Vorgeblättert

Leseprobe zu ZZ Packer: Kaffee trinken anderswo. Teil 1

28.09.2009.
(S. 88 - 103)

Die Ameise des Ichs


"Aufstiegschancen", sagt mein Vater, nachdem ich ihn gegen Kaution aus dem Gefängnis geholt habe. Er hämmert Worte in das Armaturenbrett, als versuchte er, sie in meinen Dickschädel hineinzubekommen. "Wenn du Aufstiegschancen haben willst, musst du dein Geld investieren." Es ist Oktober 1995, und wir kurven im Auto meiner Mutter durch Louisville, Kentucky. Keine Ahnung, warum er hierher gekommen ist, sechzig Kilometer südlich von dort, wo er wohnt, aber ich stell keine Fragen, die mit Sicherheit zu viele Antworten haben. Ich versuche lediglich, meinen Vater, Ray Bivens jr., über den Fluss nach Indiana und zu sich nach Hause zu schaffen.
     Sobald wir auf dem Watterson Expressway sind, sieht es so aus, als würden wir gleich gegen den Horizont knallen. Der Sonnenuntergang hat die Bäuche der Wolken in Brand gesteckt, die verspiegelten Fenster der Gebäude im Zentrum verzerren die feuerfarbene Stadt zu einem Spiegelkabinett. Ich sehe schon jetzt, dass es einer dieser Tage wird, an denen der Sonnenuntergang sämtliche Register zieht, ihm dabei aber schnell die Luft ausgeht.
     Mein Vater ist gerade - mal wieder - wegen Trunkenheit am Steuer drangekriegt worden, was ihn aber nicht daran gehindert hat, die Autoschlüssel zu verlangen. Als ich sie nicht rausgerückt habe, hat er geseufzt und den Kopf geschüttelt, als ob ich ihm tagaus, tagein Schlüssel vorenthalten würde. "Komm schon, Spurge", hat er gesagt. "Die Schweine gucken doch gar nicht."
     Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der Bullen noch immer "Schweine" nennt - ein Überbleibsel aus seinen Black-Panther-Tagen, wie er die Zeit nennt, als "die Brüder" sich ihre Afrofrisuren mit in schwarzen Fäusten auslaufenden langen Haarnadeln harkten und diese dann wie Speere in dem Gewölle stecken ließen. Als - wie er es darstellt - er und Huey P. Newton sich in Kellern trafen, Lederjacken trugen und den Quarkärschen Saures gaben.
     Nachdem er sich als mein Investmentberater betätigt hat, betrachtet er die Welt außerhalb des Honda mit etwas zu viel Begeisterung. Ich fahre die Umgehungsstraße entlang, vorbei an der Rückseite von Kettenrestaurants und Einkaufszentren, an Büroparks und dem mickrigen Zoo von Louisville.
     "Das ist deine Zukunft", sagt er und kommt allmählich von seiner miesen Stimmung runter, "solide Investitionen."
     "Vielleicht solltest du die Schweine bitten, deine Kaution wieder rauszurücken", sage ich. "Wir könnten ja die investieren."
     Er geht darauf nicht ein; mittlerweile ist er zu sehr damit beschäftigt, das neue Auto meiner Mom zu untersuchen. Ray Bivens jr. besitzt kein Auto. Den Wagen, an dessen Steuer er gerade betrunken erwischt worden war, hatte er sich, wie er mir erzählte, von einem Freund geliehen.
     Jetzt zieht er den Zigarettenanzünder aus seinem runden Häuschen und betrachtet die kalte Glühspirale, als ob er in die Zukunft starren würde. Er schiebt den Anzünder in den Schacht zurück, als hätte er mit dem Gedanken gespielt, ihn einzustecken, sich dann aber dagegen entschieden. Er trommelt ein paar Synkopen auf dem Armaturenbrett, beginnt dann, gelangweilt seinen Sitz einzustellen, als wäre er in der Concorde. Er will irgendetwas über den Wagen sagen, fragen, wie viel er gekostet hat und wie zum Teufel Mama ihn sich leisten konnte, tut?s aber nicht. Stattdessen sagt er aus heiterem Himmel, mit beinahe unschuldiger Stimme: "Ist das meine alte Anzugjacke? Ich hing richtig an dem Ding."
     "Das ist nicht deine. Mama hat sie mir gekauft. Ich brauchte einen Blazer für die Debatten." Die Worte kommen frostig heraus, aber ich füge ihnen nichts hinzu, was sie aufwärmen könnte. Und ich komme mir irgendwie kindisch vor, meine Mutter zu erwähnen, so als würde sie neben mir sitzen, am Saum meiner Jacke zupfen und mir die Ärmel glattstreichen. Ich verschaffe mir ein besseres Gefühl, indem ich mir ins Gedächtnis rufe, dass, als ich die Kaution bezahlen wollte, die Frau hinter dem kugelsicheren Glas gefragt hat, ob ich ein Reporter sei.
     "Du kriegst durch die Debatten doch ständig Geld, wir könnten es investieren."
Wenn die Leute vom Investieren reden, meinen sie meistens Aktien oder Pfandbriefe, oder Investmentfonds. Mein Vater meint die Hahnenkampfarena seines Freundes Splo oder irgendeinen Typ, der von Tür zu Tür geht und Fitnessgeräte verkauft, bei denen man selbst nichts zu tun braucht. Er hat auch mal in eine Frau investiert, die versuchte, afrikanische Cichliden an Zoohandlungen zu verkaufen, während es tatsächlich hundsgewöhnliche Goldfische waren, die sie so eingefärbt hatte, dass sie exotisch aussahen. "Hast du nicht gerade erst was gewonnen?", fragt er. "Bei einer Debatte?"
     "Kaution", sage ich. "Damit hab ich deine Kaution bezahlt."
     Er hält eine Zeit lang den Mund. Ich warte darauf, dass er sich ein stockendes Danke abringt. Ich warte darauf, dass er verspricht, mir das mit Geld zurückzuzahlen, das er, wie er genau weiß, nie haben wird. Schließlich seufzt er und sagt: "Die meisten Investoren kaufen niedrig und verkaufen hoch. Weißt du, warum sie das tun?" Bei meinem Vater gibt es nicht nur Fangfragen, sondern auch Fangantworten. Bevor ich antworten kann, höre ich seine Stimme, laut und nackt. "Ich hab dich gefragt: Weißt du, warum sie das tun?" Er schüttelt mich am Arm, als versuchte er, mich zu wecken. "Du gibst mir eine Antwort, wenn ich dich was frage!"
     Ich zerre meinen Arm los, um ihm zu zeigen, dass ich keine Angst habe. Wir machen dabei einen Schlenker, geraten halb auf die Nebenspur. Die Autos hinter uns machen ebenfalls einen Schlenker, dann sausen sie an uns vorbei und fahren wieder geradeaus weiter, als wären wir ein Fels in der Strömung.
     "Weißt du, wer neben dir sitzt?", sagt er. "Weißt du, mit wem du redest?"
     Geredet habe ich mit niemandem, aber das behalte ich für mich.
     "Ich werd dir sagen, mit wem du redest: mit Ray Bivens junior!"
     So war er auch mit Mama - hat sie zwar nie geschlagen, aber ständig gepackt, angegrapscht, ihr ständig seinen Mundgeruch ins Gesicht geblasen. Nach der Scheidung bestand er auf geteiltem Sorgerecht. Anfangs musste ich nur mit dem Bus ans andere Ende der Stadt fahren. Dann, als er sich keine Wohnung in der Stadt mehr leisten konnte, musste ich mit dem Greyhound rauf nach Indiana, in die hinterste Pampa. Ich langweilte mich an diesen Wochenenden so sehr, dass ich für die Schule vorarbeitete, mir selbst Hausaufgaben aufgab, alles tat, was ich konnte, während ich darauf wartete, dass Ray Bivens jr. sich wach furzte und mich wieder zur Bushaltestelle brachte.
     So fing das mit den Debatten an. Jedes Jahr wurde ein anderes Thema vorgegeben, und bei der Ankündigung letztes Jahr machten die ein Tamtam darum, als handelte es sich um eine Rekrutierungskampagne der Army, und sie warnten die Schüler, dass sie sogar ihre Wochenenden in die Vorbereitung würden investieren müssen. Ich frohlockte innerlich bei dem Gedanken, dass sich damit die Besuche bei Ray Bivens jr. erledigt hatten. Und ich war gut im Debattieren. Meinem Gehirn graust es von Natur aus vor jeglicher Unlogik. Aber ich glaube keinen Augenblick, dass meine Lehrer mich wegen meines logischen Verstands mochten; sie mochten mich, weil ich ruhig und klein war, kein Rüpel, wie sie das von Schwarzen erwarteten. Manchmal unterliefen den Lehrkräften allerdings Patzer. Einmal sagte meine Geschichtslehrerin, Mrs. Ampersand: "Lass die Finger von den Drogen, Spurgeon, und du wirst weit kommen." Das war eines der Dinge, die mir tage-, ja wochenlang auf dem Magen liegen konnten. Zu einem Debattierthema wie den US-amerikanisch-chinesischen diplomatischen Beziehungen oder den unzumutbaren Zuständen in unseren überbelegten Vollzugsanstalten fiel mir immer etwas ein, aber bei jemandem wie Mrs. Ampersand war es etwas anderes - da kam mir jegliche Logik abhanden, und ich nannte sie im Kopf ein Miststück und erklärte ihr, dass die stärkste Droge, die sich im Haus meiner Mutter fand, ein Gläschen Wick Vaporub war.

Teil 2