Vorgeblättert

Leseprobe zu Viktor Jerofejew: Die Akimuden. Teil 2

05.08.2013.
Tanjka geniert sich für ihren Vater. Die Zeit ist vorbei, als sowjetische Offiziere andauernd voreinander sorgenvoll salutierten, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Man sah sie auf Schritt und Tritt, so dass man meinen konnte, Moskau sei eine Militärstadt und Leute in Zivil seien nur Gäste der Metropole. Heute sind die Offiziere unsichtbar und salutieren nicht mehr, und wenn man welchen begegnet, dann sind das vollkommen andere Menschen: Sie bewegen sich unauffällig und auf leisen Sohlen, als hätten sie irgendeinen Krieg verloren …
"Pappnase!", ruft Tanjka ihrem Vater hinterher.
Die Mädels wiehern erneut.
"Gut, dass mein Alter schon tot ist", meint die Unsrige und zappelt mit den Beinen. "Der war auch Offizier!"
Und wieder Gelächter … Jetzt werden sie um die Häuser ziehen und Jungs verachten. Sie übertreiben gern und werden nicht müde, einander vorzujammern, in Moskau hätten alle Mädchen irgendeine Krankheit, ein gesundes könne man lange suchen, alle hätten oben Flausen oder unten Filzläuse. Und dann flennen sie lange. Und sie prügeln sich sogar ein bisschen.
Doch dann ist Sonntag, und sie putzen sich heraus, verlassen ihren fünfstöckigen Plattenbau und fahren den weiten Weg von Mitino oder Süd-Butowo oder gar Mytischtschi, um in der Innenstadt an den Tschistye Prudy einen Cappuccino zu trinken. Tanjka, die Brünette, erscheint mit Armani-Sonnenbrille und Swetka in Netzstrümpfen, und die Unsrige schwebt per Vorortbahn auf einer Wolke romantischer Träume herbei.
Da stolzieren sie auf ihren appetitlichen Beinen daher. Die ganze Zeit sind sie um ihre Frisur besorgt, die vom rauen Moskauer Wind gezaust wird. Sie tragen ein besonders ausgefuchstes Lächeln im Gesicht, als wüssten sie schon, was ihnen heute Abend passieren wird. Ihre Körper sind angespannt wie Flitzebogen, und sie sind bereit, sich selbst als Pfeil abzuschießen. Das Einzige, was ihnen fehlt, ist christliche Demut, alles Übrige tragen sie in sich und bei sich. Aber einem Priester werden sie ja noch begegnen …
Die Zeit vergeht, Tanjka, Swetka und die Unsrige werden zu Moskauer Großmüttern. Irgendwie unbemerkt und viel zu rasch haben sie ihr Leben gelebt und verwandeln sich im Alter in unsterbliche Gestalten, die ihre Ehemänner und alle russischen Regenten überdauert haben. In dieser Unsterblichkeit sind sie vor allem beschäftigt mit Gesprächen über die Nutzlosigkeit der Jugendzeit und gottgefälliges Auftreten. Im Gehen, leicht humpelnd, blicken sie sich ständig um, als ob ihnen jemand folgte, und wenn sie mit einem sprechen, dann schauen sie einem aufmerksam in die Augen, als witterten sie Ungutes.
Moskau ist nicht nur allen anderen Städten der Welt unähnlich, es ist auch sich selbst unähnlich. Je länger ich in Moskau lebe, desto weniger verstehe ich es. Sein Anschein wird zu seinem Wesen.
Dafür stehen überall Polypen, wohin das Auge blickt, sie beschützen Moskau vor Terroristen und haben ein scharfes Auge auf die Unsrige, auf unser Goldköpfchen, die Venus von Mytischtschi, mit ihren rasierten Achselhöhlen und ihrem Minirock - diesen Spitznamen haben die Mädels Katja gegeben.
Aufgewacht ist die Venus von Mytischtschi am Morgen in ihrem zerrissenen Nachthemd, das sie irgendwie nicht geflickt kriegt. Durch die Risse sieht man den roten Stringtanga - den zieht sie niemals aus, wenn sie schläft, denn sie hat Angst, in Mytischtschi ohne Slip zu schlafen. Katjka hat ein Foto von Mischa Chodorkowski, in den sie heimlich verliebt ist, unter ihrem Kopfkissen hervorgezogen und den Gefangenen des Gewissens innig geküsst. Früher lag Che Guevara unter dem Kissen, den sie "meinen stummen Helden" nannte. Aber Che Guevara ist mit der Zeit zerknittert und überhaupt öde geworden. Sie hat Chodorkowski noch einmal geküsst und ist dann aus dem Haus geeilt, um Brot zu kaufen.
Aber schon am Montag darauf begleiten Tanjka und Swetka die Unsrige zur Sparkasse, und sie wird, wie die beiden anderen, Bankangestellte in grüner Uniform mit weißem Krägelchen, und eines Tages kommt ein Kunde hereinspaziert und fragt:
"Haben wir jetzt Oktober oder November?"



In dem Jahr, als die Akimuden Krieg nach Russland brachten, herrschte wieder ein heißer Sommer, die Wälder brannten. Das russische Klima war müde. Unser Klima war nicht mehr wie früher. Das Wetter verwöhnte uns mit Katastrophen. Mal ging alles in Flammen auf, mal erstarrte alles zu Eis. Ein Eisregen verwandelte kurz vor Silvester unsere Wälder in tropischen Windbruch von polarer Schönheit. Besonders die jungen Birken mit ihren zarten Ästen und dem weiblichen Leib waren betroffen. Der Eisregen zog sie nach unten. Auch die Fliederbüsche in den Gärten fielen dem Frost zum Opfer. In der Wintersonne spielt der Wind mit dem Silber der Zweige wie mit dem offenen Haar amerikanischer Zeichentrickfeen. Gebt uns ein Märchen! Aber wir haben andere Sorgen. Fährt man durch die Landschaft vor Moskau, sieht man die Birken bis zum Boden geneigt stehen wie Torbögen. Schönheit der Folter. Kommt der Sommer, beginnt eine neue Heimsuchung. Übrigens war diesmal das Klima nicht schuld.
Die russischen Bürger erwarteten einen Angriff aus der Luft. Zur Mittagsstunde heulten die Sirenen. Die Moskauer tauchten nur langsam und laut fluchend in die Metro ab. Doch der Schlag kam aus der Erde. Die Erstürmung begann im Zentrum von Moskau, in meiner seit Kindertagen geliebten Metrostation "Majakowskaja". Ich kann nicht behaupten, dass ich aus purem Zufall dort war. Meine Mutter wohnte in einem Haus in der Nähe des Tschaikowski-Konzertsaals. Dieses Fleckchen Moskau ist meine "kleine Heimat", der Ort, wo ich aufgewachsen bin. Als über der Stadt die Sirenen losgingen, zuerst als Dauerton und dann als an- und abschwellender Heulton, und als Schwärme schwarzer Vögel den Himmel verdunkelten, flehte sie mich an, ich solle mich in der Metro verkriechen.
Mutter lief auf zwei Stöcke gestützt durch die Wohnung, den 90-jährigen Kopf mit der betont eleganten Frisur wiegend, nach vorn geneigt unter der Last des krummen Rückens, und bestand hartnäckig darauf, dass ich gehen sollte. Ich wollte Mutter in ihrer fliederfarbenen Bluse mit dem Umlegekrägelchen mitnehmen, sie auf den Armen wegtragen (obwohl ich sie noch nie auf die Arme genommen hatte), sie war im letzten Jahr stark abgemagert, nachdem sie eine qualvolle Lungenentzündung überstanden hatte, aber sie sagte, sie sei zu alt, um sich vor Flugzeugen zu verstecken. Ich protestierte, wollte sie nicht verlassen, versuchte sie mit Gesprächen abzulenken, von Zeit zu Zeit beunruhigt aus dem Fenster blickend, bis sie in der für sie typischen Art aufbrauste, mit den klugen, vom Sehen müden Augen funkelte und mich zornig anschrie:
"Nun geh schon! Geh endlich!"
Ich trat auf sie zu, verstand nicht, was ihren Aufschrei hervorgerufen hatte, Altersgereiztheit oder die unerwartete Sorge um mich. Enkelin eines Nowgoroder Geistlichen, der sich vor den Bolschewiki in entlegenen Dörfern versteckt hatte, um seine Familie nicht durch sein Amt zu gefährden, alte Atheistin, verweigerte sie die Rettung und überließ sich der Willkür des Schicksals.
Aber war ich der Rettung würdig? Über viele Jahre verdächtigte Mutter mich einer gewissen Perfidie. In ihrer Vorstellung war ich moralisch total verkommen. Ich ging Kompromisse mit Lumpen ein, baute Häuser auf der Krim und trieb schamlos Unzucht. Ich versuchte, gegen dieses perfide Bild anzukämpfen, ich kroch zu Kreuze, schrie, rechtfertigte mich, knallte den Hörer auf - alles ohne Erfolg. Dieses Bild von mir steckte in ihrem Unterbewusstsein, und ich hatte nicht die Kraft, es da herauszureißen. An der Oberfläche war alles sehr viel kleinlicher. Ihr gefiel nicht, wie ich mich anzog und welchen Haarschnitt ich trug. Meine Geschenke lehnte sie demonstrativ ab, verschenkte sie weiter an die Haushaltshilfen oder gab sie mir empört zurück, da sie sie zu billig fand. Bedenkt man, dass meine Mutter eine belesene Frau war, die die Impressionisten liebte, sich mit dem diplomatischen Protokoll auskannte, Gattin eines sowjetischen Botschafters, die lange in Frankreich gelebt hatte, so grenzte das alles an Irrsinn. Mein jüngerer Bruder versuchte, das Missverständnis damit zu erklären, dass Mama in der Position einer Botschaftergattin daran gewöhnt war, das Kommando zu führen, und in dieser Rolle aufging.
Ich weiß nicht. Darf man seine Mutter einer Analyse unterziehen? Manchmal hielten Mama und ich inne und versuchten ächzend aus diesem Loch herauszukommen, sie rief mich an, nannte mich mit Kosenamen, fragte mich nach meinen Angelegenheiten, wir tauschten kulturelle Neuigkeiten aus. Wir gaben uns Mühe, uns auf dem Niveau einer aufgeklärten Vorstellung von den Beziehungen zwischen einer liebenden Mutter und einem liebenden Sohn zu bewegen, aber unausweichlich landeten wir wieder in einer Kloake. Als ich vor Weihnachten die Venus von Mytischtschi mitbrachte und sie ihr vorstellte, sagte Mutter spitz lächelnd:
"Wozu brauchen Sie diesen schlechten Menschen?"
Und Vater oder besser das, was von ihm übrig war, fragte Katja mit besorgtem Gesichtsausdruck:
"Ist es kalt dort?"
Und eine Minute später wieder:
"Ist es kalt dort?"
Und noch einmal, und wieder:
"Ist es kalt dort?"
"Wozu brauchen Sie diesen schlechten Menschen?"
Ich sagte mir: Lass sie reden.
"Ist es kalt dort?"
Ich dachte: Hier ist das beschämende Geheimnis meines Lebens begraben, Mutter hat mir verweigert zu existieren.
Unter dem Heulen der Sirenen beugte ich mich zu ihr hinunter, um sie zu küssen, doch ihre dürre Hand mit den großen Pigmentflecken wehrte mich irgendwie unwirsch ab, sie drehte sich weg, als wolle sie sich verstecken, und ich küsste schließlich die Luft der Wohnung, die nach meiner Kindheit und nach Verwelken roch.
Ich begab mich aus dem sechsten Stock des Stalinbaus nach unten, trat auf den Hof, blickte mich um nach dem unscheinbaren Garten mit den wild wuchernden Pappeln, wo mein Vater vor seinem Tod gern auf einer Bank gesessen und sich in der Sonne gewärmt hatte, mein Vater, der später mit erleuchtetem Gesicht im Sarg lag, befreit von der Bewusstlosigkeit:
"Ist es kalt dort?"
Ich trat unter den hohen Torbogen, lockerte die Schultern und fand mich auf der Twerskaja mit seltsam hin und her laufenden Menschen wieder. Am Eingang zur Metro befielen mich Zweifel. Ich hatte keine Lust, mich unter die Erde zu begeben. Aber die Sirenen hörten nicht auf, die Stadt mit trauriger Hysterie zu überziehen, und ich ergab mich dem Angstgefühl. Die Leute strömten in die Metro, aber es waren nicht mehr Leute als sonst zur Hauptverkehrszeit. Vielleicht gab es in der Umgebung noch andere, mir nicht bekannte Luftschutzräume.

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