Vorgeblättert

Leseprobe zu Tanguy Viel: Das absolut perfekte Verbrechen. Teil 3

19.02.2009.
Er redete immer weniger, der Onkel, kaum, dass er uns in den letzten Monaten überhaupt begrüßte. Sogar als Marin vor einigen Wochen wieder rauskam, an jenem für den Onkel gebenedeiten Tag, an dem Marin seine Strafe verbüßt hatte, die drei Jahre, die er in einer Zelle von drei mal drei Metern abgesessen hatte, sogar an diesem ersehnten Tag hatte der Onkel keine Zeichen von Rührung an den Tag legen, hatte weder weinen noch zittern wollen. Dabei hatte er so auf ihn gewartet, auf diesen Tag, und war schneller gealtert durch das Wissen, dass Marin in diesem heruntergekommenen Gefängnis saß. Aber für ihn hatte das Wort Rührung wohl allen Sinn verloren.

Er macht das absichtlich, sagte Marin im Wagen, also dass er nicht mit uns spricht, das macht er absichtlich. Und dass er die grässliche Tante uns fast allein begrüßen ließ, dabei sagte die auch kaum was oder beschränkte sich auf grundlegendste Funktionen der Sprache wie "Kaffee?", "Seid leise, er schläft" oder "Bis Samstag dann". Diese Tante, dunkel, vertrocknet, spinnengliedrig, deren mit ihm geteilte Behausung ihren beiden Körpern ähnelte, nur feuchter als ihre rissigen Wangen. Denn Strenge, nein, die kann man nicht improvisieren, dachten wir, und Improvisation und Fantasie hatten sie längst verlassen, sie, deren Gesicht, deren Augen- und Lippenbewegungen mehr Macht ausstrahlten als alle Predigten in der Kirche, sie, wenn sie uns jeden Samstag wieder ankommen sah, erstarrte schon angesichts unseres Eindringens.

Andrei vor allem, Andrei meinte, ihn nerve das mehr als alles andere, und er verweigerte sobald möglich diese öden Besuche, diese ranzigen Samstage, wie er es nannte, wegen der alten Schachtel. Umso mehr verweigerte er sie, als wir immer zu ihnen fahren mussten, nie sie bei einem von uns begrüßen konnten, immer wir in jenes kurz vor dem Verfall befindliche Haus mussten, um trist denselben Tee ohne Zucker kredenzt zu bekommen, dieselben weich gewordenen Kekse, denselben faden Portwein, und dabei immer im Kopf behalten sollten, dass wir Bosse waren.

Denn wir waren Bosse.

Marin behauptete also, der Onkel mache das absichtlich, also schlimmer wirken, als er eigentlich war, wie machte er das nur, welches Vergnügen konnte es ihm in seinem hohen Alter bereiten, sich ohne Sinn und Zweck als noch älter zu geben, als noch degenerierter?

Ich weiß warum, Marin, ich wusste es schon damals, aber ich habe es dir nie verraten.

Und wir sprachen auch nicht darüber, weder Marin noch ich, im Wagen auf der Rückfahrt, sagten etwas, das erlaubt hätte, dass ein Dritter Zugriff auf uns alle bekommen hätte oder auf die Beziehungen, die wir zueinander unterhielten, oder getrennt, ein jeder von uns, der Onkel, die Tante, Marin, Andrei und ich, und so behielten wir die Verwicklung für uns, die uns in diesen Zustand falscher Gedankenver­sunkenheit beförderte, in dem die vorsichtig, geizig, immer in jenem Tonfall, der anzeigt, dass man gern noch eine Erläuterung hätte, gesagten Wörter, wo unter diesen Wörtern der unsichtbare Teil des Eisbergs also nur zu erahnen war.

Oft fingen wir auf Höhe der Mole, fast zu Hause angekommen, wenn wir über die Brücke fuhren, alle wieder zu reden an. Wir redeten, füllten den Wagen mit allem, was wir sahen, spekulierten über die Segelboote auf dem Meer, sagten "das da hinten, das ist Robs Boot, ja es ist Robs, das mit den grauen Segeln, er ist der einzige, der bei so einem Wetter rausfährt", unter diesem einförmigen Regen, der immer oder fast das Meer punzte, und wir waren uns so einig in der Absicht, das gallige Schweigen zu brechen. In gewissem Sinne atmeten wir auf, als bedeutete die Aussicht auf die vollbrachte Rückkehr, die Über­schreitung der Grenze zwischen zwei Hoheitsbereichen, eine Erleichterung - als gäbe es zwischen dieser ganzen, das Gedächtnis des Onkels tragenden Küste im Norden und der ganz anderen, die Marins Universum im Süden umfasste, einen trennenden Meridian und zur Überschreitung dieser Grenze wäre diese alte Brücke übers Meer vorgesehen, hinter der wir uns frei fühlen konnten, oder allein.

Also hörte ich kaum zu, wenn Marin vor dem Onkel all die laufenden Geschäfte erwähnte, die "Jobs", wie er sagte, die für unser Überleben in dieser Welt nötig waren, wie der Onkel es nannte. Das hatte er so oft gesagt: unser Überleben. Man muss ja noch ein bisschen überstehen, fügte der Onkel hinzu, loyal bleiben inmitten all dieser Verräter. Dieser Veräter, genau, bestätigte Marin, der rastlos über das knarrende, abgetretene Parkett tigerte, das ein perfektes Echo für seine immer düstereren Worte abgab, für den alternden Onkel, diese Verräter, das war das immer wiederkehrende Wort, das über die trockene, schneidende Seele der Männer in diesen Kreisen sprach, in diesem angeblich finsteren und schmutzigen Milieu der örtlichen Unterwelt. Allerdings gehörten wir selbst ja auch dazu, zur örtlichen Unterwelt.

Aber wir, wir waren dennoch anders. Wenn wir eines Tages so werden sollten wie die, tönte Marin, wenn wir werden wie die, ich schwörs, dann verpasst mir eine Kugel ins Herz. Denen geht doch jeder Sinn für die Familie ab, sagte er. Aber weil die Zeiten sich ändern, schloss der Onkel, er, dessen Leben, Vermögen, Position auf festen Begriffen von Freundschaft und Loyalität gründeten und der hier eine Aufweichung, da Verrat witterte, überall, sagte er, wie die Zeiten sich ändern, sagte er immer wieder, zehnmal, seufzend, er, der es so müde war, auszutüfteln, zu teilen, zu verhandeln, und uns jetzt beschwor, nicht zu wanken noch zu weichen, lasst nicht locker, sagte er, bis zum letzten Atemzug, sagte er.

Und dazu unsere Gewöhnung an Listen und riskante Jobs, seit all den Jahren, in denen dieselben Straßen unspresse@edition-ebersbach.de an dieselben Orte brachten, ohne das wir mehr wussten, ob die Sehnsucht in uns tatsächlich dazu passte.

Die Gewöhnung auch daran, nicht mehr zu wollen, wuchs mit der Menge der "Baustellen", der "Jobs", der "Projekte", die wir für selbstmörderisch hielten und die jedes Mal schrecklicher zu jener anderen so verwandten Gewohnheit beitrugen, unseren eigenen Willen automatisch vor ihm zu ersticken, vor dem Onkel, oder vor seinem Statthalter, Marin. Und die Gewohnheit, dachte ich, die Gewohnheit zerbröselt bisweilen, ohne dass man irgendwelche Risse gesehen hätte.

Seit Langem schon war uns all das, das Ausführen von Befehlen, die Revolver unter unseren Jacken, die Art und Weise, wie wir auf der Straße gegrüßt wurden und üble Begegnungen hatten, war uns all das über. Überdruss, sagten wir, daran, nachts immer eine Hand in der Tasche zu behalten, für alle Fälle, sagten wir. Es kommt eine Zeit, da träumt man von was anderem. Aber wenn man nicht selbst in einem Steinbruch landen will, wenn man selbst nur einfach überleben will, dann macht man weiter.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klaus Wagenbach

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