Vorgeblättert

Leseprobe zu Valerie Fritsch: Winters Garten. Teil 2

04.03.2015.
Hinterm Haus jenseits des Gartens begann ein Wald, vollgestopft mit grünem Farn, Märchenwiesen und Geistern, die die Kinder lockten. Im Frühling lutschten sie an den Trieben der Lärchen am Waldrand und kauten auf den weichen grünen Wipfeln, bis die Mundhöhle so frisch war, als hätten sie sich gerade erst die Zähne geputzt. Sie saßen auf den Hochsitzen über den Lichtungen und schossen mit Tannenzapfen auf die vorüberziehenden Wolken und auf jene, die davonliefen, bevor es dunkel wurde. Alles was Anton Winter über den Wald und das Holz, das in ihm schlief, wusste, lernte er von seinem Vater, der ihm ansonsten nicht vieles beibrachte und den er selten sah. Auf seine Spaziergänge und Streifzüge durchs Gehölz jedoch nahm der bärtige Mann die zwei Buben gerne mit und erklärte ihnen die geheimnisvolle Pflanzenwelt und jene der Hölzer. Er lehrte sie die Namen der Bäume, machte sie bekannt mit den einsamen Gesichtern der hageren Männer auf der Jagd, die alleine vor ihren Hütten inmitten des Waldes standen und Kaffee aus Blechbechern tranken, und dem ernsten Blick eines Tieres, bevor es starb. Der Vater war Analphabet mit Händen so groß, dass er die kleineren Bücher des Hauses kaum zu halten vermochte, aber er baute Instrumente, die klangen wie Wind im Gras. Der Vater war Geigenbauer in dritter Generation und sah, wenn er durch den Wald ging, in jedem Baum ein Instrument, das aus dem Holz erwachen konnte. Für ihn schliefen in den Fichten und in jedem Ahorn die Geigen, die er noch nicht gebaut hatte, und ihm war, als wären sie bereits in die Stämme eingelegt und er müsse sie nur herausheben aus dieser Wiege, wie er es einst mit seinen Kindern getan hatte. Vor seinen Augen standen die Bäume in stiller Rivalität. Er liebte die geraden Stämme und unterschied streng jene Gewächse, die schnell in die Höhe schossen, von jenen, die viele Jahre brauchten, um groß zu werden. Je langsamer die Bäume wuchsen, desto enger saßen die Jahresringe aneinander und wurden so zu Klangholz, das dicht genug war, um die Töne, mit denen sich die Resonanzkörper füllten, zu tragen. Zwischen Holz und Mensch wirkte ein magischer Kreislauf. Es schien, als könne jederzeit das eine auch zum anderen werden. Nichts musste bleiben, was es war. Alles war formbar, auch in seiner Funktion. Der Kern der Welt schien ein nucleus movens zu sein, der sich einmal in der einen und dann in einer anderen Schale versteckte. Anton schauderte. Für das Kind war es ein Zauber. Erst standen die Bäume stramm wie Männer im Wald, und nachdem man sie in mondlosen Nächten geschlagen hatte, modellierte der Geigenbauer ihnen neue Leiber, er machte sie zu Violinen und schenkte ihnen die Taille der Frauen, als würde er Holzpuppen erschaffen. Erst fällte er sie, und dann gab er ihnen ein neues Leben und einen flüchtigen Atem. In der Musik hatte er eine Liebe gefunden, die ihm in Erinnerung blieb, weil sie sich ihm Mal um Mal entzog und niemals blieb. Ob es seine einzige war oder er auf seine Art und Weise auch Mensch und Tier, seine Frau und seine Kinder liebte, dessen war sich Anton zeitlebens nicht sicher, und er fand es nie heraus. Zu Hause verschwand er nach den Spaziergängen in seiner Werkstatt und strich nachdenklich über die Körper der Instrumente an der Wand, so zart, als wären sie eine Frau. Wenn er abends zum Essen in den Garten oder ins Haupthaus kam, roch er nach Kolophonium, und hin und wieder lieh er das Pech, das die Geigenbögen klebrig macht, den Nachbarn aus, die damit die toten Schweine nach dem Schlachten enthaarten. Er glich einem Kinderschreck, vor dem man sich gern ein bisschen gefürchtet hätte, wenn er es nur zugelassen hätte. Niemand durfte die Werkstatt betreten, und keines seiner Kinder sah je, wie er eine Geige baute. Die fertigen Instrumente tauchten irgendwann unversehens im Wohnzimmer auf, wo sie erst probegespielt und dann in Violinkoffer verpackt wurden, die man am nächsten Tag mit in die Stadt nahm. Vieles, was der Geigenbauer tat, trennte ihn von seiner Familie, und so war Anton den Großeltern weit zugetaner und näher, als er es dem eigenen Vater war.
     Die Großeltern lehrten Anton alles, was das Kind, das lächelnd keinen Unterschied machte zwischen tot und lebendig und seine Zeit gerne vor den versteinerten Fehlgeburten in der Speisekammer absaß, in sich aufnehmen wollte. Abgesehen von der Kräuterkunde und einem basalen Apothekerwissen brachten sie ihm bei, wie man Hühner züchtete und mit den ewig flatternden Vögeln umging. Anton war ein schmales Kind mit großen Händen, und die Großeltern füllten ihm morgens beim Eiersammeln hinterm Haus die Eier in die Handteller wie in eine Schüssel. Sie zogen die noch warmen Eier aus den Nischen oder den Hühnern mit spitzen Fingern aus dem After und streiften zwischen den schlagenden Flügeln durch die Stallungen, bis sie mehr gefunden hatten, als sie tragen konnten. Der Großvater erzählte während der Suche gerne aus dem Krieg, von seinen Soldaten- und Hungerjahren, durchleuchtete die Eier der Bruthennen mit einer Stabtaschenlampe und entfernte jene, in denen schwarze Schatten an die Schale drangen. Anton Winter stand in Bergen aus Stroh und hielt die Eier hoch mit vor Beflissenheit zitternden Fingerspitzen. Das Durchleuchten war ein Schattentheater, das die Zukunft voraussagte. In den befruchteten Eiern zeigten sich helle Spinnennetze aus Adern, in den leeren aber ein geschlossener Hexenring, der einsam im Klar trieb. Erst sah man im Schein der Lampe ein Maschenwerk aus Blutgefäßen, und später, bevor die Küken schlüpften, waren die Eier mit einer kleinen Luftblase und einer großen Dunkelheit befüllt, die schließlich als Vögelchen ans Licht drängte. Das Kind stand mit roten Wangen und Federn an den Händen vor den Nestern und schaute mit weit aufgerissenen Augen. Wie fremd und planetoid die Eier am Boden lagen. Wie sie kosmisch tickten. Wie die Löcher aus dem Inneren heraus entstanden und zu Rissen wurden. Wie die ungeborenen Vögel in den Eiern schaukelten, bis sie erschöpft in ihren zerbrochenen Schalen lagen und sich kaum regten. Die Verwunderung, die ihn damals erfasste, ließ niemals nach, auch nicht, als Anton Winter längst fortgegangen war in die Stadt und dort auf der Dachterrasse eines Hochhauses exotische Vögel für die Sammler und die Verrückten züchtete.

zu Teil 3

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