Vorgeblättert

Leseprobe zu Robert Kindler: Stalins Nomaden. Teil 3

03.03.2014.
Gesichter des Hungers

Hunger beeinflusst Menschen auf radikale Art und Weise. Die Betroffenen werden nicht innerhalb eines Augenblicks zu erkennbaren Opfern, sondern ihre Gestalt, ihre Physiognomie und nicht zuletzt ihr Charakter verändern sich über einen längeren Zeitraum. Der Hungertod tritt nicht überraschend und plötzlich ein. Er kündigt sich vielmehr an - über Tage, Wochen, mitunter Monate. Aus vielen unterschiedlichen Zusammenhängen, in denen Menschen über einen längeren Zeitraum unter Hunger gelitten haben, ist bekannt, wie sich permanenter Mangel auf den Organismus der Betroffenen auswirkt.(78) Die Menschen magern ab, sie wirken ausgezehrt und erinnern an Gerippe. Ihre Haut verliert an Elastizität und Farbe. Ihre Muskeln atrophieren, weshalb hungernde Menschen häufig eine leicht gebückte Haltung einnehmen. Wer hungert, wird oft apathisch und verhält sich seiner Umwelt gegenüber passiv.(79) Die Interessen der Menschen verengen sich, bis schließlich allein Nahrung im Zentrum steht. Der Hunger verdrängt alle anderen Empfindungen(80) und führt dazu, dass Menschen zu extremen Formen ihres "normalen" Verhaltens tendieren.(81)
     Es sind vor allem die Gesichter der Hungernden, die Erschrecken und Abscheu bei jenen hervorrufen, die ihnen begegnen und mit ihnen konfrontiert sind. Aus diesen Gesichtern spricht der nahende Tod. Für Außenstehende mag es scheinen, als sei mit der radikalen Veränderung der Gesichtszüge auch ein Verlust an Individualität und Persönlichkeit verbunden. Giorgio Agamben hat mit Blick auf die sogenannten Muselmänner(82) in deutschen Konzentrationslagern zu erklären versucht, warum von Hunger gezeichnete Menschen solches Entsetzen auslösen. Seiner Ansicht nach wirken die Gesichter wie eine Art Spiegel: "Alle erkennen sich in seinem ausgelöschten Antlitz wieder." Die Gestalt des Hungernden markiere "die Schwelle zwischen dem Menschen und dem Nicht-Menschen".(83)
     Die erhaltenen Beschreibungen hungernder Kasachen illustrieren diesen Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Muchamet Sajachmetov sah "keine Menschen, sondern wandelnde Skelette" mit "eingesunkenen und erschreckend leblosen Augen", die einen "entsetzlichen Anblick" boten.(84) Kamil Ikramov, der Sohn des Ersten Parteisekretärs Usbekistans, Akmal Ikramov, sah durch die Fenster des väterlichen Salonwagens an der Station Kazalinsk "Skelette, lebende erwachsene Skelette, mit kindlichen Skeletten auf den Armen".(85) Andere Funktionäre berichteten, ihnen hätten beim Anblick halb verhungerter Kinder die Hände unkontrollierbar gezittert und sie hätten tagelang keinen Schlaf mehr finden können.(86) In all diesen Berichten ging es stets um die erste Begegnung mit den Hungernden und um den ersten Kontakt mit den Folgen extremer Mangelernährung. Es schockierte insbesondere auswärtige Beobachter, wenn sie sahen, wie Bettler, Sterbende und hungernde Kinder auf den Straßen lagen, sich aus Abfallgruben ernährten und um einige Brotbrocken kämpften.(87) Das mitunter absurde Nebeneinander von sowjetischer Normalität und menschlicher Tragödie rief Empörung hervor. So rang etwa ein auswärtiger Kontrolleur sichtlich um Fassung, als er Stalin und Molotov davon berichtete, dass in einem kleinen Verkaufspunkt im Kreis Taldy-Kurgan nichts anderes angeboten werde als "drei Paar Gummigaloschen und Porträts des Genossen Goloscekin". "Kann man sich eine schlimmere Verhöhnung der hungernden Bevölkerung denken?", setzte er hinzu.(88)
     Auf das anfängliche Entsetzen folgten bei vielen Menschen - zumindest nach außen hin - Gleichgültigkeit und Härte. Niemand konnte sich unablässig dem Elend aussetzen. Das galt für die abgehärteten Tschekisten ebenso wie für nicht betroffene Teile der Bevölkerung. Agnessa Mironova-Korol', die damalige Ehefrau des Bevollmächtigten Vertreters der OGPU in Kasachstan, Sergej Mironov, schilderte, wie sie ihren Mann im Jahr 1931 auf einer Inspektionsreise nach Karaganda begleitete. Mironov und seine Leute gingen in der Stadt ihren Geschäften nach und kehrten abends bedrückt und in sich gekehrt in den Salonwagen zurück. In der luxuriösen Atmosphäre des Waggons, in dem es weder an Bequemlichkeit noch an Delikatessen mangelte, entspannten sie sich, scherzten und erzählten Anekdoten.(89) Während es für die privilegierten OGPU-Männer ein Leichtes war, das eben Gesehene zumindest kurzfristig zu verdrängen, musste der größte Teil der Bevölkerung einen Weg finden, sich mit dem Grauen auseinanderzusetzen.
     Die meisten Menschen begannen sich mit der Ausnahmesituation der Hungernden abzufinden, sich an sie zu gewöhnen. Je länger sie mit den Hungernden konfrontiert waren, desto weniger Aufmerksamkeit widmeten sie ihnen. Während in der Steppe, in den Aulen und Dörfern die meisten Menschen hungerten, lagen die Dinge überall dort anders, wo die sowjetische Infrastruktur noch halbwegs funktionierte. In den Städten, an den Bahnstationen, auf den Baustellen des Fünfjahrplans und in den Sovchosen gab es zu jedem Zeitpunkt signifikante Bevölkerungsgruppen - Funktionäre, Angestellte, aber auch Arbeiter und ihre Familien -, die nicht hungerten oder zumindest keinen permanenten Mangel litten. Die Schweizerin Ella Maillart, die 1932 die zentralasiatischen Sowjetrepubliken bereiste, beschrieb die bettelnden Kinder an den Bahnstationen als Teil einer pittoresken Kulisse. Lediglich an einer Stelle ihrer Reisereportage thematisierte sie das Schicksal der Kasachen ganz explizit, als sie eine Frau in einem "Kasakwaggon" schilderte: "Ihr Kleines, das sich an ihren Rock klammert, steht auf zwei Stöckelbeinchen, dessen Knie spitz vorragen; sein kleiner abgemagerter Podex hängt in vielen Falten herunter wie ein runzeliger Sack. Wo kommen sie her? Wo fahren sie hin?"(90)
     Niemand wollte mit den Hungernden zu tun haben. Sie übertrugen Krankheiten und signalisierten Gefahr. Für die Stabilität und Sicherheit etablierter Gemeinschaften, deren Mitglieder oft selbst um ihr Überleben kämpften, galten sie als Bedrohung und lösten entsprechende Reaktionen aus. Aus Karaganda berichtete die OGPU im Januar 1933, dass der unablässige Zustrom von Hungerflüchtlingen die Lage in der Stadt verschärft habe. Wichtiger als der Umstand, dass die geschwächten Menschen bei eisigen Temperaturen unter freiem Himmel vegetierten, war den Tschekisten etwas anderes: Die Kriminalität geriet außer Kontrolle, weil sich die Menschen zu kleinen Gruppen zusammentaten, Brotläden überfielen, Käufer auf der Straße ausraubten und Reiter angriffen, um deren Pferde zu stehlen. An einem einzigen Tag seien zehn Pferde entwendet und zwei Brotverkaufsstellen überfallen worden. Ein Angriff auf ein Mehllager habe gerade noch verhindert werden können.(91) Wer gegen diese Menschen Gewalt verübte, musste kaum Sanktionen fürchten. Auch die Genossen konnten meist auf die stillschweigende Duldung der nicht hungernden Bevölkerungsmehrheit setzen, wenn die Hungernden marginalisiert, isoliert und deportiert wurden. Niemand leistete Widerstand, wenn Miliz und OGPU die Schwachen aus dem öffentlichen Raum entfernten.(92)
     Oft genug schlug die Ablehnung der Hungernden in offene Gewalt um. Im April 1933 konnte man dies in Akmolinsk sogar einem Leserbrief in der Lokalzeitung Akmolinskij udarnik entnehmen: "Der Rote Markt ist eröffnet worden", hieß es darin, "den man nur deshalb rot nennen kann, weil dort täglich rotes Blut fließt. In Gruppen oder allein reißen die Hungerflüchtlinge den Händlern und Käufern die Lebensmittel aus den Händen, und natürlich schlagen die Bestohlenen sie dafür bis aufs Blut, bis zur Bewusstlosigkeit und manchmal schlagen sie sie tot."(93) Je länger die Ausnahmesituation andauerte, desto häufiger kam es zu Gewaltausbrüchen und Selbstjustiz. Die Hungernden wurden zum Bodensatz der Gesellschaft. Sie wurden vertrieben, bedroht und oftmals auch umgebracht. Sie waren Fremde und Bettler. Die Flüchtlinge wurden Teil einer undifferenzierten, grauen Masse, für die es keine Zukunft gab und deren Vergangenheit niemanden interessierte.(94)
     Es war kein Zufall und lag auch nicht an fehlenden technischen Möglichkeiten, dass es nur wenige Bilder des Hungers in Kasachstan gibt. Die Katastrophe hatte kein Gesicht und sie sollte keines erhalten. Der Mantel des Schweigens musste blickdicht sein. Valentin Groebner bietet eine Erklärung dafür an, weshalb es für Machthaber darauf ankommt, Bilder des Schreckens gar nicht erst entstehen zu lassen oder zumindest unter Verschluss zu halten: "Je mehr vertraute Elemente die 'unvorstellbar' schrecklichen Bilder des Leidens Anderer enthalten, desto wirksamer sind sie. Kollektive Gedächtnisse sind aus Auswahl und Intrusion gebaut; wir sollen uns erinnern und erschauern, aber vor den richtigen, relevanten Bildern. Deshalb sind unfotografierte Gräueltaten auf vage und zynische Weise irgendwie leichtgewichtiger. Und deshalb geben schließlich Bilder des Schrecklichen so genau Auskunft über die visuelle Ordnung der eigenen Umwelt. 'Unzumutbar' sind diejenigen Bilder, die gegen politische Regeln der Sichtbarmachung verstoßen."(95) Dies war den Bolschewiki klar. Sie wussten genau, welch schockierende und mobilisierende Wirkung von Fotografien hungernder Menschen ausgehen konnte.(96) Während der Hungersnot zu Beginn der 1920er Jahre hatten sie selbst noch ganz bewusst - und mit überwältigendem Erfolg - auf solche Aufnahmen gesetzt, um Solidarität mit den Hungernden zu erzeugen.(97) Unter veränderten Vorzeichen taten sie zehn Jahre später alles dafür, dass keine Nachrichten und Bilder aus den Notstandsregionen nach außen gelangten.(98) Hungererfahrungen sind nicht unmittelbar in Worte zu fassen, darin gleichen sie der Erfahrung körperlichen Schmerzes.(99) Doch mit ihren ausgemergelten Körpern selbst können die Hungernden etwas über ihre Lage mitteilen. Das, was unsagbar ist, kann angeschaut werden.(100) Je weniger Aufmerksamkeit man den Hungernden schenkte, desto leichter würde man sie isolieren können.
     Dies zeigte sich exemplarisch auf dem sechsten Plenum der kasachischen Parteiführung im Juli 1933, bei dem es auch um die "Fehler" und "Exzesse" der vergangenen Jahre ging. Die Redner zerlegten die humanitäre Katastrophe in abstrakte Begriffe und Probleme. Sie dozierten über "Versorgungsschwierigkeiten", sorgten sich um den Rückgang der Viehbestände und kämpften um den Erhalt von Aussaatflächen. Von den hungernden Menschen sprachen sie nicht.(101) Nur Chasen Nurmuchamedov, zu dieser Zeit stellvertretender Vorsitzender der kasachischen Plankommission,(102) brach das Tabu: "Wir reden sehr viel über den Rückgang der Viehherden, über diesen zweifellos wichtigen Faktor unserer Wirtschaft, aber wir vergessen oft das wichtigste Element der Produktivkräfte - den Menschen. Die Bevölkerung einiger Gebiete befindet sich in einer sehr schwierigen Situation. Man muss sagen, dass wir in Kasachstan 80000 Waisenkinder haben. Darüber muss man nicht sprechen, um zu jammern, sondern um die Aufmerksamkeit der Parteiorganisation für den Kampf mit den Folgen der Abwanderungen zu schärfen, für den Kampf mit der Verwahrlosung der Kinder."(103)
     Sein Auftritt brachte Nurmuchamedov herbe Kritik ein. Gdalij Pinchasik, Parteisekretär des Gebietes Uralsk, rief in den Saal: "Die Viehzucht, sagt Genosse Nurmuchamedov, ist nicht die wichtigste Frage. Nach Nurmuchamedovs Meinung besteht das Wichtigste darin, dass es in Kasachstan 80000 Waisen gibt, dass die Menschen schlecht aussehen, dass sie Gesichter haben, die furchtbar anzusehen sind. Ich denke, dass das Plenum solch einem medizinischen Standpunkt nicht zustimmen kann, wir sind Politiker und können nicht auf so einem bourgeois-philanthropischen Standpunkt stehen."(104) Damit hatte Pinchasik den zentralen Punkt berührt: Gerade weil der Anblick dieser Körper und Gesichter so schockierend war und gerade weil sich ihr Anblick so unvergesslich ins Gedächtnis einbrannte, hatten die Bolschewiki kein Interesse daran, dass darüber gesprochen wurde. Nurmuchamedov gestand seinen "Fehler" ein: "Ich habe eine überflüssige Detaillisierung vorgenommen, als ich die armselige Lage der otkocevniki wiedergegeben habe. Das hat den Genossen zu der Schlussfolgerung Anlass gegeben, dass ich einfach philanthropisch die Lage abbilde. In dieser Hinsicht nehme ich die Bemerkung des Genossen Pinchasik an. Aber ich erkläre, dass ich dies mit der Absicht getan habe, die Aufmerksamkeit des Plenums für den Kampf mit den Folgen der Abwanderungen zu schärfen."(105)

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78 Zu den Stadien der Mangelernährung und den physischen und psychischen Einschränkungen: Dirks, "Social Responses", S. 23f.; Butterly/Shepherd, Hunger, S. 55ff.
79 Franklin u.a., "Observations on Human Behavior"; Helweg-Larsen u.a., "Die Hungerkrankheit in den deutschen Konzentrationslagern", S. 170f.
80 Turnbull, Das Volk ohne Liebe.
81 Sorokin, Man and Society in Calamity, S. 82. Beispiele bei: Reid, Blokada, S. 279ff.
82 Ryn/Klodzin´ ski, "An der Grenze zwischen Leben und Tod".
83 Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 43, S. 47.
84 Shayakhmetov, The Silent Steppe, S. 137.
85 Ikramov, Delo moego otca, S. 97. Akmal Ikramov lebte von 1898 bis 1938.
86 Cameron, The Hungry Steppe, S. 281f. Auch Nikolaj Bucharin war schockiert, als er Kasachstan bereiste: Abylchoz? in/Kozybaev/Tatimov, "Novoe o kollektivizacii", S. 217.
87 RGASPI, 82-2-148, Bl. 192-193 (Brief von Vasil'ev an Molotov, o.D. [September 1932]).
88 Ebenda, Bl. 193.
89 Jakovenko, Agnessa, S. 56f.
90 Maillart, Turkestan Solo, S. 43, Zitat: S. 293.
91 APRK, 141-1-5774, Bl. 8 (Bericht von Volodz'ko über die otkoc?evniki in Karaganda, 2. 1. 1933).
92 Die Säuberungen fanden zur gleichen Zeit und mit den gleichen Methoden wie die Kampagne zur Säuberung der Städte von "marginalisierten Elementen" statt. Shearer, Policing Stalin's Socialism, S. 181ff.
93 APRK, 719-4-719, Bl. 279 (Bericht der OGPU an Gusev und Egorov, vor dem 7. 5. 1933). Eine ähnliche Szene auf dem Markt in Akmolinsk schildert: Michajlov, Chronika velikogo dz? uta, S. 337.
94 Zur Figur des Flüchtlings: Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 73ff.; ders., Verworfenes Leben, S. 107ff.
95 Groebner, Ungestalten, S. 171.
96 Zur Bedeutung visueller Repräsentationen von Hungersnöten: Edkins, Whose Hunger?, S. 3ff.
97 Patenaude, The Big Show in Bololand.
98 Bezeichnenderweise werden Berichte über die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 immer wieder mit Bildern illustriert, die nachweislich während der Hungersnot von 1921/22 an der Wolga entstanden sind.
99 Zur Nichtkommunizierbarkeit von Schmerz: Scarry, Der Körper im Schmerz, S. 12; Trotha, "Zur Soziologie der Gewalt", S. 29f.
100 Kindler, "Die Starken und die Schwachen", S. 69.
101 Zumindest laut der veröffentlichten Version des Stenogramms. Vgl.: S? estoj plenum.
102 Zur Biografie Nurmuchamedovs (1900-1938): Z? akypov u.a. (Hg.), Narkomy Kazachstana, S. 259f.
103 Sestoj plenum, S. 184.
104 Ebenda, S. 209
105 Zit. n.: Michajlov, Chronika velikogo dzuta, S. 298



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Auszug mit freundlicher Genehmigung der Hamburger Edition
(Copyright Hamburger Edition)


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