Vorgeblättert

Leseprobe zu Javier Cercas: Outlaws. Teil 3

24.03.2014.
Herr Tomàs musterte die beiden misstrauisch vom Scheitel bis zur Sohle und murmelte schließlich etwas, was ich nicht verstand. Dann verstand ich: 'Ich will hier keine Probleme. Wer Probleme macht, fliegt raus, klar?' 'Sonnenklar', sagte der Junge und ließ mit einer besänftigenden Geste die Arme sinken. 'Wegen uns brauchen Sie sich keine Sorgen machen, Chef.' Herr Tomàs schien durch die Antwort halbwegs besänftigt und zog sich wieder in seine Kabine zurück, wo er sich wahrscheinlich wieder ganz seinem Kreuzworträtsel widmete. Das Pärchen dagegen setzte den Weg ins Innere der Spielhalle fort."
     "Das waren sie."
     "Ja, der Junge war Zarco, und das Mädchen Tere."
     "War Tere Zarcos Freundin?"
     "Gute Frage. Hätte ich die Antwort rechtzeitig gewusst, hätte ich mir viele Schwierigkeiten erspart. Später sage ich Ihnen, wie es war. Als ich Zarco und Tere reinkommen sah, war ich jedenfalls sofort verunsichert, genau wie Herr Tomàs, ich hatte das Gefühl, ab jetzt könne jeden Augenblick etwas Unangenehmes passieren, und deshalb hätte ich auch fast den Flipper Flipper sein lassen und wäre gegangen.
     Ich blieb. Ich versuchte, das Pärchen zu vergessen und einfach weiterzuspielen, als wären die beiden gar nicht da. Das gelang mir aber nicht, wenig später hieb mir jemand mit der Pranke auf die Schulter, dass ich das Gleichgewicht verlor und fast zu Boden gestürzt wäre. 'Was is' los, Brillenschlange?', fragte Zarco und übernahm meinen Platz am Flipper. Er sah mich aus tiefblauen Augen an, seine Stimme klang heiser, das Haar trug er in der Mitte gescheitelt, und seinen Oberkörper bedeckte eine enge Jeansjacke über einem engen beigefarbenen T-Shirt. Herausfordernd wiederholte er: 'Is' was?' Ich sah ihn erschrocken an. Dann hielt ich ihm die Handflächen entgegen und sagte: 'Ich war sowieso gerade fertig.' Als ich mich daraufhin umdrehte, um wegzugehen, stellte sich mir Tere in den Weg und brachte ihr Gesicht so nah an meins, dass kaum eine Handbreit Abstand blieb. Zuerst war ich überrascht, dann überwältigt. Genau wie Zarco war Tere sehr schlank, hatte sehr dunkle Haut und war nicht besonders groß. Dafür strahlte sie eine Spannkraft und Beweglichkeit aus, wie nur ein weitgehend auf der Straße, unter freiem Himmel zugebrachtes Leben sie einem schenkt - zu der Zeit zeichneten sich alle Quinquis dadurch aus. Ihr Haar war glatt und dunkel, die Augen waren grün und grausam, und neben der Nase hatte sie ein Muttermal. Sie schien völlig in sich zu ruhen, ihre Selbstsicherheit war die einer schon erwachsenen Frau, nur ein kleiner Tic störte den Eindruck: Ihr linkes Bein bewegte sich unaufhörlich auf und ab wie ein Kolben. Sie trug Jeans und ein weißes T-Shirt und den Gurt ihrer Handtasche quer über der Brust. 'Gehst du schon?', fragte sie und ihre fleischigen erdbeerroten Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ich kam nicht dazu, zu antworten, denn Zarco packte mich am Arm und zwang mich, mich halb zu ihm umzudrehen. 'Hiergeblieben, Brillenschlange', befahl er und setzte den Flipper in Gang.
     Er spielte ziemlich schlecht, deshalb war die Partie bald zu Ende. 'Scheiße', sagte er und schlug mit der Faust gegen den Apparat. Er sah mich wütend an, aber bevor er etwas sagen konnte, lachte Tere auf, schob ihn zur Seite und steckte eine neue Münze in den Schlitz. Zarco stützte sich neben mir auf den Flipper und sah Tere mürrisch beim Spielen zu. Ohne mich zu beachten, kommentierten sie die Partie, Tere sah mich allerdings immer wieder einmal zwischen zwei Kugeln aus dem Augenwinkel an. Unaufhörlich strömten Leute in die Spielhalle, und Herr Tomàs kam viel öfter als sonst aus seiner Kabine. Allmählich beruhigte ich mich wieder, ganz und gar begriff ich aber immer noch nicht, was vor sich ging, geschweige denn, dass ich gewagt hätte zu gehen. Teres Partie war auch rasch zu Ende. Daraufhin trat sie einen Schritt zurück, zeigte auf den Flipper und sagte: 'Du bist dran.' Ich bekam den Mund nicht auf, rührte mich nicht vom Fleck. 'Was is' los, Brillenschlange?', fragte Zarco. 'Willst du auf einmal nicht spielen?' Ich sagte immer noch nichts. Zarco fuhr fort: 'Hat dir 'ne Katze die Zunge abgebissen?' - 'Nein', erwiderte ich. - 'Na dann …' - 'Ich hab kein Geld mehr', sagte ich. Zarco sah mich verwundert an. 'Du hast keine Kohle mehr?', fragte er erneut. Ich nickte. 'Wie viel hattest du denn dabei?' Ich sagte die Wahrheit. 'Leck mich, Tere', sagte er lachend. 'Das reicht uns nicht mal zum Arschabwischen.' Tere lachte nicht. Sie sah mich an. Zarco schob mich wieder zur Seite und sagte: 'Na gut, wer kein Geld hat, hat verkackt.'
     Er steckte die nächste Münze in den Schlitz und fing wieder an zu spielen. Dabei unterhielt er sich mit mir. Besser gesagt: Er fing an, mich auszufragen. Er fragte, wie alt ich sei, und ich sagte es ihm. Er fragte, wo ich wohnte, und ich sagte es ihm. Er fragte, ob ich auf die Sekundarschule ginge, und ich sagte ja und auch, auf welche. Dann fragte er, ob ich Katalanisch spräche. Ich wunderte mich über die Frage, sagte aber wiederum ja. Dann fragte er, ob ich oft in die Spielhalle käme und ob ich Herrn Tomàs kennen würde und wie hier die Öffnungszeiten wären und noch mehr solche Fragen, an die ich mich im Einzelnen nicht erinnere, ich weiß aber noch, dass ich sie alle beantwortete, zumindest soweit ich konnte. Ich weiß auch noch, dass er mich zuletzt fragte, ob ich Geld brauchte, und dass ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Da antwortete Zarco für mich: 'Wenn du Geld brauchst, sag's mir. Komm ins La Font und sag mir Bescheid. Dann unterhalten wir uns mal geschäftlich.' Er fluchte, weil ihm wieder eine Kugel durchgeflutscht war, und hieb noch einmal mit der Faust auf den Apparat. Dann fragte er: 'Einverstanden, Brillenschlange, ja oder nein?' Ich sagte nichts. Bevor ich dazu imstande war, näherte sich uns ein großer Typ mit hellem Haar und einem Fred-Perry-Polohemd, der kurz zuvor in die Spielhalle gekommen war. Er grüßte Zarco, tuschelte eine Weile mit ihm, und dann gingen die beiden hinaus. Tere sah mich weiterhin an. Ich betrachtete meinerseits ihre Augen, ihren Mund und das Muttermal neben der Nase, und ich weiß noch, dass ich mir sagte, dass sie das hübscheste Mädchen war, das ich je zu Gesicht bekommen hatte. 'Und, kommst du?', fragte sie. 'Wohin?', fragte ich. 'Ins La Font', sagte sie. Ich fragte, was das La Font sei, sie sagte, eine Bar, im Rotlichtviertel. Dann fragte sie noch mal, ob ich ins La Font kommen würde. Und obwohl ich mir sicher war, dass ich das nicht tun würde, sagte ich: 'Ich weiß nicht', fügte aber gleich darauf hinzu: 'Kann schon sein.' Tere lächelte, zuckte die Schultern und strich mit dem Finger über das Muttermal neben ihrer Nase. Dann zeigte sie auf den Rocky-Balboa-Flipper und sagte: 'Du hast noch drei Kugeln.' Anschließend ging sie hinaus zu Zarco und dem Typen mit dem Fred-Perry-Shirt.
     Das war unsere erste Begegnung, genauso lief sie ab. Als ich wieder allein war, atmete ich erleichtert auf, und dann spielte ich mit den drei verbliebenen Kugeln, ob einfach nur, weil ich Lust dazu hatte, oder weil ich annahm, Zarco und Tere würden sich noch in der Nähe der Spielhalle herumtreiben, kann ich nicht sagen - auf jeden Fall wollte ich es nicht riskieren, ihnen noch einmal über den Weg zu laufen. Als ich gerade mit der ersten Kugel beschäftigt war, kam Herr Tomàs zu mir. 'Weißt du, wer das war, Kleiner?', fragte er und deutete in Richtung Ausgang. Natürlich meinte er Zarco und Tere. Ich sagte, nein. 'Worüber habt ihr euch unterhalten?', fragte er. Ich sagte es ihm. Er schnalzte mit der Zunge und ließ es sich noch einmal erzählen, wenigstens einen Teil davon. Er wirkte beunruhigt, und nach einer Weile zog er, leise vor sich hin brummelnd, wieder ab. Am nächsten Tag kam ich am späteren Nachmittag in die Spielhalle. Als ich an Herrn Tomàs' Kabine vorbeiging, klopfte dieser mit dem Fingerknöchel an die Scheibe und sagte, ich solle bitte warten. Als er rauskam, legte er mir eine Hand auf die Schulter. 'Hör mal, Kleiner', fing er an. 'Hättest du Interesse an einer kleinen Beschäftigung?' Ich sah ihn überrascht an. 'Wie meinen Sie das?', fragte ich. 'Ich brauche jemanden, der mir hilft', sagte er. Mit einer wenig präzisen Armbewegung wies er auf das Innere der Spielhalle. Dann erläuterte er sein Angebot: 'Du hilfst mir abends beim Zusperren, und dafür lass ich dich zehn Partien pro Tag umsonst spielen.'
     Da gab es für mich nichts zu überlegen. Ich nahm das Angebot an, und ab sofort verliefen alle meine Nachmittage auf einunddieselbe Weise: Gleich nachdem Herr Tomàs öffnete, manchmal etwas später, kam ich in den Spielsalon Vilaró, absolvierte - wo ich wollte, meistens an dem Rocky-Balboa-Flipper - meine zehn Gratispartien, und gegen halb neun oder neun half ich Herrn Tomàs beim Zusperren. Während er die Automaten aufmachte und das Geld rausnahm, zählte und die Summe in eine Art Tabelle eintrug, kontrollierte ich, dass niemand mehr in der Halle oder auf den Toiletten war, woraufhin wir gemeinsam das Rollgitter an der Tür hinabließen. Anschließend bestieg Herr Tomàs seine Mobylette, und ich kehrte zu Fuß nach Hause zurück. Das war alles. Heißt das, dass ich Zarco und Tere gleich wieder vergaß? Natürlich nicht. Anfangs hatte ich Angst, sie würden wiederkommen, aber nach ein paar Tagen wünschte ich mir zu meiner Verwunderung genau das, oder wenigstens wünschte ich mir, Tere würde wiederkommen. Zarcos Einladung anzunehmen und ins La Font zu gehen, also ins Rotlichtviertel, auf den Gedanken wäre ich allerdings nie gekommen. Ich war sechzehn und hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie es dort zugehen musste, und das fand ich nicht gerade verlockend, im Gegenteil, ich fand es beängstigend. Wie auch immer, schon bald machte ich mir jedenfalls klar, dass ich Zarco und Tere nur deshalb kennengelernt hatte, weil sie an dem Tag ausnahmsweise, durch einen bloßen Zufall, ihr angestammtes Gebiet verlassen hatten, was sich keinesfalls wiederholen würde, weshalb ich sie auch niemals wiedersehen würde.
     An dem Tag, an dem ich zu dieser Einsicht gelangte, hatte ich ein furchtbares Erlebnis, das mich zu Tode erschreckte. Auf dem Rückweg vom Spielsalon kam mir in der Calle Joaquim Vayreda eine Gruppe von Jungen entgegen. Insgesamt waren es vier, sie kamen aus der Richtung der Calle Caterina Albert, gingen auf derselben Straßenseite wie ich, und obwohl sie noch weit entfernt waren und es bereits dunkel wurde, erkannte ich sie sofort: Es handelte sich um Batista, Matías und die Boix-Brüder, Joan und Dani. Ich wollte weitergehen und so tun, als wäre nichts, aber schon bei den nächsten zwei, drei Schritten wurden meine Knie weich und mir brach der Schweiß aus. Ich versuchte, mich nicht von der Panik überwältigen zu lassen, und machte mich daran, die Straße zu überqueren. Noch bevor ich auf der anderen Seite angekommen war, merkte ich, dass Batista mir folgte. Da gab es für mich kein Halten mehr: Ich fing an zu laufen, erreichte die andere Seite und bog an der nächsten Ecke rechts in eine kleine Straße ein, die zum Devesa-Park führte. Als ich diesen gerade betreten hatte, fiel Batista von hinten über mich her, warf mich zu Boden, bohrte mir das Knie in den Rücken und drehte mir den Arm um, dass ich mich nicht mehr rühren konnte. 'Wohin gehst du, Arschloch?', fragte Batista. Ich hatte meine Brille verloren. Während ich mich verzweifelt danach umsah, sagte ich zu Batista, er solle mich bitte loslassen, aber der wiederholte nur seine Frage. 'Nach Hause', sagte ich. 'Hier lang?', erwiderte Batista, bohrte mir das Knie fester in den Rücken und drehte meinen Arm noch weiter um, dass ich schrie. 'Dreckiger Lügner!', keuchte Batista.
                                                       
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Auszug mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages
(Copyright S. Fischer Verlag)


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