Vorgeblättert

Leseprobe zu Vladimir Tasic: Abschiedsgeschenk. Teil 2

15.03.2007.
Ich weiß nicht, weshalb ich zu diesem Schluß kam, denn ich konnte ja nie beide Spieler zugleich sehen und so den Vergleich ziehen. Wäre ich aber dazu in der Lage gewesen, hätte ich sicherlich eingesehen, daß gerade die subtileren Unterschiede zwischen uns genügend groß waren, um zu einer der traurigsten Begegnungen in der Geschichte des Tischtennisvereins der Anton-Tschechow-Straße in Novi Sad zu führen. Ich verlor nämlich, an einem einzigen Tag, sechsundfünzig aufeinanderfolgende Sätze an meinen Bruder. Das Wort "vernichtend" erhielt damit eine ganz neue, qualitative Dimension, doch ich verdrängte dieses Detail geschickt, auch um mich selbst davon zu überzeugen, daß die Meditationen des großen Poe zumindest einen Funken praktischer Anwendbarkeit besäßen. Diese meine List, diese ingeniöse Anwendung des Literarischen aufs Wirkliche, förderte lediglich eine lange Reihe von Gemeinplätzen zutage. Bevor er sein Philosophiestudium aufgab, erklärte mir mein Bruder, daß diese Art von Räsonieren im Grunde der Resonanz eines leeren Fasses gleichkomme. Die Wahrheit, sagte er, entspringt nicht jedermanns Kopf wie Athene dem Haupte Zeus?. Später erfuhr ich, daß Descartes diese Weisheit in sein Haupt gepflanzt hatte, den er im Original gelesen haben mußte, denn der Satz findet sich nicht in den verstümmelten und verwässerten Übersetzungen; doch das hat keine weitere Bedeutung. Auf die natürlichste Weise eignete sich mein Bruder jeden Gedanken an, der ihm gefiel. Alles, was er sah oder las, wurde in einem dem Kreuzen und Veredeln junger Obstbäume nicht unähnlichen Prozeß Teil seiner (wie er sagte) "riesigen Wolke des Nichtwissens". Die Wahrheit, sagte er mir, wird weder erfunden noch entdeckt; sie offenbart sich, und das nur, wenn und wann es ihr gefällt. Ich glaube, er hatte recht. Nach ein oder zwei Minuten gab sogar Phoebe, die "gute alte Phoebe", das Schnuppern auf und verzog sich hinter den Ofen. Ich hob die Schachtel aus den Kartonfetzen auf dem Boden. Ich nahm sie in meine beiden Hände (ich hatte vor, sie in mein Arbeitszimmer zu überführen) und fühlte in diesem Augenblick, daß auf ihrer Unterseite ein Briefumschlag klebte. Ich stellte die Schachtel sofort wieder ab und öffnete den Umschlag - zerriß ihn, um genauer zu sein - und zog ein sorgsam gefaltetes Blatt daraus hervor. Darauf befand sich eine kurze und sprachunkundige Beileidserklärung. "Sehr geehrter Nächster Verwandter des Verstorbenen", Doppelpunkt, Absatz: "Wir bedauern sehr, Sie anbei davon in Kenntnis setzen zu müssen, daß ihr Nächster Verwandter (Vorname und Name) verblichen ist" an diesem und diesem Tag, an diesem und diesem Ort, Punkt. "Unser aufrichtigstes Beileid", Punkt. Absatz. "Sollten Sie etwaige Fragen haben" - etwaige Fragen -, "steht Ihnen unser kostenloser Kundendienst" - Kundendienst! - "24 /24 Stunden und 7/7 Tage zur Verfügung." Und so weiter, in scheußlichster Amtssprache, bis hin zur Unterschrift eines armen Irren. Ich knüllte das Papier zur Größe eines Schneeballs, stellte mir vor, dies sei jemandes Kopf, und kickte es in eine unbestimmte Richtung. Phoebe sprang auf und fing den Ball noch im Flug, als er von der Wand abprallte. Dann stolzierte sie im Parade schritt auf mich zu und legte ihn mir schwanz wedelnd vor die Füße. Ich warf den Papiertotenschädel noch ein paarmal, doch bald hatten wir beide genug von diesem Spiel. Ich glättete das Papier: Ich entfaltete es und legte es auf den Boden und fuhr mit dem Handrücken mehrmals über die rauhe Oberfläche. In der Ecke rechts oben befand sich das Wappen einer jener Organisationen, die sich selbst als wohltätig loben. Ich starrte einige Zeit auf das Blatt und faltete es dann zusammen, sorgfältig, zweimal, und steckte es in meine Hemdtasche. Ich weinte nicht. Das heißt, vielleicht doch, aber nur lautlos. Es gab jedenfalls kein lautes Wehklagen. Wenn seine weite slawische Seele, um dieses Pret-a-porter-Idiom zu benutzen, immer noch durch Raum und Zeit irrt, hätte es ihr bestimmt gefallen, daß man von ihr - oder ihm?, besitzen Seelen ein Geschlecht?, durfte Swedenborg tatsächlich den Engeln unter den Rock schauen? -, daß man von ihm oder von ihr, egal, mit Liebe und Heiterkeit spricht und nicht mit Verbitterung und Trauer. Glaube ich jetzt zumindest. Damals konnte ich das nur ahnen. So wie man ahnt, daß die Flecken auf einem Tischtuch nie nur die Spuren verschütteten Kaffees, sondern immer etwas mehr sind, das mikroskopische Detail einer wahrscheinlich heillosen Geschichte; daß die Schritte, die man nachts aus dem Nebenzimmer hört, nicht nur das unruhige Kreisen eines gefangenen Pumas sind, sondern immer etwas mehr. Ja. Mein Bruder war ein Puma. Das behauptete er, nachdem er einige Bücher über den Glauben der Indianer gelesen hatte. Ich erinnere mich nicht mehr genau, um welche Bücher und um welche Indianer es sich handelte, aber wenn diese Indianer und diese Bücher als Maßstab gelten, dann war er meiner Meinung nach ein Kojote, ein unverbesserlicher Trickser, viel eher als ein Puma. Er glich eher einem Kojoten, was ich ihm auch mehrmals sagte. Du bist, sagte ich ihm, ein Kojote. Und du, antwortete er mir einmal, was bist dann du? Sisyphus, sagte ich. Das meinst du wohl, sagte er, Sisyphus scaefferi, ja, ein Mistkäfer. Er war damals nicht älter als zwölf oder dreizehn - er war zwei Jahre jünger als ich -, aber er verstand sich bereits auf das Wesentliche. Als uns die Eltern eine Gitarre kauften, konnte er Desafinado spielen, noch bevor ich den Quintenzirkel beherrschte. Er gab sich nicht einmal Mühe, den Quintenzirkel zu beherrschen. Das interessierte ihn nicht.

Leseprobe Teil 3

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