Vorgeblättert

Leseprobe zu Terry Eagleton: Das Böse. Teil 2

28.03.2011.
Wer also andere bestrafen möchte, weil sie böse sind, muss behaupten, dass sie aus freiem Willen böse sind. Vielleicht haben sie es absichtlich zu ihrer Bestimmung auserkoren, wie Shakespeares Richard III. mit seinem trotzigen "bin ich gewillt, ein Bösewicht zu werden"; der Satan in Miltons Das verlorene Paradies, der verkündet: "Böses, sei du mein Gutes!"; oder Jean-Paul Sartres Goetz in dem Stück Der Teufel und der liebe Gott mit seinem prahlerischen "Ich tue das Böse um des Bösen willen". Nun kann man allerdings immer behaupten, dass Menschen, die sich bewusst für das Böse entscheiden, bereits böse sein müssen, um dazu fähig zu sein. Vielleicht wählen sie in gewisser Weise das, was sie schon sind, so wie Sartres Kellner den Kellner spielt. Vielleicht nehmen sie auch gar keine vollkommen neue Identität an, sondern schütteln nur einfach die Moral ab.

Der Polizeibeamte im Mordfall des Kleinkindes versuchte, so scheint es, die liberale Auffassung - alles verstehen heiße alles verzeihen - in Misskredit zu bringen. Sie könnte so verstanden werden, dass Menschen zwar durchaus für ihre Taten einstehen müssen, dass wir aber bei Kenntnis der Umstände geneigt sein könnten, sie nachsichtig zu behandeln. Die Ansicht ließe sich aber auch dahingehend interpretieren, dass wir für unsere Handlungen nicht verantwortlich sind, wenn sie vernunftgemäß erklärt werden können. Das Gegenteil ist richtig: Vernunft und Freiheit sind eng miteinander verknüpft. Für den, der das nicht begreift, wird der Versuch, abscheuliche Taten zu erklären, stets auf das hinterhältige Bestreben hinauslaufen, die Täter ungeschoren davonkommen zu lassen. Dass ich erklären kann, warum ich meine Wochenenden damit verbringe, Dachse frohgemut bei lebendigem Leibe zu kochen, bedeutet nicht unbedingt, dass mein Verhalten entschuldbar ist. Wohl kaum jemand würde auf den Gedanken kommen, Historiker wollten Hitler in einem günstigeren Licht zeigen, wenn sie versuchen, seinen Aufstieg zu erklären. Einige Kommentatoren glauben, wer sich bemühe, die Motive islamischer Selbstmordattentäter zu begreifen, indem er auf die Verzweiflung und Verwüstung im Gazastreifen verweise, spreche sie von ihrer Schuld frei. Doch man kann Menschen, die kleine Kinder in Allahs Namen in die Luft jagen, verurteilen, auch ohne der Überzeugung zu sein, dass sich ihr abscheuliches Verhalten nicht erklären lasse - dass sie andere nur so zum Spaß pulverisierten. Es gibt keinen Anlass für die Annahme, dass eine entsprechende Erklärung ein hinreichender Grund für die Rechtfertigung der Tat sei. Hunger ist ein hinreichender Grund, um das Schaufenster einer Bäckerei um zwei Uhr morgens einzuschlagen, aber er wird im Allgemeinen nicht als hinnehmbarer Grund angesehen, zumindest nicht von der Polizei. Ich will damit übrigens nicht behaupten, dass die Lösung des israelisch-palästinensischen Problems oder irgendeiner anderen Situation, in der sich Muslime heute benachteiligt oder gedemütigt fühlen, zum Verschwinden des islamischen Terrorismus führen würde. Die traurige Wahrheit ist, dass es dafür wahrscheinlich schon zu spät ist. Wie akkumulierendes Kapital entwickelt Terrorismus eine Eigendynamik. Aber es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass ein solcher Terrorismus ohne diese Demütigungen nie entstanden wäre.

Seltsam ist auch die Vermutung, Verstehen müsse zu größerer Toleranz führen. Häufig ist das Gegenteil der Fall. Je mehr wir beispielsweise über die sinnlosen Massaker des Ersten Weltkriegs erfahren, desto ausgeschlossener erscheint uns ihre Rechtfertigung. Erklärungen können moralische Urteile verschärfen oder abmildern. Wenn sich im Übrigen das Böse tatsächlich jeder Erklärung entzieht - wenn es ein unergründliches Rätsel ist -, wie können wir dann genügend darüber in Erfahrung bringen, um die Übeltäter zu verurteilen? Das Wort "böse" dient im Allgemeinen dazu, allen Streit zu beenden: eine Faust in den Solarplexus. Wie der Geschmack, über den sich ja angeblich nicht streiten lässt, ist "böse" ein Begriff, der als Stoppsignal dient - das alle weiteren Fragen zum Schweigen bringt. Entweder sind menschliche Handlungen erklärbar, dann können sie nicht böse sein, oder sie sind böse, dann lässt sich nichts mehr über sie sagen. Diesem Buch liegt die Auffassung zugrunde, dass keiner dieser Standpunkte richtig ist.

Kein westlicher Politiker könnte es sich heute leisten, öffentlich zu erklären, dass den schrecklichen terroristischen Taten möglicherweise rationale Motive zugrunde lägen. "Rational" könnte allzu leicht als "anerkennenswert" übersetzt werden. Und doch ist ein Bankraub keineswegs irrational, obwohl er im Allgemeinen nicht als anerkennenswert gilt. (Selbst wenn Bertolt Brecht meinte: "Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?") Die Irisch-Republikanische Armee verfolgte ungeachtet ihrer entsetzlichen Mittel offensichtlich gut durchdachte politische Zwecke. Trotzdem versuchte man in Teilen der britischen Medien, ihre Mitglieder als Psychopathen hinzustellen. Wenn wir uns davor hüten, diese Ungeheuer zu vermenschlichen, so meinte man offenbar, bleiben ihre Handlungen ohne Sinn und Verstand. Nun sind die Taten dieser Terroristen aber gerade deshalb so entsetzlich, weil sie Menschen sind. Wären sie wirklich Ungeheuer, würde uns ihr Verhalten nicht im Mindesten überraschen. Die Gräueltaten, die sie verüben, wären auf Alpha Centauri vielleicht nur Lappalien.

Der Polizeibeamte hat den Begriff "böse" zweifellos ideologisch verwendet. Wahrscheinlich befürchtete er, man würde die Täter wegen ihres zarten Alters zu nachsichtig beurteilen, und glaubte, deutlich machen zu müssen, dass auch Zehnjährige für ihr Handeln moralisch verantwortlich seien. (Tatsächlich beurteilte die Öffentlichkeit sie alles andere als nachsichtig. Es gibt immer noch Leute, die sie jetzt, da sie aus der Haft entlassen sind, am liebsten umbringen würden.) Insofern lässt sich hier "böse" - genau wie sein Gegenteil "gut" - übersetzen als "verantwortlich für seine Handlungen". Gelegentlich wird angenommen, Gutsein sei frei von sozialer Bedingtheit. Genau diese Auffassung vertrat beispielsweise Immanuel Kant, der bedeutendste Philosoph der Neuzeit. Deshalb bleibt auch Dickens' Oliver Twist unberührt vom Abschaum der Londoner Unterwelt, in die er geworfen wird. Nie verliert er seine untadelige Haltung, moralische Wohlanständigkeit und rätselhafte Fähigkeit, sich trotz seiner Kindheit in einem Arbeitshaus einer hochsprachlichen Ausdrucksweise zu bedienen. (Der Artful Dodger [deutsch oft als "Baldowerer" wiedergegeben] hätte, so dürfen wir vermuten, seinen breiten Cockneydialekt auch gesprochen, wenn er im Windsor Castle erzogen worden wäre.) Doch das liegt nicht etwa daran, dass Oliver ein Heiliger wäre. Wenn er sich als immun gegen den verderblichen Einfluss der Diebe, Totschläger und Prostituierten erweist, dann nicht so sehr deshalb, weil er moralisch überlegen wäre, sondern weil sein Gutsein irgendwie genetisch festgelegt und so resistent gegen die prägenden Einflüsse der Verhältnisse ist wie Sommersprossen oder rotblondes Haar. Doch wenn Oliver gar nicht anders kann, als gut zu sein, verdient er für seine Tugend nicht mehr Bewunderung als für die Größe seiner Ohren. Wenn ihn im Übrigen die Reinheit seines Willens gegen die Böswilligkeit der Unterwelt feit, stellt sich die Frage, ob die Unterwelt tatsächlich so böswillig ist. Würde es einem wirklich niederträchtigen Fagin nicht gelingen, diesen Willen zu verderben? Sorgt die unerschütterliche Tugend des Kindes nicht unabsichtlich dafür, dass der alte Halunke ungeschoren davonkommt? Wir könnten uns auch angesichts Olivers eiserner Tugend fragen, ob wir wirklich ein Gutsein bewundern, das sich keiner Prüfung unterziehen lässt. Die altmodische puritanische Ansicht, die Tugend beweise sich vor allem im entschlossenen Kampf gegen ihre Feinde und müsse sich deshalb in gewissem Maße deren verderblichem Einfluss aussetzen, hat durchaus etwas für sich.

Was die Frage der Verantwortlichkeit anbelangt, haben Kant und rechte Boulevardzeitungen wie die Daily Mail viel gemeinsam. Unter moralischem Blickwinkel vertreten beide die Auffassung, dass wir für das, was wir tun, vollkommen verantwortlich seien. Tatsächlich gilt diese Eigenverantwortung als eigentlicher Kern der Sittlichkeit. Danach ist der Rekurs auf die sozialen Bedingungen lediglich ein Vorwand. Viele Menschen, so erklären Konservative, wüchsen unter trostlosen sozialen Verhältnissen auf und würden trotzdem gesetzestreue Bürger. Das ist etwa genauso logisch wie das Argument, das lautet: Da einige Raucher nicht an Krebs sterben, stirbt niemand, der raucht, an Krebs. Diese Doktrin der absoluten Eigenverantwortung hat zur Überbelegung der Todestrakte in US-amerikanischen Gefängnissen beigetragen. Menschen müssen als völlig autonom betrachtet werden (wörtlich: "sich selbst Gesetz" seiend), weil sie auf Zombies reduziert würden, wenn man dem Einfluss sozialer oder psychologischer Faktoren auf ihr Tun Bedeutung zuschriebe. Während des Kalten Kriegs war das gleichbedeutend mit dem größten Schreckensbild überhaupt: dem Sowjetbürger. Daher müssen Mörder mit dem geistigen Entwicklungsstand von Fünfjährigen oder misshandelte Frauen, die ihren brutalen Ehemännern endlich gewaltsam Einhalt gebieten, genauso schuldig sein wie Goebbels. Lieber ein Monster als eine Maschine.

Es gibt jedoch keinen absoluten Unterschied zwischen Beeinflusstwerden und Freisein. Eine Vielzahl der Einflüsse, denen wir unterliegen, müssen interpretiert werden, damit sie unser Verhalten beeinflussen können; und Interpretation ist eine kreative Angelegenheit. Wir werden weniger von der Vergangenheit geprägt als von der (bewussten oder unbewussten) Interpretation unserer Vergangenheit. Und wir können sie stets auch anders deuten. Abgesehen davon, ähnelt auch jemand, der frei von sozialen Einflüssen ist, einer Nichtperson. Er wäre kein echter Mensch. Wir können nur als freie Akteure handeln, wenn wir von einer Welt geprägt sind, in der dieses Konzept Bedeutung besitzt und die es uns ermöglicht, entsprechend zu agieren. Keine unserer spezifisch menschlichen Verhaltensweisen ist frei in dem Sinne, dass sie von sozialen Bestimmungsfaktoren losgelöst wäre, was auch so spezifisch menschliche Verhaltensweisen einschließt, wie jemandem das Auge auszustechen. Wir wären nicht zu Folter und Massaker fähig, ohne uns eine Fülle sozialer Fertigkeiten angeeignet zu haben. Sogar allein sind wir nicht auf die Weise allein, wie ein Kohleneimer oder die Golden Gate Bridge allein ist. Nur weil wir soziale Tiere sind - fähig, uns mittels der Sprache über unser Innenleben zu verständigen -, können wir überhaupt über Dinge wie Autonomie und Eigenverantwortung reden. Das sind Begriffe, die sich schwerlich auf Insekten anwenden lassen. Verantwortlich zu sein meint nicht Freiheit von sozialen Einflüssen, sondern eine bestimmte Beziehung zu solchen Einflüssen. Das ist mehr, als nur ihre bloße Marionette zu sein. "Monstrum" hatte in der Antike unter anderem die Bedeutung, dass ein Geschöpf von allen anderen völlig unabhängig war.

Menschen können in der Tat ein gewisses Maß an Selbstbestimmung erreichen. Das gelingt ihnen aber nur im Kontext einer tieferen Abhängigkeit von ihresgleichen - einer Abhängigkeit, die sie überhaupt erst zu Menschen macht. Genau das wird, wie wir sehen werden, vom Bösen hintertrieben. Reine Autonomie ist ein Traum des Bösen. Und außerdem der Mythos schlechthin der Mittelschichtgesellschaft. (Was nicht heißen soll, dass die Mittelschichtgesellschaft böse sein muss. Das glauben noch nicht einmal die militantesten Marxisten, unter anderem deshalb, weil sie eher nicht an das Böse glauben.) Im Shakespeare-Drama sind die Personen, die behaupten, von niemand anderem abhängig zu sein und ganz allein über ihr Schicksal zu gebieten, fast immer Schurken. Man kann sich also auf die absolute moralische Autonomie der Menschen berufen, um sie des Bösen zu bezichtigen; damit leistet man aber einem Mythos Vorschub, dem die Bösen selbst gründlich aufgesessen sind.

zu Teil 3