Vorgeblättert

Leseprobe zu Joachim Kalka: Die Katze, der Regen, das Totenreich. Teil 3

16.02.2012.
Das, was man heutzutage lakonisch als "Murphy’s Law" bezeichnet – was schiefgehen kann, das geht auch schief –, hat einen philosophisch anspruchsvollen Vorläufer im Roman eines posthegelianischen Philosophen, der unter dem Titel "Auch Einer" 1878 erschien. Dort hat Friedrich Theodor Vischer gleich auf den ersten Seiten einen Begriff geprägt, den viele kennen, ohne daß ihnen der Kontext geläufig wäre: die "Tücke des Objekts". Auf sie nämlich reagiert der seltsame Held des Buches mit ungezügeltem Furor, und der unvermeidlichen Frage nach dem eigentlichen Grund seiner Wut antwortet er unter anderem: "Mein Herr, das Weib hat Zeit für den Kampf mit dem Racker Objekt, sie lebt in diesem Kampf, er ist ihr Element; ein Mann darf und soll keine Zeit hierfür haben, er braucht seine Geduld auf für das, was der Geduld wert ist. Über die Zumutung, beides zu verwenden an das Unwerte, kann, darf, soll er wüten! Sie können doch wissen, daß die elenden Objekte, diese Igel, diese Nickel, sich nie lieber einhaken, als wenn wir die höchste Eile haben, etwas fertig zu bringen, was nötig und vernünftig ist! Elender Bettel, nichtswürdiger Knopf oder Knäuel eines Bändels, Lorgnettenschnur, die sich um einen Westenknopf wickelt, just, wenn es auf der Eisenbahn aufs äußerste eilt, einen klein gedruckten Fahrplan nachzusehen, ich hab’ ja keine Zeit, keine Zeit für euch!"
Den Objekten wird die Fähigkeit zugeschrieben, sich improvisatorisch ("Der Haken schlich in einer Nacht über das Tischchen …") gegen den Menschen zusammenzurotten. Zum "Knäuel eines Bändels ", zum Knoten schürzt sich uns alles, und die Desaster des Slapsticks stellen das Durchhauen des Knotens durch einen enervierten Alexander dar, dessen Schlachten immer schon mit der Niederlage beginnen. Eigenartigerweise hat Vischer gleich zu Beginn seines Romans eine Szene beschrieben, die jeder Leser nach Erfindung des Films sogleich als filmischen Slapstick wiedererkannt hätte – diese merkwürdige Antizipation beschreibt einen "Hochzeitsschmaus", bei dem sich dem Erzähler ein Rockknopf unter eine große silberne Servierplatte hakt, als er sich nach der Gabel bücken will, die seiner Nachbarin hinuntergefallen ist – "der ganze Plunder, den [die Platte] trug, Saucen, Eingemachtes aller Art, zum Teil dunkelrote Flüssigkeit, rollt, rumpelt, fließt, schießt über den Tisch, ich will noch retten, schmeiße eine Weinflasche um, sie strömt ihren Inhalt über das weiße Hochzeitskleid der Braut zu meiner Linken, ich trete der Nachbarin rechts heftig auf die Zehen; ein andrer, der helfend eingreifen will, stößt eine Gemüseschüssel, ein dritter sein Glas um …" Was filmisch wirkt, ist vor allem die Geschwindigkeit, die ähnliche Sequenzen bei Wilhelm Busch nicht haben, weil jedes Moment des dort abrollenden Desasters in liebevoller Momentaufnahme fixiert bleibt. Bei Vischer "rollt" der Ablauf mit boshaftem Schwung über das Tischtuch. Das, was ich das "negativ Improvisatorische" genannt habe, zeigt sich in der anschwellenden Katastrophe: geschickt wird jede Möglichkeit zur weiteren Verkomplizierung ergriffen, von – wem? den Dingen? Unserem Unbewußten, das ein Bündnis mit der Katastrophe geschlossen hat? (Wir wollen nicht vergessen, daß in Freuds einschlägiger Schrift über die Psychopathologie des Alltagslebens nicht nur das "Versprechen", sondern auch das "Vergreifen" bereits im Titel eine große Rolle spielt.) Dem "Leben"?
Es ist dies eine eigenartige Steigerung der Alltagserfahrung, daß man mit den Dingen hie und da seine Schwierigkeiten bekommen kann: Im idealen Slapstick wird alles, einfach weil es da ist, zur Quelle der Panik – weil wir nicht begreifen, weshalb es da ist oder weshalb es in der augenblicklichen Situation nicht so da ist, wie wir es gewohnt sind. (Unser Mangel an Flexibilität ist komisch: Stan Laurel hat die Angewohnheit, bei den Häusern, in die er aus irgendeiner Plotmechanik heraus mit Ollie nachts einbrechen muß, erst einmal an der Türe zu klingeln.)
Was kann nicht plötzlich alles geschehen! Viele Slapstickszenen sind eine schöne und beunruhigende Mischung aus Geschicklichkeit und Vulgarität: Louise Fazenda sitzt an der Kasse des Restaurants und zieht sich gelangweilt den Kaugummi lang. Ein Kunde hascht ihr den Kaugummistrang mit seinem Spazierstock aus dem Mund, rollt ihn zusammen, schiebt ihn sich genüßlich in den Mund und geht ab (A Hash House Fraud, 1915).

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"Ein Wiener Nachtlokal … ROLF ROLF, DER STEGREIFDICHTER (ist soeben, halb singend, mit der Konzeption eines Gedichtes beschäftigt, das sich auf hingeworfene klassische Zitate und Huldigungen für anwesende Truppengattungen aufbaut):
Die Legionäre haben viel geleistet –
Das liegt schon so in der Natur.
Rufe: Bravo! Bravo!
Und sehn Sie – wenn ich das betrachte –
So fällt mir vom Herzen eine Last –
Wenn ich sage – zu der Dame dorten –
Du doch Diamanten und Perlen hast!
Und hier – zu diesem deutschen Soldaten
Sag ich: Es zogen nach Frankreich zwei Grenadier’.
Heut aber – das muß ich schon sagen – I
st es – fürwahr – doch sehr – stier!
Gelächter. Rufe: Oho! Bravo! Bravo! …"
KARL KRAUS, Die letzten Tage der Menschheit, III, 45

Wenden wir uns einen letzten Moment lang der literarischen Improvisation im Sinne des neunzehnten Jahrhunderts zu. In dem Zitat von Karl Kraus ist diese situative Kunstfertigkeit zum grotesk schäbigen Handwerk geworden: 1916 erscheint sie herabgekommen zu einer mechanischen Farce. Was der Beruf des Improvisators aber zuvor bedeutete, des Künstlers, der als ferner Nachfahr des archaischen Barden vor exklusiver Gesellschaft über ein gestelltes Thema zu singen anhebt, kann man in Hans Christian Andersens Roman Der Improvisator oder in der zitierten Erzählung Puschkins nachlesen – Schicksale des Dichters, dem der Salon Zettelchen zuwirft, deren Stichworte er unverzüglich in Kunst zu verwandeln hat. Sein Künstlertum wird zwar vorwiegend als Kuriosität geschätzt, immerhin mußte er ein – wenn auch zu Schwerstarbeit verurteilter – Dichter sein. Dieser inspirierte Sänger ist in den "letzten Tagen der Menschheit" zur komischen Zugnummer geworden, und das, was ursprünglich doch nur begleitender Reiz war, die Schlagfertigkeit, das Rasche der Komposition, bleibt als einzige Attraktion mühsamer Knittelverse übrig. In dieser depravierten Form aber, in dieser Hektik, die verzweifelt die herumliegenden Assoziationen zusammennagelt, scheint sich wiederum etwas von unserem allgemeinen Elend zu zeigen. Wir müssen ständig auf gebieterische Zurufe von Langweilern und Idioten reagieren; wir haben keine Zeit zur Vorbereitung und sollen rasch etwas Wunderbares singen. Und dabei haben wir nur ein begrenztes Repertoire von Handwerkskniffen, dessen Erschöpfbarkeit man nicht bemerken darf.
Hier könnte im übrigen (während sich schon der Vorhang senkt und der Autor sich in die Falten verwickelt) noch auf einen anderen, nicht hinreichend vermessenen Berührungspunkt der radikal modernen Ästhetik des Improvisatorischen (objet trouvé, Collage, cut-up usw.) mit der unruhigen Bewußtlosigkeit des Alltags hingewiesen werden – das Basteln. Der Bastler ist eine gleichzeitig lächerliche und heroische Gestalt; die Bezeichnung seines Tuns im Französischen, la bricolage, scheint den Abgrund zwischen den beiden Erfahrungswelten leichter zu überbrücken als das deutsche "Basteln". (Wer sich schulen möchte, was Basteln bedeutet, sollte die Geschichte von Entenhausen studieren.) Wird in der Komik Keatons die Objektwelt in der Form eines Balletts disponibel, bei dem alles mittanzt, so zeigt der Slapstick die Nachtseite einer Welt, in der alle Objekte auf unsere Berührung katastrophisch reagieren und wir selbst mit Haut und Haaren zum Objekt geworden sind. Zwischen diesen Welten rennt der bricoleur unruhig hin und her, versucht hier wie dort einen Nagel einzuschlagen, ohne den Unterschied der beiden Reiche wirklich zu begreifen (was seine besondere Glücksfähigkeit ausmacht). In unserem Leben steckt ein Traum von überlegener Geschicklichkeit, souveräner, rascher Geste – die Utopie des richtigen Griffs. Der Slapstick ist eine negative Utopie dieser Plötzlichkeit und Zielsicherheit – die, daß jene Kräfte uns nicht zuwachsen, sondern auf uns zielen. Kann man sie noch einmal verwandeln, wenn man sich an die richtige Stelle unter die stürzende Hauswand stellt?

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Mit freundlicher Genehmigung des Berenberg Verlages
(Copyright Berenberg Verlag)

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