Vorgeblättert

Leseprobe zu Sandra Hoffmann: Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist. Teil 1

23.07.2012.
Nein, sagt Bilinski, ich möchte nicht schlafen.
     Es passiert nichts, antwortet die kleine Schwester.
     Er kennt ihre Stimme, wie eine, die ihn lange durchs Leben begleitet hat. So gut in den wenigen Monaten. Die Nuancen; den weichen Klang, wenn sie auf seiner Seite ist, wenn sie ihn zu beruhigen versucht, wenn er klagt, schimpft, sich wehrt. Die Unbekümmertheit, mit der sie ihn unterbricht, wie sie ihren Satz zu Ende bringen will, auch wenn er seinen zu Ende bringt: wie sie manchmal gemeinsam sprechen, gleichzeitig, bis er still wird, bis sie gewonnen hat. Die spitze Wut, wenn er sicher ist, zu wissen, so geht es, so machen wir das, und sie widerspricht, nein, das machen wir nicht so. Die Mädchenstimme, die Frauenstimme, die Krankenschwesternstimme, die Ich-weiß-Bescheid-Stimme. Eine Stimme wie die einer Geliebten. Nein, das würde er so nicht sagen.
     Die Augen geschlossen, sagt er: Bleiben Sie!
     Er hört, wie sie den Stuhl heranzieht, sich setzt, ihren Atem; kein feiner Wind, nur stellt er sich die Bewegung ihrer schmalen Nasenflügel vor. Manchmal will er die Augen nicht öffnen beim Erzählen.
     Mili, sagt er, das war ein Glück, dass sie so jung war.
     Die kleine Schwester schweigt.
     Sie könnte auch nachfragen, denkt er, obwohl es doch genug ist, dass sie da sitzt, ihm zuhört, immer wieder und weiter, seit Wochen. Er ist ungerecht, ja, und doch kann er plötzlich nicht an sich halten. Etwas überrennt ihn.
     Sie haben das Fragen wohl nie gelernt, sagt er.
     Warum? Ihre Stimme klingt verwundert.
     Lehrerhaft muss das wirken, wenn er sagt: Das ist die richtige Frage! Aber es hilft nichts, er sagt es und antwortet ihr: Weil sie damals alle Jahrgänge zwischen neunzehnhundertsechzehn und vierundzwanzig rausgeholt haben, per Zwang, alle. Und Mili ist ein sechsundzwanziger Jahrgang. Sie war vierzehn.
     Das Bild rückt näher, und als es ganz nahe ist, spürt er auch das altbekannte Ziehen in der Magengegend; er lebt noch, manches vergeht nicht. Mili, wie sie zusammengekrümmt dalag, nachdem er Izy hatte töten müssen, wie er noch Izy vor Augen hatte, ihr raues starkes Fell, die Augen, die dunklen Hundeaugen ihn hoffnungsvoll anschauten, und Izys so starken Körper, der sich immer wieder aufrichten wollte, aber sie hatten ihr das Rückgrat gebrochen. Und wie er ins Haus trat und Mili im Sessel, rotäugig, düster, verängstigt, und aufs Merkwürdigste abgerissen aussah. Mili? Hatte er gesagt, und sie war fast im Sessel verschwunden. Lass mal, hatte die Mutter gesagt. Sie roch schlecht, sauer und stockfleckig.
     Warum, fragt die kleine Schwester noch einmal, warum meinen Sie, ich habe das Fragen nie gelernt?
     Er zuckt zusammen. Das Bild von Mili und der Mutter im halbdunklen Zimmer verschwindet.
     Warum meinen Sie das?, beharrt die kleine Schwester.
     Was?, fragt er. Sie sitzt direkt an seinem Bett, das Haar zum Pferdeschwanz gebunden, wie immer, die Augen rund und weit offen unter den dichten buschigen Brauen, sie sind es, denkt er, die ihn erinnern.
     Warum meinen Sie, dass ich das Fragen nie gelernt habe? Fragt sie. Sie drängt, sie wird nicht nachlassen, jetzt.
     Sonst würden Sie doch fragen: Was ist Mili passiert? Warum war es ein Glück? So etwas fragt man doch.
     Marita zuckt mit den Schultern.
     Er denkt jetzt manchmal gar nicht mehr freundlich über die Menschen.
     Sie haben, sagt Bilinski, weil die Männer im Krieg waren, weil sie dringend Arbeitskräfte brauchten, alle, die im besten Alter waren, herausgeholt aus Polen, damit sie in den Fabriken, auf dem Land, ach, Herrgott, überall arbeiteten. Sie brauchten Leute, genauer Sklaven, gesunde Sklaven.
     Aber warum haben Sie sich nicht gewehrt? Sie und alle? Ich hätte mich gewehrt, sagt die kleine Schwester empört.
     Weil das nichts genutzt hat. Weil wir keine Stimme hatten, keine Chance, weil meist nicht einmal Verstecken half, oder vielleicht ein einziges Mal, und beim nächsten Mal hatten sie dich. Wenn du Glück hattest, schafftest du es auch noch ein zweites Mal, aber irgendwann bist du auf dem Weg in die Stadt, und absichtlich, wohlüberlegt nimmst du eine kleine unbekannte Nebenstraße, und dann machen sie eine Razzia. Bilinski sieht die kleine Kolonne aus drei Wagen vor sich, als habe er sie gestern kommen sehen, er war nahe dem Wald von Zagorzy, da hörte er die Motorgeräusche aus der Ferne, er kannte sich aus mit Geräuschen von Motoren und das waren zweifellos ihre. Da springt er in den Graben, die große Dorne einer ausgewilderten Brombeere reißt ihm die Wadenhaut blutig, und weil er sich in dem Strauch verfängt, fällt er auf die Seite, will sich abstützen, spürt das Dorngestrüpp in der Hand, schreit auf vor Schmerz, leise, knapp, wie eine Maus beim ersten Biss der Katze, richtet sich dennoch auf, die Hand voller kleiner Brombeerdornen, Kratzer und Blut, Kletten und Brombeerranken im Hemdleinen. Er befreit seinen Fuß, so schnell es geht, aus dem Gestrüpp, während ihm das Herz rast, Alarm schlägt, weil die Autogeräusche näher kommen und ihn antreiben. Da steht er gerade wieder aufrecht, spürt vor Aufregung den Schmerz nicht mehr, um den notwendigen Schritt aus dem Graben zum Wald hin zu tun, und dabei sieht er sich um. Nun weiß er, sie haben ihn gesehen.
     Alle Wege, die in die Stadt führten, haben sie gleichzeitig und häufig mit mehreren Fahrzeugen befahren, und jeden, den sie auf der Straße kriegen konnten, der nur irgendwie in ihr Bild passte, ihr Schema, den haben sie kontrolliert. Einkassiert, wenn er passte. Frauen auch. Und all jene weggestoßen, angespuckt, vor dem Auto hergetrieben, die sie für nutzlos hielten. Kranke, Alte, Schwangere und jene, die sie nicht verpflichten konnten, all die. Aber wenn du der Richtige warst, dann war Schluss.
     Er denkt: Jetzt wirft sie den Kopf in den Nacken, jetzt zeigt sie die Zähne, als wolle sie nicht glauben, dass er, Bilinski, so ein Weichei war, einer, der sich nicht wehrte.
     Da war nichts mehr mit Wehren, sagt er. Da half nichts mehr. Er muss sie anschauen. Sehen. Das Weiß in ihren Augen schien ihm noch weißer als zuvor. Sie ist wütend. Die dunklen Augen stechen.
     Aber die konnten einen doch nicht einfach mitnehmen, sagt sie. Hat da keiner was getan? Ihre Stimme ist schriller geworden, so kennt er sie nicht.
     Da konnte sich niemand wehren, antwortet Bilinski. Er sagt es mit Nachdruck, es gab keinen Anlass, zu zögern. Da war niemand, sagt er. Es war Krieg.
     Der Kanzler?
     Hitler! Und in Polen, oder was noch davon übrig geblieben war, kein Kanzler weit und breit, sagt er, ein Exilpräsident, der wenig tun konnte und noch weniger tat.
     Marita hatte eine ausgeprägte Mimik, wenn sie nicht mehr nur lächelt, fängt ihr Gesicht an zu leben, sich rasch zu verändern, als spiegle es eine innere Bewegung. Jetzt zieht sich ihre Stirn in Falten, ihr Mund schürzt sich, als holte er aus zu einem ganz gewaltigen Kuss, um sich genauso schnell wieder zu entspannen und schließlich reglos stumm zu werden, mit nach innen gewendeten Lippen.
     Sie haben in der Schule nicht gerade gut aufgepasst, sagt Bilinski.
     Marita antwortet nicht. Sie sitzt aufrecht auf ihrem Stuhl neben Bilinskis Bett, der jetzt immerzu befürchtet, gleich springe sie auf und verlasse den Raum.
     Fragen Sie doch etwas, sagt er und schaut sie so zugewandt an, dass er hofft, sie könne ihm ansehen, dass sie alles fragen darf, was ihr einfällt.
     Marita schweigt.
     Sie schaut ihn nicht an. Er versteht es nicht. Er schweigt auch. Sein Bauch fühlt sich hart an. Er tut nicht weh. Es tut ihm nur selten etwas weh mit den Medikamenten. Manchmal brennt und sticht der Nerv im Gesicht; das ist untertrieben. Ganz leicht geht das mit dem Kopfkino in der Zwischenzeit, er schließt die Augen, wartet, befindet sich mitten in diesem schon so weit entfernt gewesenen Leben. Als habe er alles gestern erlebt, so nah. Glück oder Unglück. Das spielt dabei keine Rolle mehr.
     Sie haben mich aus den Dornen gezogen. Die Wagen sind auf mich zugerast, haben hart gebremst, während ich noch damit beschäftigt war, mein vollkommen aufgekratztes linkes Bein aus den Brombeerranken zu befreien, den Rücken zur Straße.
     Bürschchen, Bilinski ahmt den Soldaten nach, der das R rollen ließ, wie er es davor nie gehört hatte. Bürrr-schchen. Der trug ein kleines Bärtchen am Kinn und war ansonsten aalglatt rasiert und eingeölt. Am schlimmsten aber, er stank zum Himmel.
     Marita lacht ein schnelles aufmunterndes Lachen.
     Er hat mich am Arm gepackt, seine Hand war riesig, sie umschloss meinen Oberarm ganz lässig, sagt Bilinski, und er denkt an das schmächtige zarte Kerlchen, das er mit sechzehn war. Da hatten sie mich.
     Wie alt bist du, fragte der Soldat.
     Fünfzehn, habe ich geantwortet, auf Deutsch, weil ich so blöd war. Ich Idiot.
     Bist du Deutsch?, fragte er. Wie heißt du?
     Janek.
     Er: Du hast doch einen ganzen Namen!
     Janek Bilinski.
     Bist niemals fünfzehn. Seine Hand klemmte wie eine Schelle um meinen Arm, er schob mich zum Fahrzeug, aus dem schon zwei weitere ausgestiegen waren, dann drückte er mich auf die Rückbank, Hand auf den Kopf, dann rein. Und er setzte sich neben mich, sein Bein ganz an meines gedrückt. Ich rückte ab, aber er rückte auf und zog mich am Arm zu sich heran.
     Woher kannst du Deutsch, fragte er nochmals, nun in mein Ohr flüsternd, so dass ich sein Bärtchen auf der Haut spürte. Drecksack.
     Ich schwieg.

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