Vorgeblättert

Leseprobe zu Zsófia Bán: Als nur die Tiere lebten. Teil 3

10.03.2014.
Imaginäres Eden


Sie hatte eine schlechte Nacht gehabt. Schon wieder hatte sie vergessen, vor dem Einschlafen die Verdunkelungsvorhänge zuzuziehen. Wie ein Skalpell schnitt das frühmorgendliche Licht ihre Pupillen auf.
     Gibt es ein Wort für einen Traum, der kein Traum ist?
     Bei den Eskimos der Schnee, bei den Engländern die Schiffe, die Wellen. Die bunte, aber akkurat kartographierbare Mannigfaltigkeit der Welt. Gut, wenn uns ein Begriff zur Verfügung steht, der genau ist, sich schön einfügt ins System und die Unterschiede markiert zu allen anderen ähnlichen Ereignissen. Vorwärts, auf den Spuren Linnés und Mendelejews. Damit wir uns verstehen. Damit wir die Worte, die Bilder des anderen verstehen. Cogito, Kulakenliste, Mangelwirtschaft, Lebensraum, Ethik, Pionierversammlung. Der bestirnte Himmel über mir, Mann auf dem Mond, die Rosenbergs im elektrischen Stuhl, Lenin, wie er in der Schweiz Schach spielt.
     Ihre linke Brust schmerzt. Wer weiß, was für eine Wucherung losgegangen ist im einst so verlässlichen Paar? Wer weiß, ob nicht ein Urwald, ein undurchdringbarer Dschungel in uns wohnt? Wer weiß, ob, wenn sie sich untersuchen ließe, nicht Tiger, Puma und Riesenschlangen auf dem Monitor auftauchen würden, ob man nicht meinen würde, eine Sendung aus Welt der Tiere zu sehen. Außen Dschungel, innen Dschungel. Nein, sie lässt sich nicht untersuchen.
     In Teresópolis, in den Bergen, unweit der Pension, in der sie immer ihren Urlaub verbringen, wohnt ein hagerer alter Mann mit silbernem Haar, man könnte ihn für einen Apotheker halten. Vergebens nennt man ihn Senhor Wolfgang. Eventuell Doutor Wolfgang. Seine joviale, mollige Frau nennt ihn nur Wolferl. Mozart soll von seiner Familie auch Wolferl genannt worden sein. Man kann sich in den kühlen Bergen nicht abkühlen. Sie hatte ihrer kleinen Familie schon letztes Jahr gesagt, dass sie da nicht mehr hinwolle, aber sie verriet nicht, warum, und sie sagte auch, sie sollten lieber nach Petrópolis, das ist viel angesagter. Aber sie sind nicht bereit, so weit zu fahren. Sie behaupten, in ihrer Pension sei der Chefkoch besser und auch die Luft. Und sie braucht nur einen Atemzug davon zu nehmen, und schon spürt sie den Gestank der Fäulnis. Den Aasgeruch. Ihr Geruchssinn war immer schon hervorragend gewesen. Der gnädigen Frau Oberwinzer, der Kißdihand hatte Herr Wintsch den Hof gemacht, bei dem sie vor dem Krieg in Pest gearbeitet hatte. Herr Wintsch war ein verwitweter Weinhändler, einsam und sanft. Wie sagt man noch mal auf Portugiesisch gnädige Frau? Oder Turul-Vogel? Dieses Portugiesische ist eine seltsame Sprache. Er stellte die Weinlieferungen für Generäle, Grafen, auf weißen Pferden prangende Admirale, Industriemagnaten, gefeierte Künstler und Künstlerinnen und für die besten Restaurants zusammen. Müllers Lieblingswein war der Rheinische Riesling, obwohl, als Wintsch ihn darauf aufmerksam machte, dass er ihm noch etwas viel Aufregenderes empfehlen könnte, sagte er mit Pokerface nur so viel, dass er offen für jeden Vorschlag sei.
     Als man fragte, wer was könne, hätte sie Nähen sagen können, wie die anderen Frauen. Aber es gab ohnehin schon zu viele Frauen, die nähen konnten. So viele brauchte man nicht. Aber von Wein verstand keiner was. Almira singt schon wieder zu laut in der Küche und das am frühen Morgen. Sie bekommt Kopfschmerzen davon.
     Du lieber Himmel, fünf Uhr?! Dabei hatte sie sich nach dem Mittagessen nur ein bisschen hingelegt. Am Abend gibt es einen Empfang in der polnischen Botschaft, und sie hat einen Auftritt. Sie hat ganz passabel Polnisch gelernt. Anno dazumal, würde Paps sagen (anno dazumal: der Meister). Paps von seiner Seite war dort kein Wort bereit zu sagen, so hatte er es entschieden. Weder in der einen noch in der anderen Sprache, in gar keiner. Paps schwieg und sie schnatterte, wenn sie konnte. Heutzutage dolmetscht sie. Das ist gut so. Cortés und Montezuma haben ein Rendezvous, und sie streichelt ihnen über die Bumsköpfe und verschiebt das Gesagte mal in die eine, mal in die andere Richtung. Nebbich, würde Paps sagen. Vorteile, Nachteile, Strategien. An dem einen kannst du sterben, von dem anderen schmerzt ständig der Kopf. Und das niemals enden wollende Lärmen der Zikaden. Um Gottes willen, Almira, warum bringen Sie nicht längst ein Aspirin? Warum muss man um alles betteln?
     Sie hat eine schlechte Nacht gehabt. Und voilà, jetzt ist der Tag da. Es gibt keine gute Tageszeit mehr. Sie schließt die Augen, Schneehaufen, so weit das Auge reicht. Hie und da ragt eine Hand aus ihnen hervor, ein Fuß. Wenn Sie vielleicht einen Wein empfehlen könnten, Fräulein, der die bisherigen übertrifft…Kanada, Barrique, Reduktionswein, Duschkopf, Pfingstrose. In ihrem Kopf ein Gedränge aus Jahrgängen, Weingegenden und Rebsorten, wie auf einem überfüllten Abfahrtsgleis, aber wenn sie die Augen schließt: Stille und Schneehaufen. Sollte sie es mit einem Roten oder einem Weißen versuchen? Einem Franzosen, einem Deutschen oder eventuell mit einem Ungarn? Was würde er zu einemunerwarteten Portugiesen sagen? Almira, Liebste, seien Sie so gut und legen mein Kleid aufs Bett und lassen Sie mir Badewasser ein. Wie könnte sie im Cocktailkleid gehen? Es wird eine richtige Abendgesellschaft, wie es sich ziemt. Der Genosse Botschafter zählt auf ihre Dienste. Sie wird das ärmellose schwarze Abendkleid anziehen, mit den dreiviertellangen schwarzen Handschuhen. So ein kluges Kleidungsstück braucht man wie ein Kompliment: Es verdeckt die Runzeln der Hand, die Leberflecken, den Abdruck der Zeit. Ein wahrer Hauptgewinn. Auf diese Weise kann sie manchmal sogar ärmellos gehen; in Tropennächten ein wahrer Segen. Als der vom Meer her plötzlich aufsteigende lauwarme Wind über ihre Schulter streift, stellt sie sich für einen Moment vor, dass es nichts anderes gibt, nur diesen samtigen Wind, das leise Raunen des Meers und den alles bedeckenden, weichen Sand.
     An jenem Tag sagte eine Polin in der Küche an, wer diesmal dran sein würde. Und ihr fiel keine einzige brauchbare Weinsorte ein. Etiketten, Flaschenformen, die verschiedensten Schattierungen von Rot und Weiß, Namen, Jahreszahlen und Fasssorten liefen vor ihrem geistigen Auge vorbei, in ihren Erinnerungen wogte ein unendlicher Katalog von Düften - aber nichts, keiner war zu gebrauchen. Keinen empfand sie als zum Anlass passend. Almira, seien Sie so gut und sagen Sie meinem Mann Bescheid, dass wir um spätestens halb sieben aufbrechen müssen.
     Wenn sie die Augen schloss, Schneehaufen.
     Zu Hause stellen sie sich natürlich vor, dass das hier der Garten Eden ist. Der Garten Eden aber, dachte sie, wäre der Ort, wo sich endlich einer finden würde, der diese Schneehaufen wegräumt. Man hat immer Ärger mit dem Personal, sagte Mamachen, immer Ärger. Je mehr man sie hegt und pflegt, umso mehr lassen sie alles schleifen.
     Wenn der Wein heute nicht geht, wäre ich ausnahmsweise auch für andere Angebote offen, flüsterte der Mann, sie diskret beiseite nehmend. Andere Angebote, andere Angebote, knatterte es in ihrem Kopf, aber so, wie ihr der Name des Weins nicht auf die Zunge kam, fiel ihr auch kein anderes Angebot ein. Und dann fiel es ihr doch ein. Das Badewasser ist kalt geworden, man müsste hinaus. Jeder irrt sich manchmal. In der Weinbranche hatte sie tiefgehende Erfahrungen, auf anderen Gebieten nicht. Schließlich warfen sie sie nackt hinaus in den Schnee, zwischen die Schneehaufen. Sie hatte sich zweifellos als für die Aufgabe ungeeignet erwiesen. Sie hätte nicht so schlimm versagt, wäre es um das Identifizieren von Düften gegangen. Angenehme, zurückhaltende Zitrusnote, After Shave, Virginia Tabak, lauwarmer Speichel, eiternde offene Wunden und Abszesse, Urin und Fäkalien, im Frühling, abhängig von der Windrichtung, Kamille (Matricaria chamomilla), Wegmalve (Malva neglecta), Blutwurz (Potentilla erecta), das Karottenlüftchen, das aus den Suppenkesseln aufstieg und die Nase nur für einen Augenblick streifte, der frische Fichtengeruch der Bretter in den neu errichteten Baracken, die überwältigend bunten Geruchsmuster der Welt.
     Und dann, im Schnee liegend, fiel ihr eine von jedem Standpunkt aus hervorragende Selektion ein. Ein tiefroter, eleganter, nicht ostensiv würziger 1929er Romanée-Conti La Tâche. Den hätte sie empfohlen. Eventuell einen 1926er Châteaus Margaux. Oder vielleicht kühn einen Sekt, sagen wir, einen 1911er Perrier-Jouet, der hätte auch gepasst. Wie sagt man auf Polnisch Brustwarze? Sie wurden hart gefroren in der Kälte.
     Die Zeit ist vorangeschritten, besser, man beeilt sich. Der Genosse Botschafter mag keine Verspätungen. Der Genosse Botschafter hat immer viel zu sagen. Doch ohne sie kommt er nicht weit, ohne sie ist der Genosse Botschafter ein einarmiger Riese. Almira, meine Liebe, sagen Sie dem Kind, dass wir spät nach Hause kommen, es soll anständig zu Abend essen und sich hinlegen, es soll nicht warten, bis wir gekommen sind. Dziękuję bardzo, proszę bardzo. Jede Sprache ein neuer Mensch, sagte Mamachen immer. Almira, wo zum Teufel steckt sie? Jemand müsste den Reißverschluss hochziehen. Und bitte sagen Sie Antonio, er soll den Wagen vorfahren.
     Der Name des Wagens: Chevrolet Impala. 1964er Jahrgang,
cremefarben. Dziękuję bardzo, proszę bardzo. Obrigada. Danke.

                                                        *

Auszug mit freundlicher Genehmigung von Suhrkamp
(Copyright Suhrkamp Verlag)

Informationen zum Buch und zur Autorin hier