Vorgeblättert

Leseprobe zu R.B. Bardi: Der Kaiser / die Weisen und der Tod

Einleitung

Protagonisten in R.B. Bardis Geschichts-Erzählung sind der ebenso widersprüchliche wie legendäre deutsche und sizilische Staufer-König und römische Kaiser Friedrich II. (1194 – 1250), stupor mundi, das Erstaunen der Welt, wie er von Zeitgenossen genannt wurde, sowie jüdische, arabische, christliche Intellektuelle und katholische Würdenträger – verwickelt in ein nie erschöpftes Gespräch über Gott und die Welt, also über die Liebe, das Sterben, über Träume, über Antisemitismus, Religion, Alchemie und Astrologie (die »Wissenschaft der Zeit«, wie Ernst Kantorowicz sie nannte), über Macht und Ohnmacht ... Schauplatz solcher geschützten intellektuellen Freiheit war der »Diwan« in den wechselnden kaiserlichen Residenzen.


1
Die Geschichte des Zwillings  

Die Wohnung des arabischen Arztes lag zuhöchst im Turm; groß und heller als die meisten Zimmer des Schlosses, sah der Raum aus Zwillingsbogenfenstern gegen Süden. Wenn sich die Bewohner der anderen Kammern gegen die apulische Sonne zu schützen suchten, hier oben lebte einer, dem überall zu wenig Sonne war, der Sonne trank wie durstige Pflanzen trinken, mit allen Wurzeln und mit allen Zweigen. Ein breiter Wehrgang lief von Turm zu Turm, in gleicher Höhe mit des Arztes Stube den Zinnen entlang. Eine Pforte führte bequem hinaus. Draußen trug der Blick, von keiner Seite mehr eingeschränkt, beinahe bis ans Meer. Darum liebte es der Kaiser Friedrich sehr, von größerer Gesellschaft ungestört dort mit dem Arzt sich zu unterhalten.
„Der Abu Sina“ rühmte ihn der Kaiser vor seinen Gästen, „ist kein Tränkemischer, kein Wundenglüher und kein Fieberräucherer, der engen Sinnes toten Stoff nur sieht. Mich locket Krankheit hat er zu mir gesagt, weil sie es möglich macht, ins Innere des Lebens hineinzuschauen. Solange der Mensch gesund ist, gleicht er einer verschlossenen Festung, deren Brücken hinaufgezogen sind. Wir wissen nicht, was hinter ihren Mauern, ihren Toren geschehen mag, ob innen Frieden ist, ob nicht ein Brand dumpf im Gebälke schwelt, ob nicht der Vorrat schwindet, die Zisterne des Wassers mangelt. Wir wissen wenig oder wissen nichts. Doch Krankheit gibt uns Nachricht. Krankheit ist ein Spion, der sich eingeschlichen hat und nun verräterisch die Pforten öffnet. Nicht nur dem Feind – dem Tode – sondern auch unserer Kenntnis. Unordnung läßt die Ordnung erst verstehen; des Lebens Ordnung aber ist das Schönste von allen Wundern. – Weil ich die gleiche Neigung bei ihm spüre, die auch mich selber treibt, darum schätze ich ihn. Wer klug ist, ist nicht nur in einem klug. Der Abu Sina sieht und kennt die Zeichen der Krankheit nicht nur am Leibe und versteht vom Menschen nicht nur das Siechtum.“ […]

2

Nach Stunden, da man der Siesta pflegte, saß man erfrischt vom Bade an dem Strand.
„Hat man Euch nicht von dem Versuch erzählt, den Rabbi Benaron jüngst unternommen? Herr Abu Sina war ja auch dabei. Man könnte füglich einen Strick draus drehen; doch da sein Mißerfolg ihn schon bestraft, werde ich Euren Juden nicht verfolgen“ spottete der Kardinal. „Es machte Spaß, wie er da unterlag, obwohl Herr Sina noch geholfen hatte.“
„Wollt Ihr mir nicht erklären, was es gab? Herr Sina und der Rabbi sehn nicht aus, als ob sie eine Niederlage drückte.“
„Vielleicht laßt Ihr die Herren selbst berichten, Herr Benaron ist ja der Wahrheit Freund, er wird sie nicht entstellen.“
Benaron, der im Hintergrund gestanden hatte, trat sich verbeugend vor. „Vor etwa einer Woche rief man mich, nicht als den Ketzer, sondern als den Arzt, ich bin Arzt, Eminenz, zu einem Weibe, das sich in fürchterlichen Krämpfen wandt.“
„Zu einer Christenfrau?“ fragte der Kaiser. Der Legat nickte, die deutschen Bischöfe waren empört.
Der Rabbi sagte ruhig: „Zu einer Kranken. Des Weibes Sippe hat sich wohl gedacht, Kranken zu helfen sei nicht Ketzerei, und da ich ganz in ihrer Nähe wohne, so schickten sie zu mir. Die Kranke lag elend gefesselt und noch außerdem von ihren eigenen Brüdern festgehalten.“
„Raste sie denn?“
„Sie schlug wie eine Rasende um sich, doch das ist bei der Fallsucht, die sie plagte, zumeist zu sehen.“ Der Kaiser nickte eifrig. „Nur war der Krampf ihr nicht bloß in die Glieder gefahren, auch ihre Rede tobte wie ihr Leib und warf Unflätigkeit wie Geifer aus.
„Sie war besessen!“ rief ganz erregt der Bischof von Augsburg.
„Solange wir nicht wissen, was das heißt, können wir uns auch dieses Worts bedienen, wenn es auch leider nichts verstehen hilft“ mischte sich Abu Sina ein. Der Kaiser lachte.
Der Legat wollte die Sache nicht verlaufen lassen. „Erlaubt die kaiserliche Majestät, ich möchte die Geschichte kurz beenden, sonst wird ein ärztliches Colleg daraus. Sicher ist immerhin: ein böser Geist hatte sich dieses armen Weibs bemächtigt.
Nun, da Herr Benaron im Haus erschien, konnte man doch mit gutem Fug erwarten, daß er den Dämon aus dem Weibe trieb; dem dümmern Romuald pflegts zu gelingen. Jedoch wie ging es dem gelehrten Mann? Er setzte sich vor die Besessene hin, legte dem Satan weiche Kissen vor, damit er sich bequemer wälzen könnte – sich ihm entgegenzusetzen wagte er nicht – und hörte ihm mit bangem Schweigen zu. Die herrliche Gelegenheit zu zeigen, daß auch die Juden Satans Meister sind und nicht bloß seine Knechte, nutzte er nicht. Man sagte mir, es war ein armes Schauspiel. Nicht einmal das vermochte er zu erfragen, zu welchem Teufelsstamm und welchem Reich der freche Lästerdämon denn gehörte.“
„Ich hoffte, daß er selbst es sagen würde und hörte darum so aufmerksam zu“ erwiderte bescheiden Benaron. „Wenn ich ihn fragte, konnte er mich belügen, wenn er sich selbst verriet, sprach er wohl wahr. Auch suchte ich die Mundart zu erkennen und so zu merken, was für Geist es war.“
Der Kaiser schaute prüfend auf den Juden; der Rabbi sah nicht wie ein Spötter drein.
„Und hat er seine Landsmannschaft bekannt?“
„Nicht ganz genau, jedoch zu einem Teil.“
Der Erzbischof von Mainz war überrascht. „Davon hat man uns doch kein Wort berichtet. Was hat denn der Geschwänzte ausgesagt? Aus welchem Teil der Hölle kam er her?“
„Nach seinem groben Dialekt zu schließen, kam er nicht aus der oberen Region. Er schien in tieferen Gegenden zu wohnen.“
Komnenos verbiß sich das Lachen.
Argwöhnisch fragte der Augsburger Bischof: „Soll das ein Scherz sein?“
„Es soll wohl heißen, daß auch der Teufel nur so reden kann, wie der von ihm Besessene versteht“ sagte der Kaiser. „Das ist zu begreifen.“
„Das ist nicht zu begreifen, gnädiger Herr“ verwahrte sich der Bischof. „Wie kann man, zum Exempel, es begreifen, daß eine Frau, die immer sittsam war, die niedrigsten Verworfenheiten redet oder ein Mönch von heiligem Benehmen in der Besessenheit den Heiland schilt und seine unbefleckte Mutter lästert? Weiß Euer Hausjud da vielleicht Bescheid?“
„Man könnte es verstehen, wenn man dächte, die Teufelsrede sei ein Dialog, den das Gewissen führt mit dem Verlangen; unsere Wünsche sind nicht immer keusch …“ meinte bedächtig wägend Abu Sina.
Der Augsburger saß da mit gefurchter Stirne. Sina fuhr fort: „Die alten Ärzte haben schon gewußt, besessen sein heißt: überstark verlangen.“
Benaron bestätigte: „Daß unsere Seele sich von ihren Ängsten im Zwiegespräch zu befreien trachtet, erfahren wir zu jeder Lebenszeit. Wir rufen, wenn uns Schreckliches bedroht: Hilf uns, o HERR! Verschone uns, o Gott …“
„Laß diesen Kelch an mir vorübergehn, schrie Christi Angst“ sprach zögernd der Legat und schien anderen Gedanken nachzuhängen. Von Zeit zu Zeit sah er auf Benaron, als wöge er den Rabbi; endlich fand er sich wieder zum Gespräch zurück. „Es ist nicht alles klar in dieser Sache; doch immerhin, wie man sie heute sieht, kann man dem Rabbi keinen Vorwurf machen.“ Er setzte mit Verbindlichkeit hinzu: „Nicht einmal den, daß er sein Spiel verloren.“ […]


3

Ich bin mehr Ketzer als der Benaron, ich kann nicht glauben, daß wir auferstehen. Und auch ein andres, das uns verheißen wird, ist mir zuwider. Das Tausendjährige Reich! Was soll das sagen? Was soll sich denn verändern, wenn es da? Wie soll es sich verändern? Wenn ich die Pfaffen frage, wie sies meinen und was der große Tag einst bringen soll – ich schäme mich, sie auch nur anzuhören. Wie Elendsvolk in sonnenlosen Gassen von Schlössern und von Fastnachtstänzen fabelt, so reden sie vom Tausendjährigen Reich, als seis ein Gratisfest mit Ochsenbraten und Würfelbuden. [Friedrich II., der Staufer]


4
Das Ende

Abschied von Asraël 

Der Rabbi Jakob Charif Benaron verließ sein Turmgemach beinah nicht mehr. Er hatte sich die Ordnung eingerichtet, daß man ihm nur, an jedem Übertag, den Krug mit Wasser vor die Tür stellte, den Wecken Brot und eine Schale Milch und Freitags Wein für seinen Sabbatsegen. Zumeist war auch dies Wenige kaum berührt; die Vögel, denen er die Krumen streute, verzehrten mehr vom Brote als der Greis.
Das harte Lager lockte nicht den Schlaf und kürzte ihn, wenn es ihn schon gewährte. – Der Rabbi hatte sinnend lang gewacht, die Blätter Michaels vor sich auf  dem Pult. Sein Blick verweilte auf der letzten Zeile: „HERR, wir sind traurig, weil wir sterben müssen – wir haben Angst …“ Es ging auf Mitternacht als er das Lämpchen löschte; denn streckte er sich seufzend auf das Bett.
Im Fenster stand der Vollmond, der Freund der Träumenden. Absonderlich war diese graue Stille. So gänzlich lautlos war die Gasse nie. Und selbst die Christenstadt lag wie im Schlaf – vielleicht dämpfte der Schnee nur alle Stimmen. Der Rabbi lauschte nach dem Marktgeräusch … kein Ton. Er wartete, daß sich die Glocken rührten … die Kirchtürme waren auch verstummt. Dabei war es doch Tag, es war ja hell, wenn auch das Licht vom Nebel silbrig glänzte … Der Rabbi spürte plötzlich: Diese Stille habe er schon wer weiß wie lang empfunden, sie wurde nur auf einmal ihm bewußt. Kälte von Bangigkeit griff ihm ans Herz. Wo waren alle Leute nur geblieben? Was war denn mit der Stadt – war wieder Krieg? Waren die Bürger alle ausgetrieben, geflohn, getötet und nur er vergessen? Der Rabbi ruft. Zum erstenmal seit langer, langer Zeit hörte er wieder seine eigene Stimme. Sie klingt ihm fremd und wie von ferne und es kommt keine Antwort auf sein Rufen. Er wartet ängstlich eine kurze Weile, dann macht er sich mit Mühe auf den Weg. – Die Stiege ächzt nicht unter seinem Schritt, als sei das alte Holz auch eingeschlafen. Von dem Geländer fällt der Staub herunter, als er die Hände zittrig darum klammert. Aus keiner Stube dringt auch nur ein Laut. Die Haustür knarrt nicht in der losen Angel.
Der Rabbi steht jetzt in der leeren Gasse.
Die Füße, schon des Gehens ungewöhnt, machen nur langsam ungewisse Schritte; sie schleppen an dem Schweigen wie an Blei … Wenn wirklich alle auch geflüchtet wären – der Bethausdiener ist gewiß noch da. Wo sollte denn der alte Mensch auch hin … Er wird die Thorarollen nicht verlassen. Die Rollen – sie sind sicher mitgeführt; sie sind das erste, was man immer rettet. Benaron wendet sich zur Synagoge. Zum letzten Mal ins schicksalsvolle Haus. Die starken Pfortenflügel stehen offen; man sieht durch sie in unerhelltes Dunkel. Die Silberampel für das ewige Licht ist ausgebrannt … das durfte nicht geschehen! Die Ketten, die sie halten, hängen nieder, der Diener hat sie wohl eben füllen wollen. Der Diener lehnt, den Ölkrug neben sich, schlafend in einer Bank zunächst der Tür. Der Rabbi will den Alten schonend wecken und rührt ihn an – der Kopf fällt vornüber. Tobiah schläft nicht. Tobiah ist tot.
Auf einmal sind des Rabbi Füße leicht. Er weiß: ein Ungeheures will geschehen. Er muß sich eilen, jene einzuholen, auf die das unbekannte Schrecknis wartet. Sein Teil an ihrem Schicksal, eh er stirbt … Das Tor der Judenstadt ist nicht bewacht, es steht kein Lanzknecht bei dem Wächterhaus. Der Domplatz ist verödet wie bei Nacht. Die Gäßchen, die zum Flusse führen – sonst war hier stets das dichteste Gedränge – jetzt ist nicht eine einzige Seele da. Der Zöllner sitzt nicht unterm Brückentor. Was ist das mit dem Fluß? Man hört kein Rauschen … Am andern Ufer steigt die Straße steil; Benarons Lunge scheint es nicht zu spüren. Vielleicht floh alles nach der nächsten Burg, die bessern Schutz vor Feinden bieten konnte. Wer war der Feind? Was war die nächste Burg? Ich werde jeden Bauern fragen müssen. Die Äcker liegen holprig unterm Schnee, es weiden keine Herden an den Rainen. Des Rabbi schnelles Gehen wird zum Lauf; ihm ists als lief der Weg, nicht seine Füße. Er kommt durch einen endlos tiefen Forst; kein Windhauch rührt die kältestarren Äste. Im Tal liegt eine gewaltige Pfalz. Vor ihrem Ringwall liegt ein großer Eber, wie wenn er hierher hätte flüchten wollen. Das Tier hat alle Viere ausgestreckt, doch nagen keine Ratten an dem Aas; im leeren Himmel fliegen keine Raben … Es muß doch schon nah am Abend sein; aus keinem Schornstein steigt auch nur ein Rauch, in keinem Haus klappert eine Schüssel …
Wo ist er jetzt? Er kennt die Landschaft nicht. Es ist, als rückten Berge aneinander und drängten sich um die verbrannten Steppen. Berge aus kahlen Felsen, ohne Wald. Das ist wie im Gebirge am Nil … Wie Mauern ragt ihr gelbliches Gestein … Die Toten wohnen dort in Höhlenstädten … Der Fuß des Rabbi stößt an etwas an: zwei Kupfereimer liegen an der Erde, vor etwas Braunem, einem Brunnentrog. Kein Tropfen Wasser ist in dem trocknen Becken. Und dennoch waren Menschen kürzlich hier, im kreidigen Staube sieht man ihre Spuren –
Wo sind die Menschen? Sind denn alle tot?
Der Rabbi springt zurück – er hat begriffen. Mensch und Getier und Pflanze sind dahin, der Tod hat unsere Erde ausgelöscht, nur ihn allein hat Asraël vergessen. Nur er allein lebt in der Riesengruft, umschlossen von den himmelhohen Mauern. Jetzt sind sie ganz um ihn zusammengerückt, er spürt die Kälte der granitnen Quadern … Wo ist die Pforte, die den Turm verschließt? Er muß die Rettung, muß den Ausgang finden, schon dunkelts über dem verlassnen Rund … Der Rabbi tastet sich stolpernd an den Wänden entlang. Kein Falz in dem Gemäuer, keine Tür! Verzweifelt jagt er an den Steinen hin. Asraël kann ja noch nicht fern sein – ein Hauch von Wärme, von dem letzten Leben, hängt ja noch in dem sinternden Gestein. Er tappt – ein schmaler Ausgang tut sich auf … Dort in der leeren Nacht der Ewigkeit verschwinden Asraëls beglänzte Schwingen … Der Rabbi will ihm zurufen: Nimm mich mit!
Die Hände fahren nach der stummen Kehle.
[…]

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Mit freundlicher Genehmigung des Arsenal Verlags