Vorgeblättert

Leseprobe zu Martin Caparrós: Die Ewigen. Teil 1

26.05.2014.
I. DER URSPRUNG

1

Als ich geboren wurde, regnete es, aber das interessierte niemanden. In Wahrheit interessierte sich an dem Tag niemand für irgendetwas, so hieß es zumindest: An dem Tag geziemte es sich, jedem, der hinsah, zu zeigen, dass einen einzig und allein der große Tod des Jahres, des Jahrzehnts, ja, des Jahrhunderts interessierte: An dem Morgen, an dem ich das Licht der Welt erblickte, starb Juan Perón, und alle wollten wem auch immer beweisen, dass alles andere bedeutungslos war. Es gibt Tage, an denen die Einwohner eines Landes sich an ihrem Schmerz ergötzen, denn der Schmerz eint sie, er macht sie zu einem großen Ganzen, er treibt sie zusammen und verleiht ihnen das Gefühl, sie könnten für einen Moment allen Groll und alle Streitereien hinter sich lassen und sich in einem gemeinsamen Leid wiederfinden, in dem sie sich weniger einsam fühlen - und pflichtgetreuer. Also nutzen die Einwohner jede sich bietende Gelegenheit - so viele sind es ja nicht, die Tragödie muss eine entsprechende Dimension haben, und große Tragödien ereignen sich per Definition nicht alle Tage - und leiden gemeinsam. Auch wenn ihre Beweggründe in der Regel unterschiedlicher Natur sind. Als ich geboren wurde und Perón starb, haben viele gelitten, weil sie ihn abgöttisch verehrten und weil sie ihn brauchten - oder zumindest glaubten sie das. Einige getrieben von der nackten Angst, was ohne ihn aus dem Land - aus ihnen - werden würde. Die große Masse, weil sie sich so sehr daran gewöhnt hatte, das Land mit Perón an der Spitze zu sehen, dass die Mühe, es sich ohne ihn vorstellen zu müssen, ihr grauenvoll und lästig erschien: Für die große Masse ist gewöhnlich jede Denkanstrengung ein Graus. Und viele andere, weil sie Perón so sehr verabscheuten, dass sie sich in ihrem Bemühen, ein wenig bekümmert über seinen Tod zu sein, für noch gutmütiger hielten als die treue Hundeseele Lassie.
     Jedenfalls war es ein außergewöhnlicher Tag, einer dieser seltenen Momente, in denen alle Einwohner eines Landes - außer uns, den neuen Erdenbürgern, und dem ein oder anderen Dissidenten - an ein und dasselbe denken. Ist es nicht eine schöne Vorstellung, dass ein ganzes Land an ein und dasselbe denkt? Ist das nicht einer der höchsten Gipfel unserer Zivilisation? Ist es nicht erhebend, traurig und zugleich erhebend, Teil eines solchen Phänomens gewesen zu sein und auch wieder nicht, ich meine, einer der ganz wenigen zu sein, die sich im Wasser befanden, aber nicht vom Tsunami erfasst wurden? Muss das nicht für jemanden, der an so etwas glaubt, eine Art Zeichen des Schicksals sein?
     Wie auch immer, dieser Tag, die Einmütigkeit, war ein toller Effekt, wie ihn nur ganz besondere Tode hervorrufen: Mir fällt keine andere Situation ein, in der die Bürger unseres Landes ein derartiges Gemeinschaftsgefühl entwickeln - außer vielleicht der Staatsbankrott, der ein geplagtes Land wie das meine alle zehn oder zwölf Jahre heimsucht, oder das ein oder andere Fußballspiel. Denken Sie nicht, dass ich mich beklage oder noch darunter leide: Unvorstellbar, dass eine Geburt einen derartigen Effekt haben könnte. Zudem ist ein öffentlicher Tod ein Ereignis, bei dem der Sterbende im Mittelpunkt steht, jemand, der etwas aus seinem Leben gemacht hat - der es, negativ ausgedrückt, nicht vergeudet hat -?; bei einer öffentlichen Geburt hingegen steht nicht der neue Erdenbürger im Mittelpunkt, sondern seine Eltern, vorausgesetzt sie sind prominent genug, um eine solche Breitenwirkung zu erzielen, und damit dem armen Sprössling das Leben gleich mit zu versauen. Das traf auf mich nicht zu, und doch hege ich eben wegen dieses Todes einen Groll gegen Juan Perón, verständlicherweise; im Verlauf der Geschichte wird man sehen, wie folgenschwer es für mein Leben war, dass ich ausgerechnet an diesem regnerischen Tag geboren wurde.
     Meine eher wortkarge und kühle Mutter sagt oft zu mir, es mache mir Spaß zu jammern: Selbst wenn Juan Perón nicht an dem Tag gestorben wäre, hätte meine Geburt niemanden interessiert, außer die paar Leute, die das Ereignis unmittelbar, persönlich anging. Ständig will man uns einreden, wir wären Teil eines großen Ganzen - einer Gemeinschaft, einer Stadt, eines Gremiums, eines Landes, der Menschheit -, und dann stellt sich heraus, dass ein so entscheidendes Ereignis wie eine Geburt gerade mal sieben oder acht Hansel interessiert. Dazu zählen natürlich Großmutter Juana und Großvater Bernardo, Großmutter Estercita, meine zwei Onkel mütterlicherseits und meine Tante väterlicherseits - für die sich die Frage gar nicht erst stellte, ob das Ereignis für sie eine Bedeutung hatte oder nicht - und der beste Freund meines Vaters, Celestino, genannt Bobby. Sie alle begaben sich an jenem Tag zur Mittagszeit zum Krankenhaus der Gewerkschaft der Karosseriemechaniker, um sich persönlich davon zu überzeugen, dass die Familie Remondo Zuwachs bekommen hatte. Meine Mutter spricht es nicht laut aus, aber ich bin mir sicher, dass Peróns Tod ihrer Meinung nach sein Gutes hatte: So fanden sich nur die allernötigsten Besucher ein, nur die wirklich Beteiligten; und so ließ sich, auch in dem Fall, die Spreu vom Weizen trennen. Meine Mutter hat sich ihr Leben lang abgemüht, die Spreu vom Weizen zu trennen: Kaum etwas beruhigt einfache, aber rastlose Gemüter mehr. Jedenfalls fanden sich an dem besagten Tag nur diejenigen ein, die keinesfalls fernbleiben konnten. All die anderen, die ansonsten vielleicht aus eher mäßigem Interesse oder aus Pflichtgefühl vorbeigeschaut hätten, hatten die beste Ausrede der Welt, einen Termin sausen zu lassen, bei dem niemand sie vermisste: Ihr wisst ja, durch die Sache mit dem General war in der Stadt einfach kein Durchkommen. Ich war noch nicht einmal einen Tag alt, und mein Leben war bereits von Unwägbarkeiten - schlimmer: von vorgeschützten Unwägbarkeiten - gezeichnet. Andererseits rückten diese als Unwägbarkeit bezeichneten widrigen Umstände die Anwesenheit von Celestino Bobby in den Mittelpunkt.
     "Ein ganz schönes Schlitzohr, unser Bobby."
     Flüsterte mein Vater meiner Mutter zu, als der Erwähnte sich unter dem Vorwand plötzlichen Harndrangs zurückzog, während ich, der Nachwuchs, friedlich an den Körper gelehnt schlummerte, der mich vor kurzem noch wohlig umschlossen hatte. Ich verstand nicht - es dauerte noch ewig, bis ich verstand -, was ich auf dieser Seite ihrer Haut und Fettpolster verloren hatte, doch zum Glück stellte ich mir die Frage damals noch nicht.
     "Allerdings, aus Lanús Este hierher, und das per Anhalter."
     Denn Bobby war in Lanús Este geblieben; anders als mein Vater, die arme Seele, das Opfer der ehrgeizigen Pläne anderer.


2

Mein Vater war ein anständiger Mann. Oder zumindest das, was man gemeinhin darunter versteht: jemand, der sich in vielen kleinen Alltagssituationen das Leben nicht durch Unanständigkeit schwer machen möchte. Einer, der, wenn er beispielsweise beim Verlassen der Bäckerei feststellt, dass er neben dem Kleingebäck, Sandwiches und Brötchen noch ein paar Croissants mitgenommen hat, ohne dafür zu zahlen, ins Geschäft zurückkehrt, ein verlegenes Lächeln aufsetzt - was ihm perfekt gelingt - und mit einem billigen Witz der Inhaberin kundtut, dass er zurückgekommen ist, weil er ein anständiger Mensch ist:
     "Ich möchte einen Diebstahl melden."
     Er sagt dann beispielsweise, der Täter sei er selbst, er habe Croissants mitgenommen, ohne zu bezahlen. Anders gesagt: Mein Vater war ein bequemer Mensch, der sich nie die Mühe machen wollte, herauszufinden, was es jenseits von Anstand, Schicklichkeit, gutem Benehmen und moralischen Grundsätzen noch gab. Anständigkeit ist meistens eine Frage von mangelnder Fantasie oder Bequemlichkeit, und soweit ich weiß war bei meinem Vater beides ziemlich ausgeprägt. Ich weiß natürlich nicht, was passiert wäre, wenn er mal ernsthaft mit der Versuchung konfrontiert worden wäre, für eine satte Belohnung etwas Unanständiges zu tun. Es ist nicht schwer, anständig zu bleiben, wenn es um ein paar Croissants geht; darüber hinaus wird es kontinuierlich schwieriger, bis jeder irgendwann seinen Schmelzpunkt erreicht und weich wird. Wenn schon kein Metall andauernder Hitze widerstehen kann, wieso sollte man es Männern und Frauen abverlangen? Das ist - sofern es das gibt - eine unbestreitbare Wahrheit, und ist es in dem Wissen nicht besser, sich die Glut von zig oder Hunderten Celsiusgraden zu ersparen und ohne die ganze Energieverschwendung gleich weich zu werden?
     Vielleicht mangelte es meinem Vater an Gelegenheit oder der nötigen Verschlagenheit. Gehen wir also weiter davon aus, dass er ein anständiger Mann war: noch ein Argument, um den hanebüchenen Unsinn der Journalisten und anderen Schwindler im Dunstkreis der Wissenschaft über die Gene und die Vererbbarkeit von Eigenschaften zu widerlegen. Es sei denn, es wäre alles reine Erfindung, und mein Vater - wenn ich mein Vater sage, ist das eine der größten Hommagen eines Menschen an seine Kultur: das Anerkenntnis, dass er mit einer Reihe von Annahmen lebt, die nicht auf eigener Erfahrung gründen, sondern darauf, dass er akzeptiert, was die anderen über ihn und seine Welt sagen -, mein Vater also wäre nicht mein Vater oder - wundern würde mich das nicht - er wäre das, was meine Familie über all die Jahre ausgeheckt hat, um mir ein völlig falsches Bild von ihm einzuimpfen. Was nicht weiter schwierig gewesen wäre, denn ich habe ihn nicht gekannt.

Das heißt, kennengelernt habe ich ihn natürlich schon, aber nur kurz und unter Umständen, bei denen sich nicht sagen lässt, ob er ein anständiger Mensch war oder nicht. Mein Vater, Oscar Remondo, Sohn von Orestes und Estercita Guarini, wurde im Juni 1940 in Lanús Este geboren, während die Deutschen, nichts ahnend von diesem für mich so wichtigen Ereignis, in Paris die Motoren ihrer Panzer abstellten. Dass unsere Geburtstage mit bedeutenden historischen Ereignissen zusammenfielen, war eine Gemeinsamkeit zwischen uns, aber hätte unser beider Leben seinen natürlichen Verlauf genommen und wäre es zu der üblichen Rivalität zwischen Sohn und Vater gekommen, hätte er ins Feld führen können, dass die Besetzung Frankreichs durch die Nazis zweifellos von epochalerer Bedeutung war als der Tod eines lateinamerikanischen Generals; und ich hätte kontern können, dass mein Ereignis dafür endgültiger war, denn die Nazis hatten keine fünf Jahre in Paris durchgehalten, mein General aber sei, dem Hörensagen zufolge, immer noch tot. Doch leider kam es nie zu diesem Schlagabtausch. Mein Vater Oscar war am regnerischen Tag meines Erscheinens jedenfalls schon vierunddreißig, für damalige Verhältnisse ziemlich alt, um sich noch fortzupflanzen.

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