Vorgeblättert

Leseprobe zu Vladimir Tasic: Abschiedsgeschenk. Teil 3

15.03.2007.
Er lernte zusammen mit mir, so nebenbei, genug Medizin, wirklich genug, glaube ich, um das Examen zu bestehen. Auch das interessierte ihn nicht. Ich er innere mich, wie er neben mir stand mit einer Kaffeetasse in der Hand und im Anatomielehrbuch blätterte. Später, als ich beim Auswendiglernen war - das tat ich damals laut -, fiel mir ein Detail nicht mehr ein. Ich griff nach dem Buch und hörte, wie er mir etwas aus dem Nebenzimmer zurief. (Wahrscheinlich aus dem Bett, während er zum wer weiß wievielten Male die Märchen der amerikanischen Neger las: Und Bruder Hase sagte zum Bruder Bär ?) Ich versuchte, ihn zu ignorieren; ich schlug das Buch auf; mir war klar, daß er mir gerade den Begriff zugerufen hatte, der mir nicht mehr eingefallen war. Er besaß die Gabe, sich alles Gesehene, Gehörte oder Gerochene unmittelbar ins Gedächtnis zu rufen. Das ist keine Hyperbel. Ich könnte ein ganzes Buch mit Beispielen füllen, glaube aber, ein einziges dürfte genügen. Auf einem Treffen einer Gruppe frischdiplomierter Mediziner in unserer Wohnung kam das Gespräch auf einen Chirurgen, der auf einem Kongreß in Japan verschollen war. Derartige Gruppenaktivitäten waren bei uns zu Hause eher die Ausnahme: Unser Vater und unsere Mutter hatten uns diskret zu verstehen gegeben, daß wir lieber anderswo feiern sollten, wenn wir überhaupt feiern mußten. Der Begriff "feiern" umfaßte mehr oder weniger alles außer der Verrichtung der dringlichsten physiologischen Bedürfnisse und dem Lesen. Unsere Eltern, im Unterschied zu denen der meisten unserer Bekannten, verreisten äußerst selten; und so gut wie nie länger als einen Tag. Meine Mutter sagte immer mal wieder, daß sie gerne einmal Paris oder Rom sehen würde - was damals noch ohne erniedrigende Visabettelei möglich war -, aber mein Vater nahm dann einfach einen Bleistift und führte auf dem Zeitungsrand eine brillante Rechnung aus, die die Undurchführbarkeit einer derartigen Reise zweifelsfrei bewies. Ein Kuraufenthalt, sagte er, sonst nichts. Meine Mut- ter entschied sich dann gewöhnlicherweise für das zweite. So kam es, daß sie in den fünf Jahren, die seit dem letzten Familienurlaub verfl ossen waren, das Ber muda dreick Novi Sad-Zrenjanin-Belgrad nicht verlassen hatten. Im Sommer 1988, als ich mein Examen ablegte, erschienen unsere verschollenen Reisenden ebenso unerklärlich auf dem Radar, wie sie davon verschwunden waren, und begaben sich für ganze zwei Wochen nach Kanjiza. Ihren plötzlichen Entschluß, sich den idealen Urlaub zu gönnen - ein Kuraufenthalt, sagte mein Vater, das ist der ideale Urlaub; von wegen Paris, Blödsinn! -, deuteten wir als Zeichen des Stolzes, daß wenigstens einer ihrer Söhne, wenn auch der weniger Hoffnungsvolle, ein Diplom erworben hatte und so in ihren Augen zumindest, und nicht ohne die dazugehörigen Versuchungen und Leiden, der Erleuchtung teilhaftig geworden war. Im Unterschied zu den Eltern verschmähte mein Bruder schon die bloße Idee eines Diploms. In seinem akademischen Samsara, in dieser donquichottesken Irrfahrt durch die Provinzen des Wissens, besuchte er die Mehrzahl der Belgrader und Novosader Universitäten ohne die geringste Absicht, auf einer von ihnen, wie das unsere Mutter so schön sagte, "sein Glück zu machen". Es gelang ihm, eine tatsächlich rekordverdächtige Zahl von Immatrikulationen zu sammeln, indem er gleichzeitig mindestens zwei oder drei dieser sogenannten höheren Bildungsanstalten besuchte. Er studierte Biologie, Englisch, Physik, Philologie, Philosophie, Französisch, Schauspielerei, Chemie, Geschichte, Italienisch, Literatur, Hortikultur, Mathematik, Landwirtschaft, angewandte und unangewandte Kunst, Psychologie, Russisch, Soziologie, Theologie und Forstwirtschaft. Und ich zähle nur jene Disziplinen auf, für die sich ein formal rechtsgültiger Beweis anführen ließe. Deutsch, beispielsweise, lernte er aus Pornofilmen. Er begann mit Ausdrücken wie Jetzt! Jetzt! und Ich bin geil! und ging dann ganz natürlich zu Schlegels Lucinde über. In etwas weniger als einem Jahr schrieb er eine nicht unbemerkt gebliebene Seminararbeit zum Thema der semantischen Unbestimmtheit des Wortes "bedingt" bei Marx. Als sein Professor bei uns anrief, um sich mit ihm über eine mögliche Publikation zu unterhalten, tat mein Bruder während des Telefongesprächs so, als sei er nicht er, sondern ich. Es dauerte auch nicht lange, und er legte auf und verkündete, daß er das Philosophiestudium an den Nagel hänge. Unser Vater, der sich nie bekreuzigte, bekreuzigte sich in diesem Augenblick. Vielleicht ist es deshalb verständlich, weshalb die Eltern um meinen "Erfolg" ein nicht immer angenehmes Spektakel veranstalteten. Mein Sohn ist Arzt, sagte mein Vater, wenn er den Gesprächspartner erledigen wollte. Das war sein ontologisches Argument, das unerbittliche q. e. d. des Mathelehrers vom Gymnasium. Als ich ihm sagte, daß mich die Medizin gar nicht interessiere und daß ich schon immer Uhrmacher werden wollte (das war erfunden), holte er eine seiner mysteriösen Weisheiten hervor. "Einmal Arzt", sagte er, "immer Arzt. Da kannst du sagen, was du willst." Er war äußerst stolz auf solche Perlen der Redekunst. Ich nahm sie ohne jegliche Diskussion hin, mein Bruder aber konnte ihn mit seinen Antworten aus der Fassung bringen. Genaugenommen brachte er ihn ständig aus der Fassung, so daß mein Vater beinahe ganz aufhörte, mit ihm zu sprechen. Schach war eine der seltenen Kommunikations formen, die ihnen noch geblieben waren. Spielten sie nicht gegeneinander, so stellten sie Partien vom "Jahrhundertmatch" zwischen Fischer und Spasski nach; und manchmal verfolgten sie neben dem Radioapparat, mit dem angestrengten Ausdruck derer, die gerade das Wort Gottes in Empfang nahmen, die ausführlichen Kommentare von Ananije Stojkovic. Meine Mutter, Lateinlehrerin, Anbeterin der Form, mochte es, mich ihren Bekannten als den "jungen Herrn Doktor" Soundso vorzustellen. Ich glaube nicht, daß es ihre Absicht war, diesen Worten einen satirischen Klang bei zu mischen, doch für meinen Bruder war das ein gefundenes Fressen. Eine Zeitlang wandte er sich nur noch in der dritten Person an mich. "Oh?" machte er, als er sah, daß ich Kanister mit Iriger Wein und größere Mengen Gebäck im Flur abstellte. "Der junge Herr Doktor Mistkäfer hat sich gnädigst anerboten, eine soiree für seine jungen Kollegen zu schmeißen." Soiree, sagte er. Das kann zynisch klingen, doch Zynismus war nicht sein Stil. Dafür spricht auch, daß er mir beim Verrücken der Möbel, bei der Beseitigung der Zeitungen und Zeitschriften (mein Vater verstreute sie überall im Haus, als wären es getragene Socken), bei der Verteilung der Gläser und der Körbchen mit dem Gebäck half und daß er die Gitarre ins Wohnzimmer brachte, unsere Gitarre, und sie mit dem Freizeichen der jugoslawischen Telekom als Referenz für die Note A stimmte. Ich glaube, man könnte sagen, das alles bereitete ihm einen Heidenspaß, wenn das auch bei ihm nichts heißen will; er freute sich über die seltsamsten Dinge, wieso also nicht über eine Party frischgebackener Mediziner. Es ist sicherlich nicht nötig zu betonen, daß solche Versammlungen nicht das Schlechteste sind. Mein Bruder setzte sich zu uns, obwohl während des ganzen Abends niemand außer mir das Wort an ihn richtete.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages SchirmerGraf
(copyright Verlag SchirmerGraf)


Informationen zum Buch und Autor hier