Vorgeblättert

Leseprobe zu John Cage: Empty Mind. Teil 3

30.07.2012.
71'00''
Als Xenia und ich aus Chicago in New York ankamen, hatten wir am Busbahnhof gerade mal 25 Cent in der Tasche. Wir dachten, wir würden eine Weile bei Peggy Guggenheim und Max Ernst unterkommen. Max Ernst hatte uns in Chicago getroffen und gesagt: "Wir haben ein großes Haus am East River. Solltet ihr nach New York kommen, könnt ihr jederzeit bei uns wohnen." Ich ging am Busbahnhof in eine Telefonzelle, warf einen Nickel ein und wählte. Max Ernst nahm ab. Er erkannte meine Stimme nicht. Schließlich sagte er: "Hast du Durst?" Ich sagte: "Ja." Er sagte: "Dann komm morgen auf einen Cocktail vorbei." Ich ging zurück zu Xenia und erzählte ihr, was passiert war. Sie sagte: "Ruf ihn noch einmal an. Wir können nur gewinnen und haben nichts zu verlieren." Das machte ich. Er sagte: "Ach! Ihr seid es. Wir haben seit Wochen auf euch gewartet. Euer Zimmer ist schon bereit. Kommt nur gleich her."

72'00''
Xenia erzählte mir einmal, daß sie in ihrer Kindheit, als sie in Alaska lebte, mit Freunden einen Club hatte, in dem es nur eine Regel gab: Nicht albern sein.

73'00''
In der High School stürzte ich mich in die Redekunst, wie das damals hieß. Als der südkalifornische Rednerwettstreit anstand, wurde die Situation heikel. L. A. High hatte den Wettbewerb zwei Jahre hintereinander gewonnen. Wenn es uns zum dritten Mal gelang, würde der Pokal in den Besitz der Schule übergehen. Ich wurde gewählt, die Schule zu vertreten. Ich bestand die Teilwettbewerbe und schaffte es ins Finale, das in der Hollywood Bowl vor einem Publikum von etwa fünfunddreißig Personen stattfinden sollte. Am Tag davor erklärte mir mein Mentor, daß die Jury meine schriftliche Ausarbeitung relativ schlecht bewertet hatte und daß mich jedes Jurymitglied auf den ersten Platz setzen müsse, damit ich das Finale gewann. Ich entschied: Die Situation war hoffnungslos, und das einzige was mir blieb, war, den Wettbewerb zu vergessen und einfach zu sagen, was ich zu sagen hatte. So geschah es. Der Pokal gehört immer noch der Schule.

74'00''
Im Zen heißt es: Wenn etwas nach zwei Minuten langweilig ist, probiere es vier Minuten. Wenn es immer noch langweilt, probiere acht, sechzehn, zweiunddreißig und so weiter. Irgendwann entdeckt man, daß es ganz und gar nicht langweilig ist, sondern sehr interessant.

75'00''
An der New School sollte ich einmal als Vertretung für Henry Cowell einen Kurs über Musik des Orients geben. Ich hatte ihm gesagt, davon hätte ich keine Ahnung, doch er sagte: "Das macht nichts. Gehen Sie einfach zu den Schallplatten. Nehmen Sie eine heraus. Legen Sie sie auf und diskutieren Sie danach mit der Klasse." Ich nahm also die erstbeste Schallplatte. Es war die Aufnahme eines buddhistischen Rituals. Es begann mit einem kurzen mikrotonalen Gesang mit Glissandotönen, der bald in ein lautes, sich wiederholendes perkussives Pochen überging. Dieses Geräusch dauerte unerbittliche fünfzehn Minuten, ohne merkliche Variationen. Eine Dame stand auf, kreischte und schrie danach: "Machen Sie das aus. Ich kann das nicht länger aushalten." Ich nahm den Tonarm hoch. Darauf sagte ein Mann in der Klasse ärgerlich: "Warum haben Sie das ausgestellt? Gerade habe ich angefangen, es interessant zu finden."

76'00''
In Amsterdam sagte einmal ein holländischer Musiker zu mir: "Es muß für Sie in Amerika sehr schwierig sein, Musik zu schreiben. Sie sind so weit entfernt von den Zentren der Tradition."

                                               *

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
(Copyright Suhrkamp Verlag)


Mehr Informationen zum Buch und Autor hier