Vorgeblättert

Leseprobe zu Nir Baram: Der Wiederträumer. Teil 3

24.08.2009.
(S. 339-342)

Der Wiederträumer

Juni



Eines Tages kam der Wiederträumer nach Hause und die Träumerin war weg. Bevor sie gegangen war, hatte sie die Wohnung neu gestaltet. Ihr despotisches Vermächtnis bestand in allen Bereichen der Wohnung aus geraden Linien, sogar aus einer Art Quadratur des Kreises. Vierecke überall: Zeitungen und Zeitschriften auf einem Haufen, der wie ein kleiner Hügel aussah, zum Viereck zusammengelegte Kleidungsstücke, die Schuhe Paar für Paar parallel ausgerichtet, zehn viereckige Bücherstapel zwischen der westlichen Wand und dem Wohnzimmer, die beiden Sofas über Eck gestellt: ein halbes Quadrat neben dem viereckigen Esstisch, im Badezimmer alles auf viereckigen Tabletts - Zahnpastatuben, zwei Bürsten, ein runder Kamm, Haarwachs, Haargel, Rasiermesser, Seife, Schlaftabletten, Augentropfen, Nagelschere, Voltaren, blaue Handcreme. Die Milcherzeugnisse im Eisschrank waren im oberen Fach zum Quadrat geordnet - in der Mitte die Butter, in einem anderen Fach bildeten sechs Tomaten und vier Gurken ein Trapez - die Gurken als Begrenzung, die Tomaten in der Mitte, im dritten Fach waren acht verschiedene Nahrungsmittel zum Viereck zurechtgelegt.
     In den ersten Tagen zog sich der Wiederträumer zurück. Er verbarg sich in der Wohnung und blieb stumm. Abends kehrte er zur gemeinsamen Geschichte zurück, die in Vierecken angeordnet war. Er wagte nicht, ein einziges mit den Fingern zu berühren. Auch im Kühlschrank respektierte er die neue Ordnung. Es war ihre gemeinsame Geschichte, die ihn aus der Geometrie anblickte, während er sich in der eigenen Wohnung wie ein Fremder bewegte. Er wohnte, ohne die Gegenstände zu berühren. Das Zuhause der Liebenden war zum Museum geworden, dessen Ordnung er nicht stören wollte. Nachts träumte er ihre Träume, vermischt mit den eigenen. Adam, der kleine Junge aus ihrem Traum, der im Kartendschungel verloren gegangen war, tauchte in seinen Träumen wieder auf. Die Träumerin hatte sich geweigert, über Adam zu sprechen. Er sei nicht wichtig gewesen und habe sich nur zufällig in ihre Träume gedrängt. Aber einmal hatte sie für ihn sogar gereimt und zwar nach der Melodie eines Liedes, das er aus der Jugendbewegung kannte. "Ein finstres Geheimnis hat jedermann / er faltet?s zusammen und versteckt es fortan." Im Traum fuhr er mit Adam nach Beerscheva. Adam sagte, er müsse das Bürgermeisteramt um einen Stempel für ein Stipendium "erleichtern". Im Antrag schrieb er, er wohne in der Sozialbausiedlung.
     Welches Stipendium?, fragte sich der Wiederträumer. Während des ganzen Traums bemühte er sich, den Jungen zu beschwichtigen. Der Junge hatte eine abgrundtiefe Abneigung gegenüber der Träumerin. Er glaubte, der Junge hasse ihn wegen seiner Nähe zur Träumerin auch. "Ein Stipendium für die Universität, du Idiot", knurrte der Junge. Die Sonne schien ihm mitten ins Gesicht. Der Wiederträumer in seiner Einfalt versuchte ihn väterlich zu streicheln. Der Junge wich der Berührung aus. Auf den zweiten Blick sah er, was in ihren Träumen verschwommen geblieben war. Der Junge war sehr schön. In seinen schwarzen Augen lag eine Nüchternheit jenseits aller Kindheitsillusionen, und doch waren diese Augen kindlich. Diese merkwürdigen Augen, der süße mürrische Gesichtsausdruck, das glatte, vom Südwind zerzauste Haar verliehen dem Kind eine schmerzlich anrührende Schönheit. Sie klauten den Stempel aus dem Büro des Bürgermeisters. Zurück auf der Straße sahen sie ein Militärlager neben der Stadtverwaltung. Der Abend senkte sich herab. In einiger Entfernung hinter dem Zaun, zwischen den Pavillons und einer Reihe dicht stehender Bäume sahen sie Soldaten. Adam klagte, er sei hungrig. Der Wiederträumer erschrak und wachte verschwitzt auf.
     "Wir sind eins geworden", murmelte er. Bevor sie verschwand, hatte sie ihn mit ihren Dateien wie mit Viren infiziert. Der Bund war nicht mehr rückgängig zu machen. Er sah ein schreckliches Zukunftsszenarium vor sich: Nie mehr würde er seine Seele von ihrem Bewusstsein befreien können.
     Im nächsten Traum lag er unter der Guillotine und wurde geköpft. Am Morgen untersuchte er seinen Kopf eingehend vor dem Spiegel, von vorn, von rechts, von links und mit Hilfe eines weiteren Spiegels auch von hinten. Sein Kopf kam ihm fremd vor, Dinge, die nicht seine waren, sondern die er mit Erlaubnis geborgt und dann geraubt hatte, gehörten jetzt dazu. Während der letzten gemeinsamen Nächte hatte er ihre Träume gestohlen und ihr nichts davon erzählt. Das hatte er vor sich selbst damit gerechtfertigt, dass es letzten Endes nichts Originales gab. Aber jetzt spürte er, wie ihr Bewusstsein ihm Gift einträufelte. Ihre Stimme grollte in ihm, unabhängig von der seiner eigenen Seele.
     Jeden Tag, wenn er von der Arbeit kam, taumelte er geschlagen in ihre museale Behausung, die ihn zu verschlingen drohte. Er kapitulierte vor dem scheinbar stillen Raum, der ihm Erinnerungen aus gemeinsamen Tagen entgegenschleuderte. Seine einzige wirkliche Welt war darin begraben, die erste Welt, an deren Erschaffung er beteiligt, in die er nicht einfach nur hineingeraten war. Es war der Ort, wo er gelernt hatte, dass er geliebt wurde. Die Gewissheit, in Zukunft nicht mehr, nie wieder geliebt zu werden, quälte ihn. Die Erinnerung an Stunden voller Zärtlichkeit, in denen er ihre Liebe erfahren hatte, wollte er nun aus dem Gedächtnis streichen. Sie erschienen ihm jetzt als Abweichung von seinem Schicksalsweg. Denn von Kindheit an hatte er gewusst, dass Einsamkeit sein Schicksal war. Sein Leben lang hatte er sich dagegen gewappnet, die Eltern hatten ihn darauf vorbereitet, niemals hatte er erwartet, geliebt zu werden. Aber jetzt wollte er sich mit der Einsamkeit nicht mehr abfinden. Immer würde eine Stimme in ihm sich wehren, Erinnerungen abrufen, seine Sehnsucht wecken.
     Angesichts all seiner Niederlagen hatte er eines Morgens plötzlich ein klares Bild vor sich, eine Vision. Er hatte sich von Scham und Schuld befreit. Es lag ihm nichts daran, einer wie alle Anderen zu sein, einfach nur zur Meute zu gehören. Er bemerkte nicht einmal, wie seine Pupillen sich weiteten, bemerkte das Feuer der Erleuchtung in seinen Augen nicht. Nur der Ausdruck boshaften Stolzes auf sein Sendungsbewusstsein blieb ihm. Seine Hände griffen wie von selbst nach einem weißen Blatt Papier und schrieben.
     Jetzt fühlte er sich größer. Weshalb hatte er sich die ganze Zeit
seiner Begabung geschämt? Weshalb hatte er sie tief in sich verborgen und nur für die Träumerin von ihr Gebrauch gemacht?
Hatte er in all den Jahren, die er mit der Begabung lebte, nichts
dazugelernt? War die Begabung nicht er selbst?
     Er stürzte in kurzem Hemd und Jeans auf die Straße, ohne Mantel und Handschuhe, ohne Wollmütze. Er beachtete den Sturm nicht. Die Leute, in dicke Kleiderschichten eingepackt, erschrockene Wollbälle, waren verblüfft vom Wagemut dieses Menschen, der ohne Rüstung in die Schlacht zog. Er ging ins Cafe. "Schalom", sagte er im Befehlston. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, als er einen Zettel an die Pinnwand heftete, sich umdrehte und wieder hinausging. Aufrechten Gangs stieg er die Allee hinauf. Im Cafe hatte er eine Annonce hinterlassen:

      Wiederträumer gibt dir deine Träume wieder.
      Für Terminvereinbarungen Telefon: 5 37 76 91
      Zahlung nur in BAR.

Neu geboren zu werden ist göttlich.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Schöffling & Co.


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