er wirklich derjenige ist, der zu sein er vorgibt, warum hat dann nicht ein einziger Gelehrter in diesem Land sein Kommen verkündet? Warum sollte Gott einen Moslem auffordern, seine Waffen gegen einen anderen Moslem zu erheben?« Seine mahnenden Worte erhielten keine Erwiderung. Er atmete tief durch. »Es gibt nur ein Gesetz in diesem Land, und das ist das Gesetz des Generalgouverneurs, das Gesetz des Khediven, der dieses Land regiert.« Der Nachdruck wich aus seiner Stimme. »Das hat nichts mit Religion zu tun.« Er streckte ihnen die Hände entgegen und lächelte. »Das ist doch nicht das Ende der Welt.«
     Als er sich zum Gehen umwandte, fiel sein Blick auf ein bekanntes Gesicht in der Menge, ein kleiner, verschrumpelter Mann mit ruhelosen Augen. »Wad Awad«, rief er, »du hast mir einst treu gedient. Damals in den alten Tagen unten im Süden. Was machst du hier bei diesem Irren? Erkennst du denn nicht, was geschehen wird? Ihr werdet euer Zuhause verlieren, euer Land, eure Freiheit. Die Soldaten werden hier auftauchen, und sie werden nicht so vernünftig und ruhig mit euch reden wie ich. Du bist ein alter Mann, ein weiser Mann, bedenke genau, was du tust.«
     Doch der alte Wad Awad schüttelte den Kopf. »Saud Bey, er spricht die Worte des Propheten selbst. Es ist der Wille Gottes«, murmelte er, und seine unsteten Augen flackerten zurück auf den Erdboden.
     »Möge Gott euch gnädig sein, euch allen.« Und damit verließ Saud die Insel. In seinen Ohren hallte der Klang von Lachen und Jubel.

* * * * *

Lange nach Mitternacht noch zischte die Sturmlaterne vor sich hin. Ein paar vereinzelte Schüsse waren in der Ferne zu hören gewesen; es klang wie das Husten eines Tieres in großer Entfernung. Dann war Stille eingetreten - eine beunruhigende Stille. Saud Bey stand an der Reling des Schiff es und sah hinüber zum Ufer. Jetzt, da der Regen aufgehört hatte, fielen die Moskitos über ihn her; in Schwärmen standen sie in der schalen, feuchten Luft über dem Deck des Schiff es. Saud Bey schritt ungeduldig auf und ab. Er wartete auf Nachrichten, dann trieb ihn ein Schrei in der Ferne zurück an die Reling. Noch ein Schrei. Ein kaltes Gefühl im Rückgrat sagte ihm, dass dies der Schrei eines Menschen gewesen sein musste. Eilig bewegte er sich zu der zusammengedrängten Mannschaft hinüber, lehnte sich über die Bordwand, blickte zur Insel. »Kann jemand etwas sehen?«
     »Sollen wir die Kanone besetzen, Sir?«
     »Worauf wollen Sie denn schießen?«, blafft e er, ohne die Augen von dem Schilfstreifen und dem undeutlichen Umriss des flachen Ufers abzuwenden.
     »Da!«, schrie ein Soldat und deutete auf etwas. Saud verfluchte seine Augen.
     Ein anderer Soldat fiel ein: »Dort ist noch einer.« Fünf, sechs, vielleicht ein Dutzend Männer tauchte auf, brach durch das hohe Schilf. »Sie sind verwundet. Seht, sie tragen den einen.«
     »Bleiben Sie, wo Sie sind«, befahl Saud Bey und beobachtete, wie die Gestalten jetzt spritzend durch die Untiefen wateten.
     »Krokodile!«, kam ein Ruf vom Bug her. Die Soldaten luden ihre Gewehre und versuchten, auf die langen, bogenähnlichen Wirbel im Wasser zu zielen. »Schießt in die Luft !« Überall herrschte Verwirrung und Unordnung, bis die Schreie von unten aus dem Wasser ihre eigene Geschichte erzählten.
     Ein Mann schaffte es bis zum Schiff . Hände streckten sich über die Reling und zogen ihn hoch. Er lag auf dem Deck, rang nach Luft und zitterte vor Angst und Erleichterung. Die Männer umringten ihn, bis zum Schweigen betäubt. Der Soldat war schwer verwundet; im schwachen Glimmen der Öllampen vermischten sich dunkel Blut und Wasser. Er warf den Kopf von einer Seite zur anderen und weinte hysterisch. »Sie hatten sich in den Feldern um das Dorf herum versteckt, in den Wassergräben - sich wie Schlangen im Boden vergraben. Von allen Seiten wurde geschossen, und wir haben zu spät erkannt, dass unsere eigenen Leute auf uns feuerten.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Dann waren zehn Mann tot und weitere verwundet. Wir hielten an, um uns zu sammeln und zu entscheiden, was wir tun sollten. Da fielen sie über uns her.« Wieder brach er ab, als ob er kaum begreifen könne, was er selbst erlebt hatte. »Sie kamen mit Äxten und Steinen und Stöcken und Buschmessern und Keulen. Sie schlugen die Männer tot, schnitten ihnen die Köpfe ab, schmetterten ihre Schädel zu Brei. Ich sah, wie der bimbashi starb.«
     Der Verlust des Unteroffiziers mit dem Schnurrbart machte kaum Eindruck auf Saud. Er sog schnaufend die Luft ein. »Und Sie - wie sind Sie davongekommen?«
     Der Mann sah auf. »Ein paar von uns konnten entkommen. Es gab keinen anderen Weg. Die anderen sind dort umgekommen. « Er schaute über die Schulter zurück. »Das ist ein verfluchter Ort.«
     »Ich sollte Sie wegen Fahnenflucht erschießen«, herrschte Saud Bey ihn angewidert an, drehte sich auf dem Absatz um und stolzierte hinunter zum Ruder. Dort gab er dem Steuermann den Befehl, den Anker einzuholen. Es ging stromabwärts, zurück nach Khartum und zum Generalgouverneur. Er nahm den dicken Geruch des Aberglaubens wahr, der wie Nebel das kleine Dampfschiff umhüllte. Als er dastand und sich an der Reling festhielt, verkündete ein Schimmer den bevorstehenden Tagesanbruch. Saud Bey biss sich auf die Lippen. »Jetzt«, sagte er zu sich, »jetzt wird es richtig Ärger geben.«


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