Vorgeblättert

Leseprobe zu Valeria Luiselli: Falsche Papiere. Teil 1

09.01.2014.
VI

PARADIES IM BAU


MÄNNER BEI DER ARBEIT

Wäre der Schädel das, nach was er aussieht - ein halbrundes Gefäß, eine Höhlung, ein Speicher -, dann wäre Lernen eine Methode, leeren Raum zu füllen. Es geschieht jedoch etwas anderes. Man könnte sich durchaus vorstellen, dass jeder neue Eindruck ein weiteres Loch gräbt, die unförmige Materie ein wenig mehr verletzt, uns ein bisschen weiter leert. Geboren wurden wir angefüllt mit etwas - grauer Materie, Wasser, mit uns selbst -, und in uns allen findet Augenblick für Augenblick die langsame Alchimie der Erosion statt. Wir tragen auf dem Hals eine in Bildung begriffene Kaverne, Stücke, die Stückwerk sein werden.

Dort unten, im Hof des Gebäudes, steht ein Mann, der mit seinem Hammer rhythmisch auf einen Meißel klopft. Er ist schon mehrere Stunden bei der Arbeit. Um acht Uhr morgens ging ich hinunter, um zu fragen, was er da täte, und, als ginge es um Offensichtliches, antwortete er: Wir arbeiten. Ich unterließ es, die nächste Frage - die mich eigentlich beunruhigte - zu stellen und ging wieder ins Haus. Ich brauchte einige Minuten unter dem Strahl der Dusche, um mir klarzumachen, dass der Boden des Gemeinschaftshofs, den wir auf dem Weg zur Straße so oft betreten hatten, nicht mehr da sein würde, wenn ich heute die Tür meiner Wohnung öffnete.

Noch habe ich nicht wieder in den Hof schauen wollen. Ich frage mich, wie wir hier rauskommen sollen, ob der Mann vielleicht einen Steg aus Brettern improvisieren oder uns wenigstens die Hand reichen würde, um uns hinüberzuhelfen, ob das Loch unter dem verschwundenen Boden tief sein würde; ob es immer bestehen bliebe, oder ob die Regenzeit unser Gebäude in eine Insel aus blauem Beton, umgeben von grauem Wasser, verwandeln würde.

Das Hämmern im Steinbruch lässt nicht nach, und indes die Gefahr eines Abgrunds in diesem Hof steigt, wird an irgendeinem anderen Ort der Stadt ein Bürgersteig aufgeklopft, in einem anderen eine Mauer niedergerissen, und in dem kleinen, runden Kopf eines Kindes, der leicht an der Scheibe eines U-Bahn-Waggons lehnt, öffnet sich der Spalt eines Gedankens, der Haarriss eines neuen Wortes.

BRÜCKE IN AUSBESSERUNG

»Mama« stellt ein zartes Band zur nicht mehr disponiblen Brust dar; »Hand« gibt uns ein leichtes Kribbeln in der verlorenen Extremität zurück; und »ich« ist das Echo meiner Grimasse auf der anderen Seite des Spiegels. In der Kindheit vor der Kindheit, wenn der Schatten der Syntax noch nicht den Glanz der Welt überlagert hat, reicht das Schnurren der »R«s und das Murmeln der »M«s, um alles zu sagen. Ein Kind sagt, bevor es Sprechen lernt, die Welt - sagt sich selbst - mit dem Zeigefinger und mit Gebrabbel. Eines Tages aber paart sich das einlullende »M« mit dem »A« und verdoppelt sich - »Mama«. Dann zerbricht etwas. In dem Augenblick, in dem wir den Namen von diesem Bund, dem ersten und innigsten, aussprechen, zerbricht endgültig eine Verbindung mit der Welt.

Fast alle kennen wir die Anekdote unseres ersten »Mama« (und wir wissen, dass das Interesse des Zuhörenden umgekehrt proportional zur Rührung der Person ist, die sie erzählt), aber ich schätze, dass nur sehr wenige sich an die ersten zittrigen Versuche mit der eigenen Zunge erinnern. Manche haben die Erfahrung dieses ersten Lernprozesses mit der Ekstase eines Demiurgen verglichen, der ein Universum erschafft, indem er es benennt. Die Kinder, könnte man denken, sind die Poeten des Esperanto: Ihre Worte existieren in einer perfekten Entsprechung zur Welt.

Als Anhänger des Mythos von Adams Paradies möchten wir gerne glauben, dass die Namen der Dinge genau und notwendig sind, dass im Kern jeden Dings ein Wort ist, und dass dieses Wort auszusprechen, dem Enthüllen - oder sogar Erfinden - der Essenz des Objekts gleichkommt; dass der Sprechakt dem fiat des Schöpfers entspricht. Vielleicht ist etwas Wahres dran, tatsächlich ist aber der Prozess, eine erste Sprache zu erwerben, so wenig dem Willen unterworfen wie der Verlust des Sprachvermögens oder das Stottern. Eine Sprache zu erlernen, ist weniger eine Reminiszenz des Paradieses als eine erste Verbannung, ein unfreiwilliges und stummes Exil ins Innere des Nichts, das im Herzen alles dessen nistet, was wir benennen. »

Jedes Ding ist ein Raum, jenseits dessen es nichts geben kann«, schrieb Joseph Brodsky; und jedes Wort produziert ein Schweigen, jenseits dessen es keinen Ton geben kann. Die Namen sind der Handschuh, der die Prothese bedeckt, die Umhüllung einer Abwesenheit. Ein Kind, das ein neues Wort lernt, erwirbt eine Brücke zur Welt, aber nur als Ausgleich für den Abgrund, der sich in seinem Inneren in eben dem Augenblick öffnet, da das Wort sich dort einprägt. Sprechen lernen bedeutet, sich nach und nach darüber klar zu werden, dass wir über nichts irgendetwas sagen können.

WEICHEN SIE AUF ANDERE STRASSEN AUS

Louis Wolfson, der US-Amerikaner der Le Schizo et les langues schrieb, erträgt die englische Sprache nicht: Er hat sie nicht erwählt. Sein einziger Wunsch ist es, die Sprache zu vergessen, die ihm in die Ohren eingetrichtert worden ist wie die zähflüssige Milch aus der mütterlichen Brust in seine frisch geborene Kehle. Tyrannisiert von einer fettleibigen, dreisten Mutter und erstickt von einer Muttersprache, die er verachtet, verbringt er die Stunden in seinem Schlafzimmer. Wolfson bezeichnet sich selbst als »schizophrenen Sprachschüler«. Tief über sich selbst und seinen Schreibtisch gebeugt lernt er Deutsch, Französisch, Hebräisch und Russisch. Er hört ausländische Sender in einem kleinen Transistorradio; er schaut dicke Wörterbücher durch, jederzeit bereit, sich die Finger in die Ohren zu stecken, für den Fall, dass seine Mutter erneut durch die unverschließbare Tür hereinbrechen sollte, um irgendeinen Satz in der verachtungswürdigen Sprache einzuwerfen. Das von Deleuze zitierte Beispiel: Don't trip over the wire.

Da es nicht möglich ist, die Ohren hermetisch vor der kreischenden Stimme der fetten Mutter zu verschließen, probiert Wolfson eine neue Methode aus. Tag für Tag übt er einen Mechanismus des Simultandolmetschens ein, bei dem die englischen Wörter in ähnliche Phoneme anderer Sprachen umgewandelt werden. Don't verwandelt sich in tu'nicht; trip in treb (von dem französischen trébucher); over in über; the in èth (hebräisch) und wire in Zwirn: Tu nicht tréb über èth Hé Zwirn.

Es reicht nicht, nur die Bedeutung eines Satzes in die andere Sprache zu übersetzen. Um die Muttersprache zu zerstören, muss man bis ins Herz der Wörter vordringen und dort eine andere Musik einpflanzen.

VORSICHT STUFEN

Mit diesem verzweifelten Impuls, der uns zu den Seiten gelesener Bücher zurückführt, wenn wir selbst gerade keine Zeile zustande bekommen, schlage ich meine französische Ausgabe von À la recherche du temps perdu auf. Zum ersten Mal öffnete ich dieses Buch in der Bibliothek des Centre Pompidou, das ist ein paar Jahre her. Ich war davon überzeugt, dass man Französisch nur von den Schriftstellern dieser Sprache lernen könne; dass es nichts ausmache, wenn man zunächst nichts verstand, die Sprache würde sich schon nach und nach ins Bewusstsein schleichen, dazu war nur viel Eigensinn, ein Notizheft vonnöten und der Petit Robert - nie ein zweisprachiges Wörterbuch -, um die Wörter nachzuschlagen, die auch nach intensiven Bemühungen unergründlich blieben.

Ich verstand kaum Französisch, saß stundenlang vor einem Absatz und versuchte die möglichen Bedeutungen von bougie, quatour, écailles zu erraten - Wörter, die ich heute in dem Buch unterstrichen sehe. Die écailles waren sicherlich die Treppen (span. escaleras); dann müsste also »pesait comme des écailles sur mes yeux« heißen: »lasteten wie Treppen auf meinen Augen«, und nicht, wie ich später erfuhr »lasteten wie Schuppen (span. escamas) auf meinen Augen«. Es gibt Wörter, die eindämmen, und solche, die über die Ufer treten. Das ausländische Wort, das wir nicht kennen und dessen Sinn wir knapp erahnen, ergießt seinen möglichen Inhalt.

Ich lese ein paar Absätze der Recherche erneut und mit einer gewissen Trauer, bin ich mir doch dessen bewusst, dass eine erlernte Sprache niemals eine Treppe, sondern immer eine schwere Schuppe auf den Lippen sein wird. Ich weiß, dass das Gerundium en train de für mich niemals wieder als Zug (span. tren) gewisse gelesene oder gehörte Aussagen durchqueren wird, weil dieser Zug sich irgendwann und ein für alle mal in eine Zeit des Verbs verwandelt hat.

Leseprobe Teil 2