Vorgeblättert

Leseprobe zu Leonardo Padura: Ketzer. Teil 3

06.03.2014.
"Gestatten Sie, dass ich erst einmal den Brief lese?"
"Selbstverständlich. An Ihrer Stelle wäre ich auch sehr neugierig."
Conde grinste. Er öffnete die Haustür, und das Erste, was er sah, war Basura II, der auf dem Sofa lag, auf dem einzigen freien Platz, der von Bücherstapeln nicht belegt war. Der Hund knurrte im Schlaf und bewegte nicht mal den Schwanz, als Conde Licht machte und den Umschlag aufriss.


Miami, den 2. September 2007
Verdammter,
es ist noch lange hin bis zum Silvesteranruf, aber das hier kann nicht warten. Von Dulcita, die vor ein paar Tagen aus Kuba zurückgekommen ist, weiß ich, dass es Euch allen gut geht, nur dicker geworden seid ihr und habt weniger Haare. Der Überbringer des Briefes ist NICHT mein Freund. Seine Eltern waren es BEINAHE, zwei supernette alte Leute, vor allem er, der kubanische Pole. Der Sohn ist Maler, verkauft anscheinend ziemlich gut und hat was (ein paar $) von seinen Eltern geerbt. ICH GLAUBE, er ist ein prima Kerl. Nicht wie Du oder ich, aber irgendwie schon.
Das, worum er Dich bitten wird, ist einigermaßen kompliziert, ich glaube, nicht mal Du kannst ihm helfen. Aber versuch es, bitte, denn auch ich bin in die Sache verwickelt. Außerdem wirds Dir Spaß machen, wirst schon sehen.
Übrigens hab ich ihm gesagt, dass Du hundert Dollar pro Tag nimmst, plus Spesen. Hab ich aus einem Roman von Chandler, den Du mir vor zwei verdammten Jahren geliehen hast. Da gab es einen Typen, der hat geredet wie die Figuren von Hemingway, erinnerst Du Dich?
Seid ALLE herzlich umarmt. Ich weiß, dass der Hasenzahn nächste Woche Geburtstag hat. Richte ihm meine Glückwünsche aus. Hab Elias ein Geschenk für ihn mitgegeben, außerdem ein paar Medikamente für Jose.
Mit Liebe und Untergründigkeit,
auf IMMER, Dein Bruder
Andrés
PS: Ach ja, sag Elias, er soll Dir unbedingt die Geschichte mit dem Foto von Orestes Miñoso erzählen!


El Conde bekam feuchte Augen, er konnte nichts dagegen tun. So müde und frustriert, wie ich bin, dazu die Hitze und die hohe Luftfeuchtigkeit, da jucken einem die Augen, log er sich vor. Im Brief, in dem so gut wie nichts stand, sagte Andrés alles zwischen den Zeilen und durch die Großbuchstaben. Die Tatsache, dass er sich an den Geburtstag vom Hasen erinnerte, und das ein paar Tage vor dem Datum, verriet es: Wenn er nicht schrieb, dann weil er weder konnte noch wollte, um sich nicht herunterziehen zu lassen. Auch in der Entfernung war Andrés ihnen nah und würde es immer bleiben. Die Clique, der er seit vielen Jahren angehörte, war unzertrennlich, IN SAECULA SAECULORUM, in Großbuchstaben.
Conde legte den Brief auf den kaputten russischen Fernseher, den auf den Müll zu werfen er sich nicht entschließen konnte. Zusätzlich zu den schlimmsten und täglich neuen Frustrationen und Enttäuschungen überrollte in die Sehnsucht, und er vermutete, dass sich diese unerwartete Unterhaltung wohl am besten mit Alkohol ertragen ließe. Aus der Flasche billigen Rums, die er noch in Reserve hatte, goss er reichlich bemessene Rationen in zwei Wassergläser. Erst jetzt wurde er sich seiner Situation bewusst: Wollte der Typ ihm tatsächlich hundert Dollar pro Tag zahlen, nur damit er ihm half, etwas herauszufinden? Mario wurde schwindelig. In seiner aus den Fugen geratenen, ärmlichen Welt waren hundert Dollar ein Vermögen. Und wenn er ihm fünf Tage half? Das Schwindelgefühl wurde stärker, und um es in den Griff zu bekommen, trank er einen ersten Schluck direkt aus der Flasche. Mit den beiden Gläsern in der Hand und Finanzplänen im verwirrten Kopf ging er wieder vor die Tür.
"Trauen Sie sich?", fragte er Elias Kaminsky und hielt ihm ein Glas hin. Der andere nahm es mit einem gemurmelten "Danke" entgegen. "Es ist billiger Rum … der, den ich normalerweise trinke."
"Gar nicht schlecht", sagte der Ausländer, nach einem vorsichtigen Nippen. "Kommt der aus Haiti?", fragte er dann mit Kennermiene und zündete sich eine weitere Camel an.
Conde nahm einen kräftigen Schluck und tat, als koste er den billigen Fusel auf der Zunge.
"Ja, wahrscheinlich Haiti. Also gut, wenn Sie wollen, reden wir morgen in Ihrem Hotel weiter, und Sie erzählen mir ein paar Einzelheiten." Conde bemühte sich, seine Neugier zu verbergen. "Aber sagen Sie mir, wobei genau kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Wie gesagt, es ist eine lange Geschichte. Sie hat viel mit dem Leben meines Vaters Daniel Kaminsky zu tun. Sagen wir, ich suche ein Bild, einen Rembrandt, soviel ich weiß."
El Conde musste lachen. Einen Rembrandt? In Kuba? Vor Jahren, als er noch bei der Polizei gewesen war, hatte ihn ein Matisse in eine schmerzliche Geschichte von Liebe und Hass getrieben. Und dieser Matisse war auch noch falsch gewesen, falscher als der Treueschwur einer Hure … oder eines Polizisten. Doch die Erwähnung eines Bildes des holländischen Meisters entfachte Marios Neugier. Sie wurde immer stärker, vielleicht weil dieser fürchterliche Rum, möglicherweise tatsächlich aus Haiti, seine Wirkung tat, aber vor allem, weil ein dicker Batzen Geld winkte.
"Einen Rembrandt also … Was ist das für eine Geschichte, und was hat sie mit Ihrem Vater zu tun?", hakte er nach und fügte zwei Argumente hinzu, die den Fremden zum Weiterreden bewegen sollten: "Um diese Uhrzeit ist es gar nicht mehr so heiß, und in der Flasche ist auch noch was drin."
Elias Kaminsky trank aus und hielt Conde das leere Glas hin. "Setzen Sie den Rum auf die Spesen."
"Erst mal sorge ich für eine neue Glühbirne. Besser, wenn man sich ins Gesicht sehen kann, meinen Sie nicht?"
Während er eine Birne suchte und einen Stuhl, auf den er sich stellen konnte, die Birne einschraubte und es endlich Licht ward, dachte El Conde nach. Er war wirklich nicht zu retten. Warum, zum Henker, ermunterte er den Mann, ihm die Geschichte seines Vaters zu erzählen, obwohl er ihm aller Voraussicht nach nicht helfen konnte, auch nur irgendwas zu finden? Nur weil er ihm Geld angeboten hatte? So weit ist es mit dir gekommen, Mario Conde?, überlegte er und ersparte sich für den Moment lieber die Antwort.
Als Mario wieder in seinem Schaukelstuhl saß, zog Elias Kaminsky ein Foto aus der Geheimtasche seines Freizeithemds und reichte es ihm.
"Der Schlüssel zu allem könnte dieses Foto sein."
Es handelte sich um die abfotografierte Kopie einer alten Aufnahme. Das Sepiabraun des Originals war einem Grauton gewichen, und man konnte die gezackten Ränder des ursprünglichen Fotos erkennen. Auf dem Bild war eine Frau zwischen zwanzig und dreißig in dunklem Kleid zu sehen. Sie saß auf einem Brokatsessel mit hoher Rückenlehne. Neben ihr stand ein etwa fünfjähriger Junge, eine Hand in ihren Schoß gelegt und den Blick starr aufs Objektiv gerichtet. Aufgrund der Kleidung und der Frisuren der beiden nahm El Conde an, dass die Aufnahme aus den dreißiger Jahren stammte. Nach ausgiebiger Betrachtung der beiden Personen konzentrierte er sich auf ein kleines Bild, das hinter ihnen an der Wand hing, über einem Tischchen mit Blumenvase. Das Bild war, gemessen am Kopf der Frau, vielleicht vierzig mal fünfundzwanzig Zentimeter groß. Conde hielt das Foto ins Licht, um das Gesicht auf dem gerahmten Gemälde genauer zu studieren: das Porträt eines Mannes mit strähnigem, in der Mitte gescheiteltem Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, und dünnem, ungepflegtem Bart. Etwas Undefinierbares ging von diesem Bildnis aus, vor allem von dem melancholischen, etwas verlorenen Blick. Conde fragte sich, ob es sich um das Bild eines gewöhnlichen Mannes handelte oder um eine Christusdarstellung, wie er sie in einem Kunstband mit Rembrandt-Reproduktionen gesehen haben musste. Ein Christus von Rembrandt in einem jüdischen Haus?
"Ist das das Bild von Rembrandt?", fragte er, ohne den Blick vom Foto zu heben.
"Die Frau ist meine Großmutter, der Junge mein Vater. Das Foto wurde in ihrem Haus in Krakau aufgenommen … und das Bild wurde als ein echter Rembrandt beglaubigt. Mit Lupe sieht man es besser."
Er holte eine Lupe aus der Hemdtasche, und Conde betrachtete nun durch sie das Gemälde.
"Und was hat dieser Rembrandt mit Kuba zu tun?"
"Das Gemälde hat sich irgendwann mal in Kuba befunden. Später wurde es ins Ausland gebracht, und vor vier Monaten tauchte es in einem Auktionshaus in London auf. Es sollte zum Einstiegspreis von einer Million zweihunderttausend Dollar angeboten werden. Zu einigen seiner Werke hat Rembrandt nämlich Vorstudien gemacht, und dies scheint eine solche gewesen zu sein. Eine der vielen Vorstudien für seine großen Christusdarstellungen während der Arbeit an Pilger von Emmaus, der Version von 1648. Kennen Sie sich da ein bisschen aus?"
Conde leerte sein Glas und betrachtete das Foto erneut durch die Lupe. Wie viele Probleme in Rembrandts Leben - ein ziemlich beschissenes, wie er gelesen hatte - hätten sich mit dieser Million Dollar lösen können?, fragte er sich unwillkürlich.
"Nur wenig", gestand er. "Ich habe Reproduktionen des Bildes gesehen. Aber wenn ich mich recht erinnere, schaut Christus auf den Pilgern nach oben, gen Himmel, oder?"
"Stimmt. Jedenfalls ist dieser Christuskopf wohl 1648 in den Besitz der Familie meines Vaters gelangt. Meine Großeltern haben das Bild auf ihrer Flucht vor den Nazis 1939 nach Kuba gebracht. Es war so etwas wie ihre Lebensversicherung. Das Bild blieb in Kuba. Sie nicht. Irgendjemand hat es sich unter den Nagel gerissen. Vor ein paar Monaten hat dann jemand anderer versucht, das Gemälde zu verkaufen. Vielleicht glaubte er, der Moment sei gekommen. Über eine Adresse in Los Angeles hat er Kontakt zu einem Auktionshaus aufgenommen. Er besitzt ein Echtheitszertifikat, das 1928 in Berlin ausgestellt wurde, und eine notariell beglaubigte Bescheinigung über den Erwerb von 1940, hier in Havanna. Zu dem Zeitpunkt waren meine Großeltern und meine Tante bereits in einem Konzentrationslager in Holland. Aber mithilfe dieses Fotos, das mein Vater sein ganzes Leben lang aufbewahrt hat, konnte ich die Auktion stoppen. Die Öffentlichkeit ist inzwischen für das Thema Kunstraub an Juden vor und während des Krieges höchst sensibilisiert. Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass es mir nicht um den materiellen Wert des Bildes geht, obwohl der nicht gerade gering ist. Nein, was ich herausfinden will, und deshalb bin ich hier und rede mit Ihnen, ist: Was ist mit diesem Gemälde geschehen, das so etwas wie eine Familienreliquie war, und was ist mit der Person geschehen, die hier in Kuba in seinen Besitz gelangt ist? Wo hat sich das Bild in der Zwischenzeit befunden? Ich weiß nicht, ob sich das jetzt noch herausfinden lässt, aber ich will es versuchen. Und dafür brauche ich Ihre Hilfe."
Conde sah von dem Foto auf und musterte den Fremden. Hatte er sich verhört, oder interessierte sich der Mann tatsächlich nicht für den Millionenwert dieses Bildes? Er versuchte sich in diese offenbar außergewöhnliche Geschichte hineinzudenken, die ihm da serviert wurde, hatte im Moment jedoch nicht den geringsten Anhaltspunkt. Er wusste nur, dass er mehr wissen musste.
"Was hat Ihnen Ihr Vater darüber erzählt, wie das Bild nach Kuba gekommen ist?"
"Nicht viel. Er wusste nur, dass seine Eltern es auf der St. Louis mitgebracht hatten."
"Auf dem berühmten Schiff, das mit den vielen Juden an Bord nach Havanna gekommen ist?"
"Genau. Über das Bild selbst hat mir mein Vater dagegen viel erzählt. Über die Person, die es hier in Kuba besaß, allerdings so gut wie nichts."
Conde lächelte in sich hinein. Ließen ihn die Müdigkeit, der Rum und seine Niedergeschlagenheit endgültig verblöden, oder war das inzwischen sein Normalzustand?
"Ehrlich gesagt, ich versteh das nicht so ganz … Besser gesagt, ich versteh überhaupt nichts", gestand er und gab dem Besucher die Lupe zurück.
"Ich möchte, dass Sie mir helfen, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, damit ich sie verstehe. Schauen Sie, im Moment bin ich ziemlich erledigt, und ich möchte Ihnen die ganze Geschichte gern mit klarem Kopf erzählen. Aber um Sie dazu zu bewegen, sie sich bei unserem morgigen Treffen anzuhören, möchte ich Ihnen etwas gestehen. Meine Eltern sind 1958 aus Kuba fortgegangen. Nicht 59 und auch nicht 1960, als fast alle Juden und Leute mit Geld das Land verließen, um dem zu entkommen, was sie ihrer Einschätzung nach bei einer kommunistischen Regierung erwartete. Ich glaube, dass die überstürzte Abreise meiner Eltern im Jahr 1958 etwas mit diesem Rembrandt zu tun hatte. Und seitdem das Bild bei der Londoner Auktion aufgetaucht ist, bin ich sogar davon überzeugt, dass die Beziehung meines Vaters zum Bild und seine Abreise aus Kuba in einem ziemlich komplizierten Zusammenhang stehen."
"Warum kompliziert?", fragte Conde, jetzt endgültig sicher, allmählich stumpfsinnig zu werden.
"Weil … wenn tatsächlich passiert ist, was ich vermute, hat mein Vater möglicherweise etwas sehr Schlimmes getan."
Conde war kurz davor zu explodieren. Entweder war dieser Elias Kaminsky der lausigste Erzähler aller Zeiten oder ein diplomierter Volltrottel, trotz seines Gemäldes, seiner hundert Dollar pro Tag und seiner gehobenen Freizeitkluft.
"Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was geschehen ist und was Ihnen nun wirklich so zu schaffen macht?"
Der Hüne nahm sein Glas in die Hand und trank aus. Dann sah er Conde an und sagte: "Es ist nicht leicht zu sagen, dass man glaubt, der eigene Vater, den man immer als Vater geachtet hat … dass der eigene Vater einem anderen Menschen die Kehle durchgeschnitten hat."

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Auszug mit freundlicher Genehmigung des Unionsverlages
(Copyright Unionsverlag Zürich)

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