Vorgeblättert

Leseprobe zu Witold Gombrowicz: Berliner Notizen. Teil 1

16.09.2013.
Dienstag

Wir haben uns vom amerikanischen Kontinent getrennt. Der Transatlantikdampfer, auf hohem Ozean, kreuzt den Äquator und nimmt Europa aufs Korn.
     Neugier? Aufregung? Erwartung? Eben nicht. Die Freunde, die mich dort erwarteten und die ich nie im Leben gesehen hatte, Jelenśki, Giedroyć, Nadeau? Nein. Paris nach fünfunddreißig Jahren? Nein. Ich will nicht kennenlernen. Bin abgeschlossen und rekapituliert.
     Ich treibe mich rum … und alles, woran ich denke, ist im selben Augenblick schon ein wenig weiter. Mein Gedanke liegt hinter mir, nicht vor mir.
     Ein Telegramm von Kot Jeleński - dass sie mir zweihundert Dollar schicken werden. Bisher ist das Geld nicht da. Vielleicht in Las Palmas?
     Langeweile. Kein einziges interessantes Gesicht. Schach. Ich habe den Wettkampf gewonnen, eine Medaille erhalten und bin Schachmeister des Schiffs.
     Den Tod durch Rückwärtsbewegung erreichen? (Ich traue solchen "Gedanken" nicht.)


Mittwoch

Architektur.
     Eine Kathedrale, gebaut ohne Unterlass … Ich baue an diesem Gebäude und baue … und bekomme es nie richtig zu sehen. Bisweilen, in ganz besonderen Momenten … als könnte ich durch Nebel hindurch sekundenlang etwas ausmachen … die Verbindung der Gewölbe, der Bögen, eine gewisse Symmetrie …
     Nur Schein?
     Im Jahre 1931 … woher hätte ich damals wissen sollen, dass Argentinien mein Schicksal sein würde? Dieses Wort war nie vorauszuahnen.
     Und dennoch habe ich damals die Erzählung Die Begebenheiten auf der Brigg Banbury geschrieben. Ich fahre in dieser Erzählung nach Südamerika. Die Matrosen singen:
     Unter Argentiniens Himmelsblau
     lockt manches Mädchen, manche Frau …
     Seltsam, zufällig ist diese kleine Novelle gerade vor einigen Monaten ins Französische übersetzt worden und jetzt vielleicht schon in Paris in den Preuves erschienen. Dorthin fahre ich.
     Täuschung! Wahn! Illusorische Verbindungen! Keine Ordnung, keine Architektur, Finsternis in meinem Leben, in der kein einziges echtes Element von Gestalt auszumachen ist - und doch überfallen mich heute ganze Absätze dieser Erzählung, werden geboren in meiner Erinnerung, blass, verzweifelt, wie Gespenster. "Wie ein böser, von der Kette gelassener Hund bleckte die Phantasie ihre Zähne und knurrte dumpf, versteckt in den Winkeln." "Ich habe einen schwachen Geist. Ich habe einen schwachen Geist. Dadurch verschwimmt der Unterschied zwischen den Dingen …" "Das Deck stand völlig leer. Das Meer tobte ergreifend, die Brise blies mit doppelter Kraft, auf düsteren Wassern schimmerte wütend der Rumpf eines Wals, unermüdlich in seiner Bewegung ringsum."
     Ich möchte noch erwähnen, dass die "Begegnung" heute in aller Früh stattgefunden hat, nordöstlich der Kanarischen Inseln. "Begegnung" setze ich in Anführungszeichen, dieses Wort ist nicht vollgültig …
     Ich hatte in der Nacht nicht geschlafen, war, noch bevor der Tag sich ankündigte, aufs Deck gegangen und hatte durch die Dunkelheit lange auf etwas gestarrt, auf das man immer starren kann, das Wasser, ich hatte die Lichter einiger Schiffe gesehen, die den Ozean in Richtung Afrika durchpflügten … endlich, ich will nicht sagen, lichtete sich die Nacht, sie verkam vielmehr, fiel zusammen, verlor sich von selbst im Wasser, und dann tauchten hie und da weiße Verdichtungen auf, die wie Watte aus der immer teilnahmsloseren Strenge des ersten Morgengrauens hervorkrochen, so dass das Meer bald wimmelte von diesen weißen Eisbergen aus Nebel, zwischen denen ich sah, was man immer gern unverwandt betrachtet - das Wasser, weiß bekämmte Wogen. Da tauchte er auf aus weißen Hüllen und ebenso weiß, mit großem Schornstein, den ich sofort erkannte, in einer Entfernung von 3 - 4 Kilometern. Bald verschwand er in einer Nebelschwade, schob sich wieder heraus, ich sah zwar nicht hin, ich starrte eher aufs Wasser … wohl wissend, dass das nicht geschah, es das nicht gab, sah ich lieber nicht hin, aber mein Nichthinsehen bestärkte gleichsam seine Gegenwart. Interessant, dass Nichthinsehen eine Art Sehen sein kann. Ich wollte auch lieber nicht daran denken und es nicht fühlen, vergebens. Aber interessant, dass Nichtdenken und Nichtfühlen eine Art Fühlen und Denken sein können. Indessen schwamm die Erscheinung vorüber - schwamm nicht vorüber in einer Phantasmagorie wildzerfetzter Schwaden in schier opernhaftem Pathos, und etwas wie vertane Bruderschaft , wie ein getöteter Bruder, ein toter Bruder, ein stummer, ein für immer verlorener und erkalteter Bruder … etwas dieser Art zeigte sich und kam zur Macht in wilder und gänzlich wortloser Verzweiflung, inmitten weißer Schwaden.
     Endlich dachte ich an mich auf jenem Deck - und dass ich jenem Ich dort wahrscheinlich genauso gespenstisch vorkommen musste, wie es mir.
     Danach meinte ich mich zu erinnern, dass ich vor Jahren, als ich auf der "Chrobry" nach Argentinien fuhr, tatsächlich eines Nachts in der Nähe der Kanarischen Inseln nicht hatte schlafen können und im Morgengrauen auf Deck gegangen war, um aufs Meer zu schauen … und etwas gesucht hatte … Diese Erinnerung beschlagnahmte ich mir sofort, denn mir wurde klar, dass ich sie mir jetzt aus, wie wir sagten, architektonischen Erwägungen fabrizierte. Was für eine Manie: Du betrachtest eine Glaskugel, starrst in ein Glas Wasser, und sogar dort siehst du etwas aus dem Nichts sichtbar werden, Gestalt …


Freitag, den 20. April


Europa in Sicht! Paris!
     Am Vortag von Paris, da ich den Glanz, die Härte und Schärfe eines Rasiermessers besitzen sollte, bin ich verwaschen, zerstreut, zerfahren …
     In Paris war ich seit 1928 nicht mehr gewesen. Fünfunddreißig Jahre. Damals hatte ich mich als unbedeutender Student in Paris herumgetrieben. Heute kommt Witold Gombrowicz nach Paris, und das bedeutet: Empfänge, Interviews, Gespräche, Verhandlungen … und man muss sich schließlich Wirkung sichern, ich fahre als Eroberer nach Paris. Schon so mancher ist in diesen Kampf verstrickt, man verlangt Wirkung von mir. Und ich bin krank! Brennende Lippen, trüber Blick, Fieber …
     In solcher Abgespanntheit quält mich etwas, dessen Unausweichlichkeit mir klar ist - dass ich in Paris ein Feind von Paris werde sein müssen. Da hilft nichts! Wenn ich ihnen nicht im Halse steckenbleibe, werden sie mich zu leicht schlucken - ich komme zu keinem Dasein, wenn sie mich nicht als Feind empfinden. Nein, nur keine Skrupel, was die Redlichkeit einer solchen, kühl berechneten Einstellung ad hoc betrifft , Redlichkeit ist Quatsch, wie kann von Redlichkeit die Rede sein, wenn man so unwissend über sich ist, wenn man nichts im Gedächtnis behalten, keine Vergangenheit hat, wenn man nichts ist als unaufhörlich entfließende Gegenwart… Moralische Skrupel, in einem Nebel wie dem meinen?
     So eine Ironie des Schicksals aber auch: dass ich in meiner Verlorenheit, meinem Entfließen nun wieder gezwungen bin, mich selbst aus dem Nebel zu meißeln, der ich bin - und Nebel und Undurchsichtigkeit in mir zur Faust zu schmieden!


Sonntag, Barcelona

Ich habe heute, am 22., europäischen Boden betreten; mir ist seit langem klar, dass die zwei Zweien meine Zahl sind, auch argentinischen Boden habe ich erstmals am 22. (August) betreten. Sei gegrüßt, Magie! Analogie der Ziffern, beredte Daten … armer Kerl, vielleicht bekommst du dich damit zu fassen, wenn du schon nichts anderes weißt.
     Ich kam zu dem Platz, auf dem das Kolumbus-Denkmal steht und warf einen Blick auf die Stadt, in der ich mich nach Berlin vielleicht auf Dauer niederlassen werde (mich entsetzt jedes Wort dieses Satzes: "kam" und "zu" und "Platz" und so weiter).
     Es entsetzt mich unsagbar und erfüllt mich mit Verzweiflung, dass ich mich an diesen Orten herumtrage wie etwas, das mir noch unbekannter ist als alle unbekannten Orte. Kein Tier, kein Lurch, kein Krustentier, kein phantastisches Monstrum, keine Galaktik sind mir so unzugänglich und fremd wie ich selbst (banaler Gedanke?).
     Jahrelang mühst du dich, jemand zu sein - und was bist du geworden? Ein Fluss von Ereignissen in der Gegenwart, ein stürmischer Strom von Tatsachen, die heute geschehen, dieser kalte Augenblick, den du erlebst und der an nichts anzuknüpfen vermag. Abgrund und Chaos - nur das ist dein. Nicht einmal Abschied nehmen kannst du.
     Zweihundert Dollar. Weder in Las Palmas noch in Barcelona sind sie aufgetaucht … Also? Wie soll ich die Trinkgelder und Rechnungen bezahlen? Die Millionärin!


Montag

Cannes, in der Nacht, Festbeleuchtung, märchenhaft . Kaum war ich mit den Koffern an Land, lief ein Fräulein von der Agentur auf mich zu und händigte mir zweihundert Dollar aus (zum Glück hatte mir die Millionärin auf dem Schiff etwas Geld geliehen).
     Die Nacht im Hotel. Anderntags (Regen) jage ich mit dem "Mistral" nach Paris, Berge, Meer, Seen, das Rhonetal, der Zug dröhnt und rast, Speisewagen.
     Paris um ein Uhr nachts, die Hotels überfüllt, endlich bringt mich der Taxifahrer in einem kleinen Hotel in der Nähe der Oper unter, im Hôtel de l'Opéra.
     Ich öffne das Fenster. Schaue mit idiotischem Blick vom vierten Stock in die kleine Straße hinunter, rue du Helder, atme tief die Luft ein, die ich vor fünfunddreißig Jahren geatmet habe, öffne den Koffer, nehme etwas aus dem Koffer, beginne mich auszuziehen. Die Situation ist absolut seelenlos, völlig keimfrei, total still, sie ist "-los" in jeder Hinsicht. Ich lege mich hin und lösche das Licht.

zu Teil 2