Vorgeblättert

Leseprobe zu Michail Schischkin: Briefsteller. Teil 1

17.09.2012.
Saschenka, Liebes!
     Sei nicht böse, es war einfach keine Zeit zu schreiben.
     Jetzt endlich einmal will keiner etwas von mir, ich habe ein
Minütchen, um bei Dir zu sein.
     Warum werden Küsse in Briefen eigentlich immer hintangestellt?
     Ich küsse Dich sofort, und zwar überüberallhin!
     Na schön, ich reiße mich zusammen.
     Gestern waren Schießübungen, und Du kannst Dir nicht vorstellen, was unser Commodus für Augen machte, als die Zieler mein Ergebnis herüberwinkten: von fünf abgegebenen Schüssen auf die Kopfscheibe drei Treffer, und das auf vierhundert Schritt!
     Da liegt es nahe, sich Gedanken über den Zufall zu machen!
     Die ganze Welt besteht aus Zufällen. Warum sind wir in dieses Jahrhundert hineingeboren und nicht, na, sagen wir, ins vierunddreißigste? Warum in die beste aller möglichen Welten und nicht in die ärgste? Und vielleicht sitzt just in diesem Moment irgendwo einer und liest in einem Buch über das Glöcknerhandwerk? Und warum sind meine Kugeln nicht in die Zukunft oder die Vergangenheit geflogen, sondern in diesen armen, zerlöcherten Scheibenkopf ? Wenn nämlich
     Da siehst Du's, meine liebe Sascha, es war mir schon wieder nicht vergönnt, den Satz zu Ende zu schreiben. Doch wenigstens gibt es nun etwas Neues zu vermelden. Bin nämlich nicht mehr irgendwer, habe die Ehre! Werde mir fürderhin im Stab den Hosenboden abwetzen beim Pinseln von Tagesbefehlen und Totenscheinen. Der Alte hat mich mit dieser Idee gehörig überrascht. Bestellt mich zu sich und ernennt mich, alldieweil des Schreibens mächtig, kurzerhand zum Stabsschreiber! Darauf ich, strammstehend, den Ellbogen gegen das schmutzige Fenster gerichtet, darin unser geliebter Sonnenuntergang glühte, die Fingerspitzen an der Perückenbuckel:
     "Herr Kommandeur, Euer Gnaden, melde gehorsamst …"
     "Was gibts noch zu melden?"
     "Ich bin dafür nicht der Richtige. Meine Handschrift ist …
undurchschaubar."
     Darauf er: "Durchschaubarkeit, das ist, woraufs beim Schreiben nicht ankommt, mein Sohn. Hauptsache, aufrichtig. Kapiert?"
     Und er schenkt ein.
     Hält mir einen hin.
     "Auf die Ernennung!"
     Ich kippe ihn hinter.
     Er schiebt mir Hering auf Schwarzbrot mit Zwiebel über den Tisch.
     "Ich war auch mal in deinem Alter, mein Sohn, und auf einmal, da kam mir die Erleuchtung. Und dann hab ich mein restliches Leben damit verbracht rauszukriegen, worin die Erleuchtung bestand. Nimm dir vom Speck, der ist vortrefflich! Merk dir eins: Das Wort ist immer klüger als die Feder. Und wegen der Totenscheine mach dir keine Sorgen. Was dein Vorgänger war, der hat sich das alles furchtbar zu Herzen genommen. Wenn er ein Gläschen zu viel hatte, ist er mir an die Schulter gekippt und hat sich ausgeheult wie ein Rotzjunge: Kolja, verzeih mir, dass ich noch nicht tot bin, huhu, ich bin den ganzen Krieg noch kein einziges Mal an der Front gewesen ... Hat mich um Verzeihung gebeten, aber gemeint waren die, für die er die Scheine ausgefüllt hat ..."



Rate mal, wo ich gerade bin?
     In der Badewanne.
     Du die Geschichte, wo König David im Badehaus ist und sieht sich nackt dastehen und sagt: "Weh mir, ich bin nackt und ohne alles!"
     Nackt und ohne alles, so liege ich hier drin.
     Nabelschau.
     Welch grandiose Beschäftigung!
     Du hast einen Knopfnabel, entsinne ich mich.
     Ich einen Ringnabel. Wie Mama.
     Mit dem Ring bin ich eingeklinkt in eine endlose Menschenkette. Die einfach immer weitergeht, in zwei Richtungen. An der Kette hängt alles dran.
     Schon seltsam, dass dieses Ringlein an meinem Bauch der
Nabel der Welt sein soll. Die Kette, die hindurchgeht, ist die Achse des Universums, um die die ganze Welt sich dreht - derzeit mit einer Geschwindigkeit von Millionen Lichtjahren.
     Nackt und ohne alles, das ist wohl doch nur sein Problem. Bei mir hängt allein schon am Nabel der ganze Weltenbau dran, von A bis Z.
     Als Kind hatte ich mal die Windpocken, fällt mir ein, den ganzen Körper voll Pusteln. "Weißt du wie viel Sternlein stehen", war Papas ganzer Kommentar.
     So ging dann auch mein Spiel: Aus dem Ausschlag an meinem Bauch wurden Sternbilder - mit dem Nabel als Mond. Viele Jahre später entdeckte ich, dass die alten Ägypter so ihre Himmelsgöttin Nut dargestellt haben: Sie litt wie ich seinerzeit an Sternenwindpocken.
     Und eben überkam mich der heiße und innige Wunsch, unter diesem meinem Himmelsbogen möge sich ein Kindlein einnisten, Deines und meins. Ist das ein törichter Wunsch? Kommt er zu früh?
     Wenn ich daran denke, wie wir einmal zu zweien in dieser
Wanne saßen - einander gegenüber, weißt Du noch, wir gingen gerade so rein … Ich wusch Dir die Füße mit meinen Haaren wie mit einem Waschlappen. Dann nahmst Du meinen Fuß und bissest in die Zehen - genau wie Papa es früher manchmal tat: "Haps, ich fress dich auf !", hatte er dazu gerufen. Es kitzelte und war ein bisschen beängstigend: Was, wenn er die Zehen nun plötzlich abbiss?
     Dann kroch ich hinter Deinen Rücken, steckte die Beine unter Deinen Achseln durch, und Du fuhrst mit dem Schwamm darüber, auch über die Fersen und zwischen den Zehen … Das war so unglaublich angenehm.
     Und wie Du mich dann einseiftest - überüberall!
     Mein Geliebter, warum bist Du nicht hier, so kannst Du gar nicht sehen, wie mein goldener Busch im Wasser schillert und glänzt …
     Verzeih den Quatsch.
     Zwischen dem sechsten und dem achten Monat hat ein Kind überall Haare, stell Dir vor, die gehen später wieder aus. Im Krankenhaus zeigten sie uns so ein Kind, das als Frühgeburt auf die Welt kam. Wie das aussah!
     Und willst Du den Grund dafür wissen, warum die Menschen überhaupt ihr Fell verloren haben und heute nackt sind? In der Vorlesung gestern hat man es uns erklärt. Denn an sich ist so ein Fell ja doch eine praktische Sache. Schau Dir Katzen an! So weich und bequem, schön obendrein, man möchte es streicheln. Kannst Du Dir eine nackte Katze vorstellen? Das wäre eine Tragödie! Also die Sache ist die, dass es damals die Sintflut gegeben hat. Was man sich über Noah erzählt, sind alles Märchen - kein Mensch kam in Wirklichkeit davon. Nur irgendwelche Affen schafften es, sich dem Leben im Wasser anzupassen. Soundso viel Tausende Generationen lang sind wir Wasseraffen gewesen. Darum gehen bei uns die Nasenlöcher nach unten statt nach oben. Den Delfinen, Robben und so weiter ist damals auch das Fell ausgegangen.
     So ein Wasseräffchen bin ich. Hänge hier herum und träume, Du kämest zurück und stiegest zu mir in die Wanne.
     Ich sehe an mir herab und leide, dass ich so behaart bin überall, wo es sich nicht gehört. Du hast gemeint, Dir gefalle das, aber ich denke immer noch, das hast Du bloß gesagt, damit ich mich nicht gräme. Wie kann es einem gefallen, hier Haare zu haben und da und sogar da!
     So hocke ich hier mit der Pinzette und zupfe sie mir aus. Das tut weh!
     Stelle mir ein Höhlenmädchen vor, das zwei Muschelhälften zu Hilfe nimmt, um sich die Haare zu zupfen. Und mit Klingen aus Feuerstein oder dem Horn irgendwelcher Tiere schabt es sich die Haare aus den Achseln und von den Beinen.
     Janka hats gut, ihre Haare sind überall blond und kurz.
     Ach, was schwätze ich nur wieder, mein Geliebter! Als ob Du keine anderen Sorgen hättest. Hörst Dir geduldig diesen Schwachsinn an.
     Janka lässt Dich grüßen, sie kam gestern vorbei.
     Erzählte von ihrem neuen Verehrer, was sehr lustig war. Ein alter Mann, stell Dir vor, der sich in sie verliebt und ihr einen Heiratsantrag gemacht hat!
     "Kindchen!", hat er gesagt, "ich hab mich schon in Frauen verliebt, da waren deine Eltern noch nicht geboren!"
     Janka machte vor, wie er vor ihr auf den Knien liegt, damit sie ihn heiratet, ihre Beine umklammert, sich anschmiegt, und sie guckt von oben runter auf seinen kahlen Hinterkopf und ist einerseits zu Tränen gerührt, andererseits nahe daran, ihm eine zu schwalben, was denkt er sich denn!
     Sie hat natürlich Nein gesagt - aber während sie das erzählte, strahlte sie, als hätte man ihr eine Medaille verliehen!
     Er hat sein ganzes Leben als Graveur gearbeitet. Seine Geschichten darüber, was er im Laufe der Zeit so alles hat eingravieren müssen in Uhrdeckel und Zigarettenetuis, waren sehr amüsant.
     Und nun rate mal, was er ihr geschenkt hat! In einem roten Etui, wie für einen Ring. Sie klappt es auf, und da liegt - ein Reiskorn! In das hat er ihr etwas eingraviert.
     "Liebste Janotschka", hat er zu ihr gesagt, "es ist das Kostbarste, was ich habe - für dich!"
     Sie hat zu Hause die Lupe hervorgeholt, die Schachtel aufgeklappt und wollte sehen, was er auf das Reiskorn geschrieben hat. Dabei rutschte ihr das Korn aus den Fingern und sprang irgendwo hin. Sie hat es ewig gesucht und nicht gefunden. Nun weiß sie nicht, was darauf stand.
     Was nur immer alle an Janka finden? Sie hat Hasenzähne. Noch dazu Segelohren. Die sie unter den Haaren versteckt.
     Inzwischen schreibe ich Dir aus dem Zimmer. Liege bequem auf dem Sofa, in die Decke gerollt.
     Du warst der Erste, der behauptet hat, ich sei schön. Gut, von Papa mal abgesehen. Dem ich aber weniger geglaubt habe als Mama, die mich ihr Aschenputtelchen nannte.
     Sie trug immer ihren chinesischen Seidenkittel mit den hellblauen Drachen, der so schön wallte und schillerte. Wir lümmelten auf dem breiten alten Sofa, Füße oben, und tuschelten uns was über Gott und die Welt. Sie hat mir alles erzählt. Zum Beispiel über meine Geburt - wie ich erst nicht auf die Welt wollte, sie mussten einen Kaiserschnitt machen. Ich fuhr mit den Fingern über die harte Narbe an ihrem Bauch; dass ich da durchgekommen sein sollte, war ein seltsamer Gedanke. Geht mir jetzt noch so.
     Und über das erste Mal haben wir geredet.
     "Es sollte in schöner Atmosphäre passieren", sagte sie, "und unbedingt mit einem, der es verdient. Hauptsache, dass du es hinterher nicht bereust! Kann gut sein, dass du ihn später gar nicht heiratest, dass es mit ihm wieder auseinandergeht, kommt alles vor - aber an die erste Nacht solltest du ohne Reue zurückdenken."
     Was das Aschenputtelchen anging, glaubte ich ihr, wie gesagt, eher als Papa, und das, obwohl sie mir immer eine Menge Vorhaltungen machte: Ich hätte keinen Geschmack, wüsste mich nicht anzuziehen, und wie ich redete und wie ich lachte, das passte ihr alles nicht. Vor ihr fühlte ich mich immer schuldig. Dabei kam mir gar nicht in den Sinn, sie könnte zu streng oder ungerecht sein. Er sah nur meine Vorzüge - sie nur meine Fehler.

zu Teil 2