Vorgeblättert

Leseprobe zu Michail Schischkin: Venushaar. Teil 1

28.02.2011. ntwort
Dem Dareios und der Parysatis wurden zwei Söhne geboren, ein älterer, Artaxerxes, ein jüngerer, Kyros.
     Die Befragungen beginnen morgens um acht. Alle sind noch verschlafen, zerknittert, mürrisch - die Beamten ebenso wie die Dolmetscher, die Polizisten und die Asylanten. Die, die erst noch Asylanten werden wollen, genauer gesagt. Einstweilen sind sie bloß GS. Gesuchsteller. So heißen diese Menschen hier.
     Der Erste wird hereingeführt. Vorname. Zuname. Geburtsdatum. Aufgeworfene Lippen. Pickel überall. Älter als sechzehn, so viel ist klar.

Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl in der Schweiz bitten.
Antwort: Mit zehn kam ich ins Heim. Unser Direktor hat mich vergewaltigt. Ich bin abgehauen. Auf einem Parkplatz hab ich Trucker getroffen, die über die Grenze fahren. Einer hat mich rausgeschafft.
Frage: Warum haben Sie Ihren Direktor nicht bei der Polizei angezeigt?
Antwort: Die hätten mich totgeschlagen.
Frage: Wer sind "die"?
Antwort: Die stecken doch alle unter einer Decke. Der Direktor hat mich und noch einen Jungen und zwei Mädchen ins Auto gepackt und auf eine Datscha gefahren. Nicht seine, die von irgendwem, keine Ahnung. Dort trafen sie sich, die ganzen Chefs, auch der Polizeichef. Sie haben gesoffen und auch uns Alkohol eingeflößt. Dann wurden wir auf die Zimmer aufgeteilt. Das Haus war groß.
Frage: Sind damit alle Gründe genannt, weshalb Sie um Gewährung
von Asyl bitten?
Antwort: Ja.
Frage: Beschreiben Sie Ihren Reiseweg. Aus welchem Land sind Sie in die Schweiz eingereist, und wo genau?
Antwort: Das weiß ich nicht. Ich saß im Truck, hinter Kartons. Ich bekam zwei Plastikflaschen: eine mit Wasser, eine für den Urin. Nur nachts durft e ich raus. Hier ganz in der Nähe haben sie mich abgesetzt. Ich weiß ja nicht mal, wie die Stadt heißt. Ich bekam gesagt, wo ich hingehen soll, um mich zu stellen.
Frage: Haben Sie sich in der Vergangenheit politisch oder religiös betätigt?
Antwort: Nein.
Frage: Sind Sie vorbestraft? Wurde gegen Sie ermittelt?
Antwort: Nein.
Frage: Haben Sie schon einmal in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt?
Antwort: Nein.
Frage: Haben Sie in der Schweiz eine Rechtsvertretung?
Antwort: Nein.
Frage: Stimmen Sie einer Knochengewebeuntersuchung zur gutachterlichen Feststellung Ihres Alters zu?
Antwort: Was?

In der Pause kann man im Dolmetscheraufenthaltsraum einen Kaffee trinken. Die Fenster gehen hier auf die Baustelle, wo ein neues Empfangszentrum für Asylsuchende errichtet wird.
     In Abständen glüht der weiße Plastikbecher in meinen Händen auf, das ganze Zimmer erstrahlt im Widerschein der Schweißblitze. Das kommt, weil der Schweißer direkt vor dem Fenster arbeitet.
     Niemand sonst ist im Raum, ich kann zehn Minuten ungestört lesen.
     Also: Dem Dareios und der Parysatis wurden zwei Söhne geboren, ein älterer, Artaxerxes, ein jüngerer, Kyros. Als Dareios krank war und das Ende seines Lebens vorausahnte, wollte er beide Söhne in seiner Nähe haben. Der ältere war nun zufällig anwesend. Kyros aber ließ er aus dem Herrschaftsbereich rufen, zu dessen Satrapen er ihn gemacht hatte.
     Auch die Buchseiten flammen auf im Blitzlicht des Schweißens. Das Lesen ist unangenehm - nach jedem Blitz wird die Seite schwarz.
     Es dringt selbst durch die geschlossenen Lider.
     Peter schaut zur Tür herein. Herr Fischer. Der Schicksalslenker. Er zwinkert mir zu als wolle er sagen: Sollen wir wieder? Und auch er wird angeblitzt wie von einem Fotoapparat. Prägt sich ein mit einem zugekniff enen Auge.

Frage: Verstehen Sie den Dolmetscher?
Antwort: Ja.
Frage: Wie ist Ihr Name?
Antwort: ***.
Frage: Vorname?
Antwort: ***.
Frage: Wie alt sind Sie?
Antwort: Sechzehn.
Frage: Haben Sie einen Pass oder ein anderes Dokument, das Ihre Identität bezeugt?
Antwort: Nein.
Frage: Sie müssen doch eine Geburtsurkunde haben. Wo ist sie?
Antwort: Verbrannt. Alles ist verbrannt. Die haben unser Haus abgefackelt.
Frage: Wie heißt Ihr Vater?
Antwort: *** ***. Er ist schon lange tot, ich kann mich gar nicht an ihn erinnern.
Frage: Was war die Todesursache?
Antwort: Weiß ich nicht. Er war viel krank. Hat getrunken.
Frage: Geben Sie den Vor- und Nachnamen sowie Mädchennamen Ihrer Mutter an.
Antwort: ***. Mädchenname weiß ich nicht. Sie ist ermordet worden.
Frage: Wer hat Ihre Mutter ermordet, wann und unter welchen Umständen?
Antwort: Die Tschetschenen.
Frage: Wann?
Antwort: Diesen Sommer. Im August.
Frage: An welchem Tag?
Antwort: Das weiß ich nicht mehr genau. Kann sein, am neunzehnten oder am zwanzigsten. Weiß ich nicht mehr.
Frage: Wie wurde Ihre Mutter ermordet?
Antwort: Erschossen.
Frage: Geben Sie Ihren letzten Wohnsitz vor der Ausreise an.
Antwort: ***. Das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Shali.
Frage: Geben Sie die genaue Adresse an: Straße, Hausnummer.
Antwort: Adresse gibt es nicht, da war nur eine Straße und unser Haus. Das steht nicht mehr. Abgebrannt. Vom ganzen Dorf ist nichts übrig.
Frage: Haben Sie Verwandte in Russland? Geschwister?
Antwort: Einen Bruder hatte ich. Einen großen Bruder. Er wurde getötet.
Frage: Wer hat Ihren Bruder getötet, wann und unter welchen Umständen?
Antwort: Die Tschetschenen. Auch da. Zusammen mit der Mutter.
Frage: Sonst noch Verwandte in Russland?
Antwort: Sonst keine.
Frage: Haben Sie Verwandte in Drittländern?
Antwort: Nein.
Frage: In der Schweiz?
Antwort: Nein.
Frage: Welcher Nationalität gehören Sie an?
Antwort: Russe.
Frage: Konfession?
Antwort: Wie?
Frage: Religion?
Antwort: Ja.
Frage: Orthodox?
Antwort: Ja, ja. Ich hatte nicht richtig verstanden.
Frage: Führen Sie kurz die Gründe aus, weshalb Sie um Gewährung von Asyl in der Schweiz bitten.
Antwort: Zu uns kamen immerzu Tschetschenen und wollten, dass mein Bruder mit ihnen in die Berge geht und gegen die Russen kämpft . Sonst würden sie ihn töten. Meine Mutter hat ihn versteckt gehalten. Als ich an dem Tag nach Hause kam, hörte ich aus dem offenen Fenster Schreie. Ich versteckte mich beim Schuppen im Gebüsch und sah, wie im Zimmer drinnen ein Tschetschene mit dem Gewehrkolben auf meinen Bruder einschlug. Es waren mehrere, alle mit Kalaschnikows. Den Bruder konnte ich nicht sehen, er lag schon am Boden. Und dann hat sich meine Mutter mit dem Messer auf sie gestürzt. Dem kleinen Küchenmesser zum Kartoff elschälen. Einer von denen hat sie gegen die Wand gestoßen, das Gewehr gegen ihren Kopf gehalten und abgedrückt. Dann sind sie rausgekommen, haben das Haus mit Benzin aus einem Kanister begossen und angezündet. Dann standen sie da und haben zugeguckt, wie es brannte. Mein Bruder hat noch gelebt, ich habe ihn schreien hören. Ich hatte Angst, dass sie mich sehen und auch umbringen.
Frage: Reden Sie weiter, erzählen Sie, was dann geschah.
Antwort: Dann sind sie weggegangen. Und ich hockte da, bis es finster wurde. Ich wusste nicht, was tun und wohin. Ich bin dann zu einer russischen Wachpostenstelle an der Straße nach Shali. Ich dachte, die Soldaten könnten mir irgendwie helfen. Aber die haben selber bloß Angst, sie jagten mich weg. Ich wollte ihnen erklären, was passiert war, aber sie schossen in die Luft, damit ich mich verzog. Ich hab die Nacht draußen in irgendeinem zerstörten Haus verbracht. Mich anschließend nach Russland durchgeschlagen. Und von da nach hier. Dort möchte ich nicht leben.
Frage: Sind damit alle Gründe genannt, weshalb Sie um Gewährung von Asyl bitten?
Antwort: Ja.
Frage
: Beschreiben Sie Ihren Reiseweg. Durch welche Länder sind Sie gekommen und mit welchen Verkehrsmitteln?
Antwort: Je nachdem. Mit Zügen. S-Bahn und Eisenbahn. Über Weißrussland, Polen, Deutschland.
Frage: Hatten Sie Geld, um Fahrkarten zu erwerben?
Antwort: Woher denn? Ich bin schwarzgefahren. Hab mich von den Kontrolleuren ferngehalten. In Weißrussland bin ich einmal geschnappt und während der Fahrt aus dem Zug geschmissen worden. Ich hatte Glück, dass der Zug gerade langsam fuhr und dass da eine Böschung war. Ich bin gut gefallen, ohne mir was zu brechen. Hab mir nur an Glasscherben das Bein aufgeschlitzt. Hier, sehen Sie. Dann hab ich auf dem Bahnhof übernachtet, eine Frau gab mir Pflaster.
Frage: Welche Dokumente haben Sie beim Grenzübertritt vorgewiesen?
Antwort: Keine. Ich bin immer nachts zu Fuß rüber.
Frage: Wo und auf welche Weise haben Sie die Schweizer Grenze überschritten?
Antwort: Hier in ? wie heißt das noch mal ?
Frage: Kreuzlingen.
Antwort: Ja. Ich bin ganz normal an der Polizei vorbei. Die kontrollieren nur Autos.
Frage: Womit haben Sie Ihren Lebensunterhalt bestritten?
Antwort: Mit nichts.
Frage: Was soll das heißen? Haben Sie gestohlen?
Antwort: Je nachdem. Manchmal ja. Was hätte ich tun sollen? Man hat doch Hunger.
Frage: Haben Sie sich in der Vergangenheit politisch oder religiös betätigt?
Antwort: Nein.
Frage: Sind Sie vorbestraft ? Wurde gegen Sie ermittelt?
Antwort: Nein.
Frage: Haben Sie schon einmal in einem anderen Land einen Asylantrag gestellt?
Antwort: Nein.
Frage: Haben Sie in der Schweiz eine Rechtsvertretung?
Antwort: Nein.

Während der Drucker das Protokoll ausspuckt, bleiben alle stumm. Der Junge polkt an seinen abgekauten schwarzen Fingernägeln. Seine Jacke und die schmutzigen Jeans riechen nach Zigarettenrauch und Urin.
     Zurückgelehnt sitzt Peter auf seinem Stuhl und schaukelt, dabei sieht er aus dem Fenster, wo Vögel ein Flugzeug überholen.
     Ich male Kreuzchen und Kästchen in meinen Block, ziehe Diagonalen hindurch und schwärze die entstandenen Dreiecke so, dass ein regelmäßiges Relief entsteht.
     An den Wänden ringsum hängen Fotos. Der Schicksalslenker ist ein fanatischer Angler. Hier hält er auf Alaska einen dicken Fisch bei den Kiemen, dort irgendein karibisches Tier am kräftigen Haken, der aus dem Riesenrachen ragt.
     Hinter meinem Kopf hängt eine Weltkarte. Übersät mit farbigen Stecknadelköpfen. Schwarze Nadeln stecken in Afrika, gelbe in Asien. Weiße Nadelköpfe ragen aus den Balkanländern, Weißrussland, der Ukraine, Moldawien, Russland und dem Kaukasus. Nach dieser Befragung wird ein weiterer hinzukommen.
     Nadelstichtherapie.
     Der Drucker verstummt und blinkt rot - das Papier ist alle.

Hochwerter Nabuccosaurus!
     Ihr erhieltet von mir schon ein flüchtiges Kärtchen, das mehr und Näheres in Aussicht stellte. Nun denn!
     Nach vollbrachtem Tagwerk hinter schwedischen Gardinen kehrte ich heim. Aß Makkaroni. Las nochmals Eure Botschaft, die mich so höchlich erfreut hat. Mein Blick ging aus dem Fenster. Wind trieb die Dämmerung heran. Es regnet in Strömen. Unten auf dem Rasen liegt ein roter Schirm, wie ein klaff ender Schnitt in der Grashaut.

zu Teil 2