Vorgeblättert

Leseprobe zu Marcel Ophüls: Meines Vaters Sohn. Teil 2

28.01.2015.
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     Zu Beginn des Jahres 1981 war der Präsident Giscard d'Estaing noch der Hausherr im Élysée-Palast, und viele von uns glaubten an seine Wiederwahl, die, so dachten wir, ohne Schwierigkeiten vonstattengehen würde. Ich suchte den Programmdirektor von Antenne 2 auf, ein ganz kleines und sehr liebenswürdiges Männchen, dem ich drei oder vier verschiedene Projekte vorgeschlagen hatte. Ausgesucht höflich und aufmerksam hörte er sich die Ausführungen zu jedem meiner Exposés an, und jedes Mal sagte er: »Ja!« Wusste er über das Ganze bereits mehr als ich? Wusste er, dass Giscard nicht wiedergewählt werden würde und dass er selbst infolgedessen in der Arbeitslosigkeit landen würde? Das ist durchaus möglich und sogar wahrscheinlich.
     »Das Haus nebenan - Chronik einer französischen Stadt im Kriege« war noch immer nicht im Fernsehen gesendet worden. Georges Pompidou hatte absolut nicht gewollt, dass mein Film ausgestrahlt wurde. Es ist wohl noch eine Untertreibung festzustellen, dass sich dieser Präsident offenkundig nicht in der Résistance engagiert hatte. Und die Begnadigung, die Pompidou seinerzeit dem Kollaborateur Paul Touvier gewährt hatte, war ein Ereignis von höchstem Symbolwert in der Geschichte Frankreichs gewesen - keine Lappalie! Zu diesem Zeitpunkt wurde Simone Veil, Richterin und in Frankreich die prominenteste Überlebende von Auschwitz, meine liebste Feindin. Sie sprach sich bei der ORTF für ein Verbot meines Films aus, und in ihren Memoiren mit dem Titel »Ein Leben« enthüllte sie außerdem, dass sie großen Druck auf die anderen Mitglieder des Komitees ausgeübt, ja sie sogar erpresst hatte mit ihrer Erklärung, dass sie augenblicklich zurücktreten würde, falls man die Erlaubnis erteilte, diesen Film auszustrahlen.
     Ich bin oft einer Meinung mit Simone Veil. Schließlich war sie es, die das Aufenthaltsverbot für Dany Cohn-Bendit auf französischem Boden aufgehoben hat. Ich habe auch ihre Äußerungen bezüglich der absoluten Notwendigkeit zur deutsch-französischen Aussöhnung unterschrieben. Und sie hätte weiß Gott gute Gründe gegen diese Versöhnung haben können! Im Verlauf des Prozesses gegen Klaus Barbie war ich ebenfalls mit ihr einer Meinung: Ich bin der Ansicht, dass der Beschluss des Kassationsgerichtes, dem zufolge entschieden wurde, dass Kriegsverbrechen gegen Mitglieder der Résistance wie unverjährbare Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten sind, einen Skandal darstellte, der bestimmte Interessengruppen begünstigte. Sie legte eine außerordentliche Kraft und Stärke an den Tag, als sie beim Einbringen der Gesetzesvorlage zur Entkriminalisierung und Straffreistellung bei Abtreibungen all den Antisemiten in der Abgeordnetenkammer die Stirn bieten musste. Und was sie darüber in ihren Memoiren zu berichten weiß, ist hochinteressant. Daher frage ich mich, wie es kommen kann, dass eine so intelligente, so mutige und so kompetente Frau wie sie so stur sein kann wie im Zusammenhang mit meinem Film.
     Ende 1980, als die Rechte noch an der Macht war, hatte ich um ein Treffen mit ihr gebeten, um zu versuchen, sie zu einer Meinungsänderung hinsichtlich dieses Ausstrahlungsverbotes zu bewegen. Im üblichen Chanel-Kostüm empfing sie mich mit ausgesuchter Höflichkeit. Unser Tête-à-Tête dauerte eine gute halbe Stunde. Es fand eine Woche nach dem Attentat auf die Synagoge in der Rue Copernic statt, als ihr Freund, der Premierminister Raymond Barre, von den »unschuldigen Franzosen« gesprochen hatte. Ich erinnere mich vor allem noch daran, dass ich sie fragte, ob es sich dabei - aus ihrer Sicht - um einen Freud'schen Versprecher gehandelt habe. Sie lächelte und gab mir zur Antwort: »Auf jeden Fall handelt es sich sehr wohl um einen Versprecher.« Seither habe ich sie nie wiedergesehen. Zwei- oder dreimal habe ich meine Freundin Marceline Loridan-Ivens bereits darum gebeten, ihr auszurichten, dass sie mich bitte endlich in Ruhe lassen solle. In »Ein Leben« finden sich drei oder vier Seiten über »Das Haus nebenan«, auf denen sie unablässig wiederholt, was sie schon zuvor immer gesagt hat: dass mein Film tiefste Verachtung gegenüber der Résistance zum Ausdruck bringe und dass er antifranzösisch sei. Sie wird wohl eingepennt sein, damals bei der Vorführung in den Studios Publicis! In meinem Film kommen doch immerhin Porträts von Résistance-Mitgliedern wie den Gebrüdern Grave, Emmanuel d'Astier de La Vigerie und dem »Colonel Gaspard« vor, allesamt tolle Leute.
     Marceline Loridan-Ivens, eine enge Freundin von Simone Veil und wie sie eine Auschwitz-Überlebende, ist die Witwe des bedeutenden Dokumentarfilmers Joris Ivens und hat bis zu dessen Tod mit ihm zusammengearbeitet. Da sie selbst ebenfalls Cineastin ist, wurde sie vor einigen Jahren für France Culture von Michel Ciment interviewt, der ihr die Frage stellte, warum Simone Veil unaufhörlich einen so erbitterten Kampf gegen meinen Film führe und sich immer noch abfällig darüber äußere. Im Großen und Ganzen antwortete Marceline, dass ihre Freundin sehr stolz und nachtragend sei und dass sie niemals eine einmal gefasste Meinung revidiere.
     Zu den Mustern von »Das Haus nebenan«, von denen sechzig Stunden irgendwie von der Bildfläche verschwunden sind, gehört auch eine Szene mit einem Juden, der von den Brüdern Grave gerettet wurde. Ich war eines Morgens im Marais* aufgekreuzt, um diesen polnischen Juden zu interviewen. Bedauerlicherweise fehlten ihm sämtliche Zähne, er hatte einen grauenvollen Akzent, seine Äußerungen waren nur sehr schwer verständlich, und er hörte nicht auf, sich über die Küche der Madame Grave zu beschweren: Es habe nie genug zu essen gegeben, und geschmeckt habe es auch nicht. Dieses Interview fiel beim Schnitt dann ziemlich rasch unter den Tisch. Tja, was soll's? Für Dokumentarfilme sollte man eben lieber keine genaue Rollenbesetzung vornehmen.
     Im Oktober 1981 schickte mich das französische Fernsehen nach Yorktown, wo mit einer feierlichen Zeremonie an die Schlacht der amerikanischen Armee und ihrer französischen Alliierten ebendort, an die Niederlage von Lord Cornwallis und das Ende des Unabhängigkeitskrieges erinnert wurde. Yorktown steht dabei als ein Symbol für einen entscheidenden Zeitpunkt im Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer. Mit meinem Freund Pierre Miquel, einem exzellenten radikal-sozialistischen Historiker, im weitesten Sinne dieser Bezeichnung, sollte ich darüber einen Dokumentarfilm machen. Glücklicherweise besaß er - ganz im Gegensatz zu anderen Historikern, denen ich begegnet bin - einen ausgezeichneten Sinn für Humor. Er fand es ganz selbstverständlich, dass ich ihn ins Studio der Buttes-Chaumont schickte, damit er sich dort mit einem Kostüm und einer Louis-XVI-Perücke ausstatten ließ, die er während der Dreharbeiten tragen sollte.
     Pierre Miquel, Claude Vajda, mein Assistent und Chef-Cutter, Adrien Ballester, ein hervorragender Kameramann, und ich fanden uns also in Yorktown wieder, während sich der wackere Ronald Reagan zu seiner großen Überraschung einem frisch gewählten französischen Präsidenten gegenübersah, der Kommunisten in seiner Regierung hatte.
     Zu Beginn der Zeremonie hielten der amerikanische und der französische Präsident ihre Reden hinter großen Panzerglasscheiben, während ihnen gegenüber die hohen Gestelle von Journalisten aus der ganzen Welt standen. Ich erinnere mich daran, dass sich zu unserer Rechten ein Team des japanischen Fernsehens befand, und das Team zu unserer Linken kam aus Italien. An jenem Tag war herrlichstes Wetter in Virginia. Etwas, was man in den Vereinigten Staaten einen »Indian Summer« nennt, und Ronald Reagan hielt eine sonnig-heitere Ansprache, sehr relaxed, wie es so seine Art war, und er kam mir ganz toll vor. Direkt nach ihm stellte sich François Mitterrand vor das Mikrophon und hielt eine Rede, die auf mich finster und freudlos wirkte. Erst als wir beim Schnitt waren, entdeckte ich, dass der alte Reagan rein gar nichts gesagt hatte, wohingegen François Mitterrand am Ende seiner Ansprache jenen prachtvollen Satz von sich gegeben hatte: »Amerikanische Freunde rings um mich herum, ich bin hierhergekommen, um es Ihnen zu sagen …« Damit begann ich dann meinen Film.
     Wie alle Staatschefs reiste auch François Mitterrand mit jenen Journalisten, die gewissermaßen zu seiner Leibgarde gehörten. Und wenn es auch seine Regierung war, die noch im Jahr seiner Wahl zum Präsidenten das Versprechen Jack Langs gehalten hatte, die Ausstrahlung von »Das Haus nebenan« im staatlichen Fernsehen endlich zu gestatten, mochte Mitterrand den Film dennoch nicht. Wenn man an seine sehr zwiespältige Haltung während der Vichy-Regierung denkt, wird zweifellos klar, warum er mir gegenüber so außerordentlich feindselig war. In Yorktown war ich daher, aus Sicht des Élysées-Palastes, nicht gerade ein besonders willkommener Teilnehmer. Infolgedessen waren unsere Badges, die den Zugang zu den verschiedenen Zeremonien erlaubten, von eher minderer Kategorie und nicht sonderlich viel wert. Claude Vajda und ich mussten uns ganz schön abrackern, um einige Türen gewaltsam mit der Kamera aufzustoßen.
     Dennoch: Am Tag von Mitterrands Pressekonferenz war es meinem Team und mir gelungen, uns in den Saal hineinzuschleichen. Irgendwann erhob ich mich, um ihm eine Frage zu stellen: »Marcel Ophüls von Antenne 2. Monsieur le Président, ich möchte gern, dass Sie uns ein wenig über die Abweichungen in der Entwicklung der beiden Demokratien erzählen, die Unterschiede zwischen der französischen und der amerikanischen …« Während ich sprach, starrte Mitterrand völlig reglos Löcher in die Luft, obwohl mir die Frage vernünftig erschien und auch knapp formuliert. Seine Antwort war folgende: »Sie möchten also, dass ich mich dazu äußere - wirklich ich? Ach so, ja. Ich glaubte nämlich, Sie wären dabei, mit einem Exposé zu beginnen. Ich dachte, dass Sie damit weitermachen wollten. Übrigens lauschte ich Ihnen mit Interesse. Ich war überrascht, dass Sie dann innehielten.« Beim Schnitt versuchte ich, mich für diesen feindseligen Sarkasmus zu rächen. Für die Bilder von Mitterrand, als er mit finsterer Miene die Pressekonferenz verließ, wählte ich als Begleitmusik Maurice Chevalier, wie er »Fleur de Paris« sang.

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