Vorgeblättert

Leseprobe zu Josef Winkler: Mutter und der Bleistift. Teil 3

25.03.2013.
ZWEI

DER BLEISTIFT UND DIE SCHÖNE HAND ODER DAS PHOSPHOREZIERENDE KRUZIFIX, DAS IM ELTERLICHEN SCHLAFZIMMER MIT GIFTIG-GRÜNEM BLICK AUF DIE MADONNA SULLA SEGGIOLA VON RAFFAEL SCHAUT


Mit der Erzählung "Wunschloses Unglück" von Peter Handke in meiner ledernen Umhängetasche, einem roten indischen Notizbuch, das ich vor ein paar Jahren in Varanasi gekauft hatte, und die Pelikan-Füllfeder in der Hand, abwechselnd lesend und schreibend, sitze ich in der indischen Stadt Pune, ungefähr 150 Kilometer von Mumbai entfernt, in einer Gemüsehalle und denke beim Anblick eines meterhohen, auf dem Boden liegenden Stoßes Petersilie an meine inzwischen verstorbene Mutter - "Der Bleistift roch nach Rosmarin", steht in Peter Handkes "Phantasien der Wiederholung" -, an ihren zweiten Gemüsegarten am Fuße des kreuzförmig gebauten Dorfes, an der mit Moos bewachsenen Friedhofsmauer, gegenüber der Kirche. Gleichzeitig mischte sich auch immer wieder, zwischen Buch und eigenes Schreiben, ein Zeitungsartikel aus der "Hindustan Times", ein, den ich den ganzen Tag in Pune nicht loswerden konnte. Ein zehnjähriges Mädchen in Bangalore, das gemeinsam mit seiner Schwester von der Schule kam, fiel, als es in einem Hanuman-Tempel gebetet hatte und sich danach zum Austreten ins Gebüsch begab, einem Racheakt von vier Männern, die mit ihrem Vater in Konflikt waren, zum Opfer. Die hinter einer Staude hockenden Männer übergossen das Mädchen mit Kerosin und zündeten es an. Die schreiende Schwester konnte Vorübergehende informieren, die mit ihren langen breiten Schals die Flammen am brennenden Kind erstickten und es sofort ins Krankenhaus brachten. Ihre Haut soll zu 75% verbrannt sein. Sie ringe mit dem Tod. "Immer wieder bei Giottos Trauernden: die vor Trauer geschwollenen Oberlippen", steht in den Aufzeichnungen "Gestern unterwegs" von Peter Handke. Der verwitterte Zaun an dem Gemüsegarten meiner Mutter in meinem Heimatdorf Kamering war immer desolat, voller grauer Flechten, wurmstichig und morsch, die Nägel verbogen und rostig. Links vom Zaun, ebenfalls vor der Friedhofsmauer, stand ein breiter, hochgewachsener Holunderstrauch, "Holler", wie wir ihn nannten, mit schirmtraubigen, nach Zitrone riechenden Blüten, unter dessen Ästen der Vater ausgesonderte Ackergerätschaften parkte, die von Jahr zu Jahr rostiger und morscher wurden, rascher als die verwesenden Knochen der Toten zusammenbrachen und in die Knie gingen. Dieser Gemüsegarten auf dem sogenannten "Kirchenfeld" war ein kleiner Teil eines großen Feldes, das der Vater von der Diözese gepachtet hatte und auf dem er Getreide und Kukuruz anbaute. Wenn es wieder einen Streit gab zwischen meinem Vater und dem Pfarrer und die unausgesprochene Drohung in der Luft lag, daß der Pfarrer die Pacht kündigen könnte, hatte ich Angst, daß uns der makabre Gemüsegarten an der Friedhofsmauer verlorengehen könnte, wir keine Möhren und Rettiche, keine Petersilie und kein Maggikraut mehr ziehen könnten in diesem Gemüsegarten, in dem ich als Kind oft die gruselige und meine Fantasie anregende Vorstellung hatte, daß das unter der steinernen Friedhofsmauer hindurch in den Gemüsegarten wandernde Leichengift der Toten die Wurzeln unseres Gemüses verseucht hätte und wir, besonders in den Träumen, Zwiesprache mit den Toten hielten, besonders mit den verunglückten Kindern und den jugendlichen Selbstmördern, die uns von Himmel und Hölle erzählten. "Herr Enz!" sagte der Pfarrer, auf der hölzernen Bachbrücke stehend, "Sie waren schon wieder nicht in der Sonntagsmesse!" zu meinem Vater, der, mit einer Peitsche in der Hand, die Kühe zum Brunntrog, zur Tränke getrieben hatte. "Ich gebe Ihnen gerne die Peitsche, Herr Pfarrer, wenn Sie für mich die Stallarbeit machen, dann gehe ich in die Sonntagsmesse!" Wenn die Mutter in der Sommerhitze mit hochrotem Gesicht, den beigefarbenen, handgeflochtenen Strohhut mit dem reiten roten Band auf ihrem Kopf, das Unkraut jätete, hielt ich mich meistens im Friedhofsgelände auf und ging mit der eingebeulten, blechernen grausilbernen Gießkanne von Grab zu Grab und versorgte die rosaroten und weißen Fleischblumen - "Die Fleischblumen sind dankbare Blumen, sie halten sogar die Sommerhitze aus", sagte sie - mit Frischwasser, auch meine drei, vier namenlosen, verwahrlosten Lieblingsgräber, wie ich sie nannte, die Kindergräber mit dem kärglichen Blumenschmuck von wilden hellvioletten Hundsveilchen, Margeriten und Löwenzahn, auf denen mehrere zerbrochene Gipsengel lagen, niemand wagte es, die abgebrochenen Engelsflügel wegzuräumen, auf den farbigen Friedhofsabfallhaufen zu werfen, auf dem wir uns oft herumtummelten, aus den weggeworfenen, verfaulten Totenkränzen zogen wir rote Plastiknelken heraus, steckten sie in ein Knopfloch des Hemdes und stolzierten dandyhaft durchs Dorf.
     Oft sprachen meine Großmutter väterlicherseits und meine noch junge Mutter nach einer kaum erwähnenswerten Meinungsverschiedenheit kein Wort mehr miteinander. Beleidigt verließ die dicke Großmutter, die einst, als Hitler mit seinem Konvoi durch Kamering fuhr, zur Haustür hinausgelaufen war, ihre Hände in die Höhe gerissen und "Heil Hitler! Heil Hitler!" gerufen hatte, die Bauernküche und zog sich in ihr Zimmer im ersten Stock zurück. "Die Muata ist auch schon wieder seit fünf Jahren hin!" soll die Großmutter einmal zu meiner Mutter gesagt haben, als sie von der verstorbenen Mutter meiner Mutter sprach, die im Zweiten Weltkrieg drei Söhne im jugendlichen Alter verloren hatte und an gebrochenem Herzen gestorben war. Das soll meine Mutter, so erzählte sie es mir später mehrmals, tief verletzt haben, die Mutter ist hin. "So redet man über ein Vieh und nicht über einen Menschen!" sagte sie. Wochenlang verließ die beleidigte Großmutter väterlicherseits ihr Zimmer nicht mehr und ließ sich Tag für Tag von meiner jungen Mutter das Mittag- und Abendessen servieren. Da es zu dieser Zeit im ersten Stock des Bauernhauses noch kein Fließwasser gab, ging sie morgens mit einer gefüllten Waschschüssel langsam und vorsichtig über die sechzehnstufige Holzstiege hinauf und stellte sie im Zimmer der Großmutter auf einen wackeligen Schemel. Sie frisierte die Alte, schmierte ihr Veilchenöl ins dünne grauweiße Haar, flocht zwei Zöpfe, die sie als semmelartiges Gebilde auf dem Hinterkopf zusammendrehte und mit zwei welligen silbernen Nadeln feststeckte. Eine bestimmte Stelle des dunkelgrünen Diwans, den ihr Sohn, der Onkel Hans, Konditor der Konditorei Rabitsch in Klagenfurt, der auch der Chauffeur des Bischofs von Gurk war, zu einem Geburtstag angebracht hatte, auf dem und wo die Alte Tag für Tag stundenlang saß und spekulierend, wie sie es nannte, ihre beiden Daumen drehte, war verseucht von ihrem Urin und eingebeult von ihrem Gewicht, sie wog weit über hundert Kilogramm. Die Oma spekuliert schon wieder! hat es geheißen. Wenn sie ihre beiden Daumen im Kreis drehte und ich mich zu ihr gesellte, sagte sie öfter: "Seppl! Kratz mir den Buckel!" Nach einigen Wochen taute die Großmutter, wie es hieß, wieder auf und ging langsam mit ihren nach Urin riechenden, heruntergerutschten schwarzen Strümpfen und knöchelhohen grauen Filzpatschen, deren Innenseiten mit schwarzen Hakenkreuzen bestickt waren, über die Stiege hinunter, schlapfte schlürfend mit ihrem kolossalen Lebendgewicht den engen Flur des Hauses entlang und setzte sich wortlos in die Küche. Sie stierte, das Fenster im Rücken, lange vor sich hin, ehe sie ein Wort der Versöhnung über ihre Lippen brachte. Als es dann abwärtsging mit der Gesundheit der Großmutter, tanzte die Mutter, wie es hieß, ein Jahr lang im Haus auf und ab, ging morgens mit der Waschschüssel über die sechzehnstufige Stiege, brachte ihr zweimal am Tag Malzkaffee - eine Mischung aus Linde-Kaffee und Melanda-Feigenkaffee - mit einem fetten Krapfen ins Zimmer. Mittags breitete sie der im Bett liegenden, auf Tod und Teufel wartenden Großmutter ein Küchenhandtuch auf dem Schoß aus und stellte die heiße Suppe drauf. Eine Zeitlang konnte die Alte die Suppe noch alleine löffeln, später mußte sie von meiner Mutter in ihren faltigen, zahnlosen Mund hineingefüttert werden. "Mund auf! Mund auf!" hörte ich immer wieder, wenn ich vor der Tür stand und horchte. "Ich hab keinen Hunger! Ich hab keinen Hunger!" jammerte die wehleidige Alte.
     Oft öffnete ich, wenn ich die vereinsamte, bettlägrig gewordene Großmutter in ihrem Zimmer besuchte, die mit ihrem schwarzen, am Griff schmierigen Gehstock vom Bett aus auf den Fußboden klopfte und uns rief, ohne daß einer sie wahrnahm, das Fläschchen mit dem Veilchenöl, roch daran, schmierte mir ein paar Tropfen ins Haar, setzte mich, den Rücken zum Fenster, wo auf einem Fichtenast der Eichelhäher, der Totenvogel, lauerte - "Seppl! Hast du die Tschufitl gehört? Sie hat schon wieder geschrien! Ichwerde bald sterben, Bua, bald sterben!" -, an den Tisch, öffnete die Schublade und schaute in einem dicken Fotoalbum mit türkisfarbenem, gepolstertem Einband auf ein Bild mit einem aufgebahrten und so schön zurechtgemachten Kind, daß ich mich am liebsten zu ihm gelegt hätte, wenn noch Platz vorhanden gewesen wäre. Das verblichene Kind lag in einem altmodischen, handgeflochtenen Kinderwagen mit einem Schiebdach. Das Haupt der toten Bauernprinzessin, das auf einem weißen, gehäkelten Zierpolster lag, war mit einem Strauß Stoffblumen und lilienartigen Blüten aus weißem Wachs bedeckt, nur die freie Stirn konnte man sehen. Der Mund des toten Mädchens war unter der Hasenscharte der Oberlippe leicht geöffnet. "Manchmal geradezu handgreiflich der Drang, die Toten zum Leben zu erwecken, wie jetzt hier in der Sonne, wo sich am Boden die Blätter sacht drehen; was aber dann mit den Auferweckten anfangen?" Die geschlossenen Augen sahen einer waagrechten Kinderscheide ähnlich, die Nase mit den großen Nasenlöchern war stumpf, die Wangen pausbacken voll, die mit einem Rosenkranz umwickelten Händchen zum Gebet gefaltet, spitz die leicht weitergewachsenen Fingernägel. Weißgekleidet, mit aufgeplusterten Ärmeln, lag das Kind in seinem putzigen Sarg. Ein breites Seidenband, in der Bauchmitte mit einer Schleife verziert, war links und rechts am Rande des Kinderwagens festgebunden, damit es sich nicht erheben und mit dem weißen Schleier auf dem Kopf und einem Strauß Vergißmeinnicht unter der Achsel vor seinem Begräbnis fliehen und sich hinter einem Grabstein verstecken konnte. Auf seinen Oberschenkeln lagen zwei weiße, kunstvoll gebundene Kränzchen mit geschlossenen Wachsblüten. Ob das Kind wohl umgebettet wurde in einen kleinen weißen Kindersarg oder ob es im über und über geschmückten Kinderwagen mitsamt den Rädern begraben wurde, um damit die Himmelsleiter schneller zu ersteigen, fragte ich mich immer wieder beim Betrachten des Bildes. Leise legte ich das gepolsterte Fotoalbum wieder in die Schublade, denn ich wollte nicht, daß meine bettlägrige Großmutter bemerkte, daß ich sie auch deswegen mehrmals am Tag besuchen kam, weil ich das Bild mit dem toten Kind anschauen, mich in seine Totenwelt hineinträumen wollte. Meine Mutter hatte überhaupt keine Ahnung von der Existenz dieses Fotos. Ich wagte nie, es ihr zu zeigen, ich schämte mich nicht nur, ich hatte auch Angst davor, zu sagen, daß ich so gerne dieses tote Kind anschaute.
                                                            
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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages
(Copyright Suhrkamp Verlag)

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