Vorgeblättert

Leseprobe zu Tom Bullough: Die Mechanik des Himmels. Teil 2

23.01.2012.
"Die Sonne, kleiner Vogel", sagte Maria Iwanowna, als sie in der nächsten Nacht beieinander auf dem Gras von Monas­tirskoje lagen, "ist 30-mal größer, als sie dir und mir er­scheint. Die Sonne ist ein großes, mächtiges Wesen, sehr dick und sehr wichtig. Sie hat eine Krone und einen langen Nerzmantel, welcher sogar der ganze Stolz des Zaren wäre. Jeden Morgen schickt der Herr seine Engel herab, um sie für den Tag in goldene Schnallen, eine goldene Jacke und ein goldenes Hemd mit Rüschenkragen zu kleiden. Jeden Abend kehren sie zurück, um sie in ihr Nachthemd und ihre Schlaf­mütze aus Papier zu kleiden und sie bettfertig zu machen. Die Sonne ist so schön und prächtig, dass der Herr bei Nacht seinen Erzengeln Gabriel, Michael und Raphael aufträgt, bei ihr zu bleiben und sie mit ihren Flügeln zu bedecken. Wenn sie dann morgens aufgeht, wird die Sonne von brennenden Phoenixen und Paradiesvögeln flankiert, die zuvor in den Ozean getaucht sind, sodass ihre Federn feucht sind und nicht von ihren Strahlen versengt werden können ?"
     Unter zitternden Augenlidern hervor betrachtete Kostja ein Mädchen, das neben ihnen schlief und ein Lamm in sei­nen Armen hielt. Er blickte durch den Qualm, der aus Hun­derten kleiner Feuer emporstieg und sich zu einer Rauch­fahne über dem niedrigen Dorfhügel verdichtete, dessen Gärten voller Kohl und Gurken waren und wo der Turm der Kirche schwarz vor dem feurigen Himmel hochragte. Er be­trachtete die rote Sonne, wie sie über dem dunklen Wald lauerte. Er spürte die Lippen seiner Mutter warm und weich an seinem Ohr, die Muskeln brannten in seinen Beinen, und er rieb seine nackten, noch immer blutenden Füße im küh­len Gras, denn die Nacht war fast so heiß wie der Tag.
     "Es gibt welche", redete Maria Iwanowna leise weiter, "die den Hahn einen Propheten nennen. Er ist es, der uns weckt, der mit den Flügeln schlägt und der Welt einen neuen Tag ankündigt. Jeden Morgen kräht er dreimal. Einmal, um zu sagen, dass die Sonne wiederauferstehen wird, so, wie un­ser Herr Jesus Christus wiederauferstanden war, so, wie wir alle wiederauferstehen werden am Tag des Herrn, wie der Apostel Paulus es uns verkündet hat. Ein zweites Mal, um unseren Herrn Jesus Christus zu bitten, der Sonne ihren Gang über den Himmel zu gewähren. Ein drittes Mal, um den Gesang anzustimmen, dass Christus das Leben ist, dass Er alles gewährt.
     Und dies ist die Geschichte der Sonne und wie sie ge­schaffen ward vom Herrn. Amen."


Die Menge, die am großen Fluss bei Welikoretski stand, um die Ikone des heiligen Nikolaus zu empfangen, war größer, als Kostja es sich je hätte vorstellen können, und selbst als er sich am Ast einer zweckdienlichen Birke hochzog, konnte er kein Ende dieser Kirche sehen, deren Mauern der Wald und deren Dach die schwarzen Wolken waren. Zwischen den zahllosen Slawen, die auf die schräge Rauchsäule über der Flussbiegung im Süden blickten, entdeckte er auch Finnen, Mari, Wotjaken und Tartaren, Männer mit runden Pelzmüt­zen und mongolischen Gesichtszügen, Frauen mit Kopf­schmuck, in dem lauter Münzen glänzten, Leute, die Heiden waren, Muslime, also überhaupt keine Christen, die aber dennoch hier mit ihren Familien, ihren Kälbern und Schafen standen und beobachteten, wie der Dampfer des Gouver­neurs von Wjatka zwischen den in den Himmel ragenden Kiefern auftauchte, mit schäumenden Schaufelrädern, die weißen Schiffsflanken mit scharlachfarbenen Stoffen dra­piert.
     In seinem Kielwasser folgten alle anderen Schiffe, die auf der Wjatka verkehrten. Da war die Wjatka selbst, das Dop­peldeck zum Bersten voll von Kaufleuten, Beamten, Granden auf Besuch und Adligen, die für den Sommer aus Moskau oder Petersburg zurückgekehrt waren. Da war die Kama. Da waren weiße Segel im unruhigen Sonnenschein, Scharen von langen, ebenmäßigen Rudern, die Dinghis der Ladenbesitzer und die Kähne der Fischer, und noch bevor sie die Quelle und die Birke erreichten, wo die Ikone vor vierhundertfünf­undachtzig Jahren offenbart worden war, stürzten sich viele der Passagiere ins Wasser und kletterten die Böschung hoch, bekreuzigten sich dabei und reckten die Arme gen Himmel.
     Inmitten der brüllenden Tiere und heulenden Pilger er­klommen sie den Hügel zum Welikoretski-Kloster, dessen blaugoldener Glockenturm aus der biblischen Staubwolke emporragte. Schwach hörte Kostja das Läuten der Glocken, die wie verrückt schlugen. Er sah Frauen, die Kopeken anbo­ten und die Namen ihrer Toten den Jungen zuriefen, die auf jedem Grabstein saßen und mit Tinte und Füller Gebete no­tierten. Er erblickte eine Allee aus Krüppeln, die den Weg zum großen weißen Bogen des Klostertors säumten: einen beinlosen Mann auf einem lumpigen kleinen Schlitten mit muskulösen Armen und Händen wie alte Lederschuhe, ein Mädchen ohne Arme und nur mit Händen, die grotesk an ihren Schulterblättern zappelten. Am Tor selbst sah er einen Mann, dessen Gesicht von irgendeiner scheußlichen Krank­heit so zerfressen war, dass sein Kieferknochen und seine geschwärzten Zähne offen lagen, während der Speichel ihm vom Kinn tropfte und einen bleichen Fleck auf der Brust sei­nes langen, schmutzigen Hemdes bildete, und der dennoch mit den Kupfermünzen in seiner Blechdose rasselte.
     Im Hof begann es plötzlich zu hageln. Schweigen legte sich über das Heer von Menschen, das sich in Richtung der Verklärungskathedrale drängte, um zur wundertätigen Ikone zu gelangen, und um den großen scharfkantigen Steinen auszuweichen, bedeckten Kostja und seine Mutter die Köpfe mit ihren Umhängen und überließen sich dem Strom der Menge. Der Hof reduzierte sich auf ein paar Impressionen - zwei unbeschuhte Füße, ein Kalb im Kampf mit seinem Hal­ter, eine hysterische Frau -, und nachdem sich der Sturm so schnell verzogen hatte, wie er gekommen war, fand sich Kostja am Rande einer Lichtung unterhalb der sieben breiten Stufen der Kathedrale wieder, und seine Mutter legte ihrem Arm fest um seine Schultern.
     Mit dem Fleiß von Holzfällern schlachtete eine Gruppe von Männern die Tiere. Ihre langen Haare flogen mit den Bewe­gungen ihrer Köpfe herum. Ihre Leinenhemden waren von einer Patina aus Blut überzogen. In einem nicht abreißenden Strom wurden die Opfer an eine Stelle geführt, wo das Eis schon purpurrot gefärbt war, ihre Hinterbeine wurden ge­packt und zurückgezogen, bis die Vorderbeine gespreizt wa­ren, und selbst in diesem Augenblick blickten sie die Menge interessiert oder verwirrt an, die sich verdrehte, als wäre sie einem Anfall ausgesetzt, oder streckten sich vielleicht noch nach einem Grashalm aus, der aus dem blutigen Schmeematsch spross. Manchmal durchtrennte die Axt die Luft­röhre eines Tieres nicht sauber, und sein Kopf schlenkerte wild an den blutspritzenden Fetzen der Kehle. War der Hals einmal durchtrennt, zappelten und bewegten sich Körper und Kopf noch eine Minute lang oder länger, sodass die Lei­ber von Lämmern, Schafen und Kälbern auf einem mons­trösen Haufen den Anschein erweckten, als versuchten sie wegzulaufen, während ihre glotzenden, blutgetränkten Häupter auf einem anderen Haufen mit den Kiefern zu mah­len schienen, und weil Kostja die Schwäche hatte, Tiere hören zu können, schrien sie für seine Ohren in einem teuf­lischen Chor.


Oktober 1869

In der düsteren Morgendämmerung wehte der Herbstwind die Kopanskaja-Straße hinunter und zwischen den Wällen der noch dunklen Häuser hindurch. An den Linden und den brutzelnden Gaslampen zerbarst er, und Kostja und Ignat hielten ihre Mützen fest, als sie sich den drei Jungen aus ih­rer Klasse am Gymnasium anschlossen, die sich in der kaput­ten Tür der Südkapelle der Vladimirskaja-Kirche zusammen­drängten und in das schwarze Interieur spähten.
     "Na, toll!", sagte Tomasz sarkastisch. Er hielt Kostja seinen Mund ans Ohr. "Das hat uns noch gefehlt! Ein verdammtes Mädchen!"
     "Ich, ein Mädchen, ja?", gab Kostja zurück. "Wenigstens habe ich keine Brüste!"
     "Wenn du Probleme machst ? Wenn du irgendwelche Probleme machst, ich schwöre bei Gott! Wir haben gesagt, wir klettern hoch, bis wir in den Gefängnishof sehen kön­nen, und dabei bleibt?s. Verstanden? Du folgst mir einfach und tust, was ich sage!"
     Die fünf schlichen unter den gewölbten Pfeilern der Ka­pelle entlang, durch Wasserlachen, die, in Bewegung ver­setzt, lange graue Bögen auf den Boden warfen. Sie durch­querten das höhlenartige Hauptschiff, wo die Zweige von Dohlennestern unter ihren Füßen zerbrachen und der Wind von den großen leeren Fenstern her die Spinnweben an den Kronleuchtern in Aufruhr versetzte. An einer hohen, mit Kalk bestrichenen Mauer erkannte Kostja ein Bild von Gott auf Seinem goldenen Thron, der zu Seiner Rechten und zu Seiner Linken deutete. Vage erkannte er Menschen, Hun­derte von ihnen, nackt und flehend, und er war nicht der Einzige, der im Luftzug am Fuß des Turms mit dem Weiter­gehen zögerte.
     Die Stufen wanden sich in Spiralen in absolute Dunkelheit hinauf. Zweimal prallte Kostja mit seinem Cousin zusammen. Einmal wurde er so gewaltsam zurückgestoßen, dass nur das kaputte Geländer ihn vor dem Sturz bewahrte. Mit blinden Fingern fühlte er die Windströme auf der dunklen, geboge­nen Wand. Er kletterte weiter, bis er die Stufen nicht mehr zählen konnte, und als sie schließlich in der unteren Glo­ckenkammer auftauchten, war er über ihre Höhe erstaunt und über die Stärke des Windes und über den blutroten Himmel hinter den tröpfchenförmigen Kuppeln des Trifo­now-Klosters.
     Die fünf Jungen drängten sich in die östliche Öffnung und blickten dann auf die schwankenden Bäume der Zasorni-Schlucht, auf die rot gefärbten Wände des Gymnasiums und das Stückchen Garten hinab, das hinter dem blitzenden Glas auf der Mauer des Stadtgefängnisses gerade noch sichtbar war. Im Halbdunkel konnte Kostja kaum mehr als ein gele­gentliches Wort verstehen, aber er lächelte, wenn die ande­ren lächelten, imitierte ihre Mienen, stellte sich wie sie auf die Zehenspitzen, um mehr zu sehen, und als Tomasz sich umwandte, um die letzten Stufen zu nehmen, die zur oberen Kammer führten, folgte er ihm sofort.
     Langsam begannen die restlichen Viertel der kleinen Stadt Form anzunehmen. Die Baumwipfel passten sich der Farbe des Himmels an. Die Häuser im Westen ließen die Schrägen ihrer Holz- und Eisendächer erkennen, die Schatten der Fenster und Türen, den spärlichen Rauch, der von ihren Schornsteinen weggeweht wurde. Kostja spähte an den an­deren Jungen vorbei und suchte nach irgendeinem Hinweis auf einen Galgen in diesem größeren Stück des Gefängnis­hofs, aber er konnte noch immer nichts sehen, weshalb er sich zwischen den zitternden Setzlingen hindurchschob, die aus den verrotteten Bodenplanken sprossen, unter den ver­hedderten Glockenseilen hindurchtauchte und sich an der Glocke vorbei auf den westlichen Sims quetschte, wo eine Reihe rostiger, drahtdünner Sprossen über die Dachtraufe bis zur Spitze des Turms hochreichte.
     Fünf Stockwerke unter ihnen warfen die Straßenlaternen Lichtkreise in den Matsch der Kopanskaja-Straße.
     "Los jetzt!", rief er. "In einer Minute geht die Sonne auf!"
     "Kostja!"Ignat eilte zu ihm. "Jetzt komm, Kostja, sei nicht dumm!"
     "Dumm? Was meinst du? Willst du die Hinrichtung sehen, oder nicht?"
     "Kostja, da klettern sie nicht einmal zu Ostern hoch!"
     Die anderen Jungen versammelten sich um ihn, und ihre Worte wurden mit dem Tageslicht für ihn erkennbar.
     "Kostja, komm! Wir müssen weg!"
     "Kostja, man wird dich erwischen!"
     "Also, du Angeber!"Tomasz drängelte sich um die Glocke herum, sein fettes Gesicht glänzte wutentbrannt zwischen seiner Pelzmütze und seinem Pelzkragen. "Ich habe dich ge­warnt! Habe ich dich nicht gewarnt?"
     "Wer ist jetzt das Mädchen?", sagte Kostja und lachte.
     "Komm her, und ich werd dir zeigen, wer das Mädchen ist!"
     "Du bist zu dick dafür, was?"
     "Guck, du blonder Krüppel!"Sein Cousin schrie jetzt. "Alle hassen Angeber, und alle hassen dich! Der einzige Grund, warum wir dich ertragen, ist, weil du taub bist! Du hast sowieso nicht den Mumm, da hochzuklettern, also komm einfach runter jetzt, bevor du uns allen großen Ärger bereitest!"
     Kostja wusste kaum, wie er auf die Spitze des Turms ge­langt war. Eine Empfindung überkam ihn, wie er sie noch nie in seinem Leben gehabt hatte. Es war wie der Moment im Frühling, wenn das Eis auf dem Fluss brach, wenn die Risse lang und gezackt zwischen der Böschung und dem Wasser verliefen, das den ganzen Winter kalt und gefügig unter der Oberfläche geruht hatte und nun in die wartende Luft hoch­kochte. Plötzlich sah er das ganze Wjatka, sah das Rund des Waldes, die Finger der Kirchtürme aus dem Sonnenaufgang herausgeschnitten. Er heulte mit dem Sturm, trat mit seinen weichen Filzstiefeln gegen die Brüstung, bis ein Stück, so groß wie er selbst, ohne einen weiteren Laut einfach weg­brach. Wie eine Baumspitze schwankte der Turm von der einen zur anderen Seite. Er taumelte, fiel fast, ergriff dann das vergoldete Kreuz und versuchte, es aus seiner Veranke­rung zu reißen, und während der letzte Stern sich vom Mor­genhimmel stahl, zürnte er den Jungen in der Glockenkam­mer, und er zürnte der erbärmlichen Stadt, und er zürnte der Erde selbst, hier an ihre Oberfläche gepinnt, elend wie ein Wurm.

zu Teil 3
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