Vorgeblättert

Leseprobe zu Leonardo Padura: Ketzer. Teil 1

06.03.2014.
1

Havanna, 1939



Mehrere Jahre sollte Daniel Kaminsky brauchen, um sich an den pulsierenden Lärm einer Stadt zu gewöhnen, die in allgegenwärtiges Stimmengewirr eingehüllt war. Sehr bald hatte er herausgefunden, dass hier alles unter lautem Geschrei besprochen und beschlossen wurde, alles schrillte durch die Atmosphäre und die Feuchtigkeit: Die Autos machten sich mittels explosionsartiger Geräusche und Motorengeknatter bemerkbar oder verschafften sich durch anhaltendes Hupen Gehör, die Hunde bellten mit oder ohne Anlass, und die Hähne krähten sogar um Mitternacht, während die Straßenhändler mit einer Trillerpfeife, einer Glocke, einer Trompete, mit Pfiffen, einer Knarre, einer Flöte, melodiösem Singsang oder einfach nur mit Gebrüll auf sich aufmerksam machten. Er war in einer Stadt gestrandet, in der zu allem Überfluss jeden Abend um Punkt neun ein gewaltiger Kanonenschuss widerhallte, ohne dass der Krieg erklärt worden oder Stadttore zu schließen gewesen wären, und in der immer, wirklich immer, in fetten wie in mageren Zeiten, irgendjemand Musik hörte und auch noch dazu sang.
     In seiner ersten Zeit in Havanna versuchte der Junge oftmals, sofern es ihm sein an Erinnerungen armes Gedächtnis erlaubte, die träge Stille des Judenviertels von Krakau heraufzubeschwören, wo er geboren worden war und seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Aus der reinen Intuition des Entwurzelten heraus sehnte er sich nach jener magentafarbenen, kalten Stadt seiner Vergangenheit wie nach einem Holzbrett, an das er sich nach dem Schiffbruch, in den sich sein Leben verwandelt hatte, hätte klammern können. Doch sobald seine tatsächlich erlebten oder nur erfundenen Erinnerungen den festen Boden der Realität berührten, versuchte er, ihr zu entfliehen, denn im stillen, düsteren Krakau seiner Kindheit konnte lautes Geschrei nur zweierlei bedeuten: entweder war Markttag, oder es drohte irgendeine Gefahr. Während seiner letzten Jahre in Polen drohte häufiger Gefahr, als dass Obst und Gemüse verkauft wurde, und die Angst war eine ständige Begleiterin.
     Wie nicht anders zu erwarten, deutete Daniel Kaminsky in der Stadt der schrillen Töne das Aufbrausen jenes explosiven Lärms als Alarmzeichen. Es ließ ihn hochschrecken, bis er mit den Jahren begriff, dass den gefährlichsten Situationen in dieser neuen Welt Stille voranzugehen pflegte. Als er schließlich mit dem Lärm zu leben lernte, ohne ihn zu hören, und zu atmen, ohne sich dessen bei jedem Atemzug bewusst zu sein, entdeckte der junge Daniel, dass er die Stille inzwischen nicht mehr als Wohltat schätzte. Doch er war stolz darauf, sich mit dem Getöse Havannas versöhnt zu haben und sich dieser turbulenten Stadt zugehörig zu fühlen, in die ihn ein historischer oder göttlicher Fluch geworfen hatte. Bis zum Ende seines Lebens würde er uneins sein, welches der beiden Adjektive das zutreffende war.
     An jenem Tag, an dem für Daniel Kaminsky der schlimmste Albtraum seines Lebens begann und sich zugleich die ersten Hoffnungsschimmer seines privilegierten Schicksals zeigten, lagen ein intensiver Meergeruch und eine ungewöhnliche, fast hörbare Stille über dem frühmorgendlichen Havanna. Sein Onkel Joseph hatte ihn viel zeitiger geweckt als sonst, wenn er ihn in die hebräische Schule des Jüdischen Zentrums schickte, wo der Junge seine schulische und religiöse Ausbildung erhielt. Dazu den Spanischunterricht - unumgänglich, wenn er sich in der verwirrenden, bunten Welt zurechtfinden wollte, in der er für wusste der Himmel wie lange Zeit leben würde. Doch nachdem der Onkel ihm den Sabbat-Segen erteilt und ihm ein frohes Schawuotfest gewünscht hatte, wurde es offensichtlich, dass der Tag ein ganz besonderer war: Entgegen seiner Gewohnheit drückte der Onkel dem Jungen einen Kuss auf die Stirn.
     Onkel Joseph, ebenfalls ein Kaminsky und natürlich auch Pole, damals schon von allen "Pepe Cartera" genannt - wegen des Geschicks, mit dem er Taschen, Geldbörsen und Aktenmappen ("Carteras") sowie andere Lederartikel anfertigte -, hatte die Gebote des jüdischen Glaubens stets gewissenhaft befolgt und würde dies bis zu seinem Tod tun. Deswegen erinnerte er den Jungen, bevor er ihm erlaubte, mit dem Frühstück zu beginnen, daran, dass sie es nicht bei den rituellen Waschungen und den üblichen Gebeten eines ganz besonderen Morgens belassen dürften. Die Gnade des Allerhöchsten, gesegnet sei Er, habe es nämlich gewollt, dass das Schawuotfest, die Feier zur Erinnerung an die Überreichung der Zehn Gebote an Moses und die feierliche Annahme der Thora durch die Gründer der Nation, dass also das Schawuotfest auf einen Sabbat falle. Nein, an diesem Morgen müssten sie noch viele weitere Bitten an ihren Gott richten, damit sie mit Seiner Hilfe auf bestmögliche Art das Problem lösen konnten, das sich derzeit zuspitze. Selbst wenn die Bedrohung sie womöglich gar nicht erreiche, fügte der Onkel mit verschmitztem Lächeln hinzu.
     Nach fast einer Stunde des Betens, während der Daniel glaubte, vor Hunger und Müdigkeit ohnmächtig zu werden, bedeutete Joseph Kaminsky ihm endlich, er dürfe sich nun von dem reichhaltigen Frühstück bedienen. Es bestand aus Ziegenmilch (die Italienerin Maria Perupatto, eine römische Christin und als solche von Onkel Joseph als "Sabbat-Goi" ausgewählt, hatte sie über den glühenden Kohlen ihres Öfchens erwärmt), ungesäuertem Brot, Obstkonfitüre und sogar einer ordentlichen Portion honigtriefender Baklava. Ein Festessen, bei dem sich das Kind fragte, woher der Onkel das Geld für einen solchen Luxus nahm. Denn außer den Lärmqualen und der schrecklichen Woche, die auf diesen Morgen folgen sollte, würde Daniel Kaminsky für den Rest seines langen Erdenlebens von jenen Jahren den unersättlichen und ungesättigten Hunger in Erinnerung behalten, der ihn stets verfolgte wie ein treuer Hund.
     Nach dem ungewöhnlich üppigen Frühstück nutzte der Junge den ausgedehnten Aufenthalt seines an Verstopfung leidenden Onkels auf der Gemeinschaftstoilette der Mietskaserne, um auf das Flachdach des Gebäudes zu steigen. In diesen frühen Stunden vor Sonnenaufgang war der Fliesenboden noch kühl. Obwohl es ihm verboten war, wagte er sich an den Rand des Daches vor, um auf die Straßen Compostela und Acosta im Herzen der wachsenden jüdischen Gemeinde Havannas hinunterzublicken. Das Regierungsgebäude, ein altes katholisches Kloster aus der Kolonialzeit, in dem es sonst vor Menschen wimmelte, war noch verriegelt und verrammelt und lag da wie tot. Unter der Arkade über der Calle Acosta, dem sogenannten "Bogen von Bethlehem", ging niemand hindurch. Das Kino Ideal, die deutsche Bäckerei, die polnische Eisenwarenhandlung, das Restaurant Moishe Pipik, das für den Appetit des stets hungrigen Kindes die größte Verlockung auf dem Erdball darstellte, hatten ihre Rollläden noch unten und die Lichter in den Schaufenstern noch nicht angezündet. Auch wenn in dieser Gegend viele Juden wohnten und die meisten Geschäfte Juden gehörten, von denen einige ihre Läden samstags geschlossen hielten, war die herrschende Stille nicht nur auf die frühe Stunde zurückzuführen oder darauf, dass Sabbat war, dazu Schawuot, ein Tag der Synagoge also, sondern auch auf die Tatsache, dass in diesem Augenblick, während die Kubaner noch tief und fest schliefen, die Mehrheit der Aschkenasen und Sepharden ihre besten Kleider aus dem Schrank holten und sich, wie die Kaminskys, zum Ausgehen fertig machten.
     Die Stille der frühmorgendlichen Stunde, der Kuss des Onkels, das unerwartete Frühstück und der glückliche Umstand, dass Schawuot auf einen Sabbat fiel, hatten Daniels kindliche Erwartung an den beginnenden, außergewöhnlichen Tag nur noch gesteigert. Denn der eigentliche Grund für das zeitige Wecken war ein anderer: Im Lauf des Morgens sollte der Überseedampfer MS St. Louis im Hafen von Havanna anlegen. An Bord des Schiffes, das zwei Wochen zuvor in Hamburg ausgelaufen war, befanden sich neunhundertsiebenunddreißig Juden, die von der nationalsozialistischen Regierung Deutschlands die Erlaubnis erhalten hatten, das Land zu verlassen. Und unter den Passagieren der St. Louis befanden sich der Arzt Jesaja Kaminsky, seine Frau Esther Kellerstein und Judith, ihre kleine Tochter, das heißt, der Vater, die Mutter und die Schwester des kleinen Daniel Kaminsky.


2

Havanna, 2007

Als er die Augen öffnete und bevor er in seinem von billigem Rum noch umnebelten Hirn Ordnung schaffen und sich bewusst werden konnte, dass er die Nacht bei Tamara verbracht hatte und dass, wie sollte es auch anders sein?, Tamara die Frau war, die nun an seiner Seite schlief, durchdrang Mario Conde, wie ein plötzlicher Stich ins Herz, das heimtückische Gefühl des Scheiterns, das ihn nun schon so lange begleitete. Warum aufstehen? Was kannst du mit deinem Tag anstellen?, fragte ihn das hartnäckige Gefühl wie so oft. El Conde wusste darauf keine Antwort und verließ mit dieser bedrückenden Gewissheit das Bett. Er gab sich dabei größte Mühe, den friedlichen Schlaf der Frau nicht zu stören, aus deren halb geöffnetem Mund ein silbriger Speichelfaden rann und ein beinahe musikalisches, leicht pfeifendes Schnarchen drang.
     Nachdem er am Küchentisch frisch aufgebrühten Kaffee getrunken und sich die erste Zigarette des Tages angezündet hatte, was ihn wieder in den labilen Zustand eines verstandesbegabten Wesens versetzte, sah er auf den Innenhof hinaus, wo sich langsam das erste Licht eines weiteren heißen Septembertags ausbreitete. Die Aussichten waren jedoch so trüb, dass er auf der Stelle beschloss, ihnen auf die einzige ihm bekannte Weise und in der einzigen Form, die ihm möglich war, zu begegnen: von vorn und mit offenem Visier.
     Eineinhalb Stunden später lief derselbe Mario Conde aus allen Poren schwitzend durch die Straßen des Cerro und schrie wie ein mittelalterlicher Straßenhändler aus vollem Hals sein verzweifeltes Anliegen heraus: "Kaufe alte Bücher! Los, komm schon, verkauf mir deine alten Bücher!" Seit El Conde vor fast zwanzig Jahren den Polizeidienst quittiert hatte, um sich dem sehr heiklen, aber damals noch einträglichen An- und Verkauf alter Bücher zu widmen, hatte er alle möglichen Betriebsmodelle ausprobiert. Angefangen bei der primitiven Methode, sein Kaufinteresse lauthals auf der Straße herumzuposaunen (was seinen Stolz anfangs aufs Tiefste verletzt hatte), über das Aufsuchen ausgewählter Bibliotheken nach Hinweis irgendeines Informanten oder früheren Kunden bis hin zum Klopfen an die Türen von Häusern im Vedado oder in Miramar, bei denen gewisse Merkmale (ungepflegter Garten, Fenster mit einer zerbrochenen Scheibe) darauf schließen ließen, dass möglicherweise Bücher vorhanden und, vor allem, die Bewohner dazu gezwungen waren, sie zu verkaufen. Als er dann einige Zeit später das Glück hatte, Yoyi El Palomo kennenzulernen, den jungen Mann mit dem untrüglichen Riecher fürs Geschäft, und fortan ausschließlich nach besonders exquisiten Büchern suchte, für die Yoyi immer genau die richtigen Käufer auftrieb, begann für El Conde eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Sie dauerte mehrere Jahre an und gestattete es ihm, sich beinahe hemmungslos seinen Lieblingsbeschäftigungen im Leben zu widmen: gute Bücher zu lesen und mit seinen ältesten und engsten Freunden zu essen, zu trinken, Musik zu hören und zu philosophieren (besser gesagt: dummes Zeug zu quatschen).
     Doch dieser Quell sprudelte nicht ewig. Seit er vor drei, vier Jahren über die märchenhafte, von den Geschwistern Dionisio und Amalia Ferrero fünfzig Jahre lang eifersüchtig gehütete Bibliothek der Familie Montes de Oca gestolpert war, war er nie wieder auf eine vergleichbare Goldader gestoßen. Seitdem war größerer Aufwand erforderlich, um die Wünsche der anspruchsvollen Käufer zu befriedigen. Das Feld war praktisch abgeerntet und rissig geworden wie Böden in der Trockenzeit, und für El Conde brachen Zeiten an, in denen es häufiger Tiefs als Hochs gab und die ihn zwangen, immer öfter auf die erbärmliche, schweißtreibende Methode des Straßenkaufs zurückzugreifen.
     Weitere eineinhalb Stunden später, als er einen Teil des Cerro durchquert hatte und sein Geschrei, allerdings ohne greifbares Ergebnis, sogar bis ins benachbarte Palatino gedrungen war, zwangen ihn Gleichmut, Trägheit und die brutale Septemberhitze dazu, das Geschäft ruhen zu lassen und in einen Bus zu steigen, der aus dem Nichts auftauchte, wunderbarerweise vor ihm hielt und ihn in die Nähe des Hauses seines Geschäftspartners brachte.
     Yoyi El Palomo war im Gegensatz zu Mario Conde ein Unternehmer mit Weitblick und hatte seine Aktivitäten umgestellt. Seltene, kostbare Bücher seien nur ein Hobby, behauptete er, sein wahres Interesse gelte lukrativeren Dingen, nämlich dem An- und Verkauf von Häusern, Autos, Schmuck und anderen wertvollen Dingen. Der junge Ingenieur, der nie einen Schraubenzieher in die Hand genommen, geschweige denn eine Baustelle betreten hatte, hatte Mario immer wieder mit seiner Hellsichtigkeit in Erstaunen versetzt und schon vor geraumer Zeit erkannt, dass das Land, in dem sie lebten, weit entfernt war von dem Paradies, das in den Zeitungen und in den offiziellen Reden beschrieben wurde. Und so hatte er beschlossen, Profit aus der Misere zu schlagen, so wie es die Fähigsten immer zu tun wissen. Mit Geschick und Intelligenz griff er an mehreren Fronten an, stets am Rande der Legalität, aber nie zu weit über die rote Linie hinaus. Seine Geschäfte brachten ihm genug ein, um wie ein Fürst zu leben: Markenkleidung, Goldschmuck, teure Restaurants. Stets in Begleitung schöner Frauen und in seinem Chevrolet Cabriolet "Bel Air", Baujahr 1957, den Kenner als das vollkommenste, robusteste, eleganteste und komfortabelste Auto betrachten, das je eine nordamerikanische Fabrik verlassen hat - und für das Yoyi, jedenfalls für kubanische Verhältnisse, ein Vermögen hingeblättert hatte. Yoyi war in jeder Hinsicht ein Musterexemplar des von der Realität überholten Neuen Menschen: desinteressiert an Politik, den vielfältigen Genüssen des Lebens zugewandt und mit einer nutzorientierten Moral ausgestattet.
     "Verdammt, man, du siehst ja richtig scheiße aus", begrüßte er seinen schweißgebadeten Geschäftspartner, dessen Gesicht er semantisch und eschatologisch damit präzise beschrieben hatte.
     "Danke", erwiderte Conde nur und ließ sich auf das weiche Sofa fallen, von dem aus Yoyi, frisch geduscht nach einem zweistündigen privaten Fitnesstraining, sich gerade ein Baseballspiel der obersten US-Liga auf seinem 52-Zoll-Flachbildschirm anschaute.
     Wie so häufig lud Yoyi ihn zum Mittagessen ein. Die Frau, die den jungen Mann bekochte, hatte Kabeljau auf baskische Art zubereitet, dazu Reis mit schwarzen Bohnen, in trockenem Wein, Zucker, Zimt und Butter gebackene Kochbananen und einen Gemüsesalat. El Conde schlang alles mit Heißhunger hinunter, begleitet von einer Flasche Pesquera reserva. Yoyi hatte sie aus dem Freezer geholt, in dem er seine Weine bei der für das feucht-tropische Klima erforderlichen Temperatur aufbewahrte.
     Während sie den Kaffee auf der Terrasse tranken, plagte El Conde wieder jenes nagende Gefühl des Scheiterns und der Frustration.
     "Es läuft nicht mehr, Yoyi. Die Leute haben nicht mal mehr alte Zeitungen."
     "Irgendwas geht immer, man, du darfst nur nicht aufgeben", sagte der andere und streichelte wie gewöhnlich den riesigen Muttergottes-Anhänger an der dicken Goldkette über seinem kräftig gewölbten Brustkorb, dem er seinen Spitznamen "El Palomo", der Täuberich, verdankte.
     "Was heißt hier, nicht aufgeben? Was zum Henker soll ich denn tun?"
     "Ein dicker Auftrag liegt in der Luft, das sagt mir mein Riecher", erwiderte Yoyi und schnupperte tatsächlich in die heiße Septemberluft. "Du wirst in Pesos ersaufen."

zu Teil 2
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